20 Jahre frühe MINT-Bildung - Ein kritischer Blick aus elementarpädagogischer Sicht
Inhalt- Rückschau: Zwanzig Jahre elementares Forschen und Tüfteln (zum Bild vom Kind als Forscher und Tüftler)
- Elementarpädagogik: Gedanken vorneweg
- Die Umsetzung dieses Bildungsbereichs/Leitbilds in die Praxis: Zwei Ansätze
- Erfahrungen mit dem elementarpädagogischen Ansatz
- Fazit: Ein Statement
- Literatur
Rückschau: Zwanzig Jahre elementares Forschen und Tüfteln (zum Bild vom Kind als Forscher und Tüftler)
Seit gut 20 Jahren erhält frühe MINT-Bildung besondere Aufmerksamkeit.
Dabei orientiert sich die elementarpädagogische Fachszene am Bild vom Kind als „Forscher und Tüftler“ (Stichwort: Lern- und Säuglingsforschung).
Ich verfolge diese Diskussion seit Beginn mit großem Interesse, als Mitgestalterin und Suchende.
Ich stellte mir immer wieder die Fragen:
- Was ist mit diesem Bild vom Kind gemeint?
- Wie kann dieses Bild vom Kind tagtäglich in der Praxis vor Ort umgesetzt werden?
- Und was hat es mit diesem „neuen“ Bildungsbereich eigentlich auf sich?
- (Entdeckten und erforschten junge Kinder nicht immer schon aktiv ihr belebtes und unbelebtes Umfeld?)
In den vergangenen gut 20 Jahren spürte ich ein zunehmendes Unbehagen gegenüber einer bestimmten Herangehensweise an frühe MINT-Bildung, auf die sich die „Mainstream“ -frühpädagogische Fachszene eingeschworen zu haben schien.
Diesem Unbehagen ging ich unlängst intensiv nach: Ich glich meine Erfahrungen mit forschenden und tüftelnden jungen Kindern ab mit einschlägiger Fachliteratur. Anlass war ein Gastvortrag vor KindheitspädagogInnen zum Thema „20 Jahre frühe MINT-Bildung“.
Elementarpädagogik: Gedanken vorneweg
Die Elementarpädagogik scheint besonders prädestiniert dafür zu sein, instrumentalisiert zu werden. Wie oft schon lenkten uns „pädagogische Modeströmungen“ davon ab, junge Kinder ernsthaft in ihrer Entwicklung zu begleiten!
Eines ist klar: Theorien und Konzepte beeinflussen das pädagogische Alltagshandeln. Für die Arbeit mit jungen Kindern wenig taugliche Konzepte wurden und werden der Praxis oft übergestülpt.
Wechselnde „Förderprogramme“ und Handreichungen hielten und halten Einzug in die Kindergärten. Sie verschwinden oft nach kurzer Zeit wieder und hinterlassen im Nachhinein ein Kopf-schütteln über so viel Aufregung.
Solide, kritisch reflektierte und aktuelle, einschlägige Erkenntnisse integrierende Elementarpädagogik muss sich allem Anschein nach immer wieder bewusst Gehör verschaffen. Tut sie aber selten. Dieser Artikel will das ändern und plädiert für eine niveauvolle, fachliche Diskussion aller Beteiligter.
Am Beispiel frühe MINT-Bildung lässt sich noch ein bekannter Reflex ausmachen: International vergleichende Schulstudien (Stichwort: PISA im Jahr 2000) bescheinigen deutschen Schülern einen mittelmäßigen Leistungsstand, besonders auch in den MINT-Fächern. Sofort wird die bildungspolitische Forderung laut, doch früher mit diesem Schulstoff zu beginnen, am besten schon in den Kindergärten. Denn es herrscht die Ansicht: je früher, desto besser.
Und die Elementarpädagogik wehrt sich nicht!
Die Umsetzung dieses Bildungsbereichs/Leitbilds in die Praxis: Zwei Ansätze
Seit Anfang der 2000er Jahren wird also im deutschsprachigen Raum naturwissenschaftliche Frühbildung aus unterschiedlichen Gründen vehement eingefordert. Eine fundierte elementarpädagogische Auseinandersetzung mit diesen neuen Anforderungen an das Praxisfeld spielte bisher eine untergeordnete Rolle. Stattdessen bestimmten von Beginn an FachdidaktikerInnen und MINT-ExpertInnen an Universitäten die konzeptionelle Ausrichtung dieses neuen Bildungsbereichs. Ihnen fehlte jedoch - nach meiner Vorstellung von Sachkompetenz für frühkindliche Bildungsqualität - die elementarpädagogische Fachlichkeit (damit meine ich handfeste Erfahrungen im Praxisfeld mit daraus resultierendem vielschichtigen Berufswissen. Denn nur vor diesem Hintergrund, so meine feste Überzeugung, kann sich eine Elementarpädagogik entwickeln, die Kinder in ihrem alltäglichen Erleben professionell begleitet).
Elementarpädagogische Herangehensweisen, die frühe Bildung nachhaltig unterstützen, grenzen sich aus guten Gründen von späteren Methoden der Wissensvermittlung ab.
Sie beachten u. a. Bindung, den sozialen Kontext und sperren sich auch nicht gegen „Ganzheitlichkeit“.
Ich arbeite im Folgenden zwei Herangehensweisen an naturwissenschaftliche Frühbildung heraus. Dafür wähle ich die Begriffe „kindgerechte Fachdidaktik“ und „elementarpädagogischer Ansatz“. In der Praxis beobachte ich viele Mischformen.
Es lohnt sich, diese beiden Zugänge bewusst zu reflektieren und sie mit fundierten Argumenten gegeneinander abzugrenzen.
Markante Unterschiede dieser beiden Ansätze betreffen
- das Bild vom Kind
- das Verständnis von elementarer Naturwissenschaft
- Vorstellungen von Professionalisierung der ElementarpädagogInnen und
- die Art und Weise wie junge Kinder lernen.
Diese vier Unterschiede beeinflussen und verstärken sich jeweils gegenseitig.
Zur „kindgerechten Fachdidaktik“
Diese Herangehensweise ist geprägt und beeinflusst vom naturwissenschaftlichen Unterricht und einer zu bewältigenden Stofffülle in einem von High-Tech dominierten Zeitalter. In der Schule werden ja von Fachkommissionen definierte Inhalte, in einem bestimmten Zeitraum, in vorstrukturierten Schritten und in, je nach Jahrgangsstufe festgelegtem, Leistungsniveau gelernt, abgefragt und geprüft. Die Naturwissenschaft ist in einzelne Fachdisziplinen aufgefächert.
Im Vorschulbereich sollen Kinder nun schon an diese schwierige Naturwissenschaft „herangeführt“ werden. Weil Naturwissenschaft für die Zukunft der Kinder (und der Gesellschaft) ja so wichtig sein wird und weil Kinder eh so neugierig sind, muss früh genug und ohne Scheu damit begonnen werden, heißt es. Und weiter: Zu viele SchülerInnen entwickeln später eine Abneigung gegenüber naturwissenschaftlichen Fächern. Dem muss von Anfang an etwas die Kinder Begeisterndes entgegengesetzt werden.
Diese Annäherung an die komplizierte Naturwissenschaft, so die weit verbreitete Meinung, gelinge am besten anhand vorstrukturierter Experimente und attraktiver, effektvoller Angebote, damit nichts schief geht.
Die, aus diesen Überlegungen abgeleiteten, „kindgerechten“ Experimente müssen auf jeden Fall immer funktionieren und vor allem auch unterhaltsam sein. Kinder verlieren sonst den Spaß am Forschen. Sie sollen nicht enttäuscht werden, wenn etwas nicht so klappt, wie vorgesehen, heißt es.
Kennzeichnend für diese Herangehensweise ist das bekannte Experiment mit Backpulver und Essig, in dem ein Vulkanausbruch simuliert wird. Die Kinder sind begeistert. Aber mit einem realen Vulkanausbruch und einer ernsthaften naturwissenschaftlichen Frühbildung hat das Experiment wenig zu tun.
Selbsternannte Experten für frühe MINT-Bildung, weit ab von der täglichen Praxis, empfehlen, was für junge Kinder vor Ort in den Kindergärten wichtige und wissenswerte Inhalte sind und wie vorgegangen werden soll. Fertig ausgearbeitete Experimentieranleitungen, die nun schon seit Jahren mit einem Klick im Internet abrufbar sind, werden dann in der Praxis eins zu eins umgesetzt. Mit Hilfe solcher Anleitungen würden ElementarpädagogInnen auch unterstützt, ihrem Bildungsauftrag nachzukommen, heißt es. Denn die Fachkräfte in den Kindertagesstätten, hauptsächlich Frauen, können mit der schwierigen Naturwissenschaft auch nicht viel anfangen, so die Meinung.
In der Praxis beobachtete ich, dass in wöchentlichen Forscherstunden jeweils ein von ErzieherInnen vorbereitetes Experiment Kindern präsentiert wird. Kinder dürfen staunen, oft auch ihre Ideen dazu äußern und manchmal selbst das Experiment ausprobieren. Den Rest der Woche sind Kinder, nach diesem Ansatz zu folgern, dann keine Forscher mehr.
In Fortbildungen wünschten sich Erzieherinnen von mir eindrucksvolle Experimente, die sie gleich am nächsten Tag den Kindern zeigen können. Diese Vorstellung, frühe naturwissenschaftliche Bildung sei eine Unterhaltungsshow fürs Kinderpublikum, hat sich wohl gründlich in der Praxis festgesetzt.
In der Fachliteratur, aber auch in öffentlichen Medien, tauchten in der Folge nun plötzlich Fotos auf von experimentierenden, jungen Kindern, ausgerüstet mit großen Taucherbrillen und weißen, viel zu langen Hemden. Kinder als kleine putzige Chemielaboranten mit gefaktem Forscheroutfit.
Hier wird das Bild vom Kind als Forscher und Tüftler instrumentalisiert, karikiert und verkommt zum Werbespot anscheinend innovativer Praxis.
Lange habe ich mich gewundert, wie eine solche abstruse Herangehensweise an frühe MINT-Bildung überhaupt Einzug in Kindergärten halten kann und sogar von offiziellen Stellen (oder vielleicht gerade von offiziellen Stellen und Stiftungen, die das „aktuelle Thema“ schnell und medienwirksam abgehakt wissen wollen?) auch noch gefördert wird!
Nach meinem Verständnis ist diese Vorgehensweise wenig geeignet, solides naturwissenschaftliches „Vorwissen“, forschende Haltung und elementare Verstehensprozesse grundzulegen.
Der elementarpädagogische Ansatz
Dem oben beschriebenen Konzept stelle ich den elementarpädagogischen Ansatz gegenüber. Er orientiert sich am speziellen Lerncharakter von Kleinkindern und an ihrer großen Motivation und Freude, tagtäglich, im Hier und Jetzt, als aktiv Lernende in das spannende Welt-Geschehen um sie herum einzutauchen.
Am besten gelingt dies in freier Natur und anregendem Umfeld, das sie gemeinsam mit anderen Kindern auf ihre Art und Weise erkunden und erleben. Hier erfahren Kinder eine ursprüngliche Faszination, Irritation und Aufmerksamkeit für Vorgänge in Natur und Umwelt.
Beobachtungen und Alltagserlebnisse im Umfeld sind authentisch und mit allen Sinnen erfahrbare Realität, eingebettet in für Kinder nachvollziehbare, immer verständlichere und in sich schlüssige Zusammenhänge. Ihr Blick auf die Welt gewinnt an Tiefe und Breite und hält sie in Bann durch persönliches Involviert-sein.
Alltagsphänomene, die Kinder begeistern, sind auch Türöffner für elementare Lernprozesse. Sie veranlassen Kinder zum Verweilen, Staunen, sich einer Sache hinzugeben, zum gemeinsamen Spielen mit den Phänomenen und zum Experimentieren. Die Kinder kommen in den Austausch, es wird diskutiert, es werden Fakten und Informationen zusammengetragen, Thesen überprüft, einander erklärt und es werden Fragen gestellt. Sprache wird dabei in einer kaum zu überbietenden Intensität angeeignet.
Weltoffenheit, Aufmerksamkeit, Konzentration auf einzelne Phänomene, Spiel, Tun und Handeln, Sprache, konstruktive Gruppendynamik und Lerngemeinschaft verschmelzen.
Welterkunden gehört zum täglichen Grundbedürfnis von Kindern und ist eine notwendige Entwicklungsaufgabe. Dafür gibt es keine zeitliche Begrenzung. Welterkunden muss auch nicht „kindgerecht“ bearbeitet und abgehoben vom Alltag inszeniert werden.
Die Rolle der Elementarpädagoginnen ist dabei anspruchsvoll und hoch komplex: Sie beobachten die Neugier und die Interessen, die Kinder in diesem Umfeld auf vielfältige Weise zeigen. Sie knüpfen an der Spielfreude, am Gestaltungswillen, dem Ideenreichtum und an den Gedankengängen der Kinder an. Und sie machen sich kundig über naturwissenschaftliche Phänomene, die Kinder fesseln.
Und Elementarpädagoginnen können und wollen das! Sie haben ein Bild vom Kind verinnerlicht, getragen von großem Respekt vor dem sich entwickelnden Geist der Kinder.
Die professionelle Weiterentwicklung muss mit Geduld und im Dialog vorangetrieben werden. Es klappt vielleicht nicht sofort.
Zu tief sitzen Vorstellungen wie, für Kinder den Alltag planen zu müssen.
In meinen Augen besteht die größte Herausforderung darin, die Kinder zu beobachten, welche Themen zu IHREN Themen werden und sie anschließend mit Hilfe elementarpädagogischer Methodenvielfalt zu unterstützen, ihre Ideen auch umzusetzen. Den Kindern zu zutrauen, dass sie ihren Weg der Welterkundung finden werden, mit professioneller Begleitung und unter Einbezug inspirierender Bildungspartner aus dem Umfeld.
Erst in diesem Zusammenhang machen manche Standard-Experimente dann Sinn. Aber vor allem auch überlegte und auf die Fragen der Kinder bezogene selbstausgedachte Versuche. Sie ermöglichen eine kreative, vertiefte und eigenwillige Auseinandersetzung mit dem ausgewählten Forschungsthema.
Alltagsphänomene sind eine ausgezeichnete Ausgangslage für bewusst gestaltete naturwissenschaftliche Frühbildung!
Ziel ist dabei, Kinder bei Gesprächen, gemeinsamem Nachdenken, beim Planen, Forschen, Reflektieren und Präsentieren zu begleiten und zu unterstützen. Kinder überwinden durch Knobeln und Tüfteln Hindernisse und erfahren in der Forschergemeinschaft Gruppenzugehörigkeit und Durchhaltevermögen. Sie entwickeln ihre Talente.
Sie erleben, wie ihre Initiative, ihre Anstrengungsbereitschaft und ihr Engagement Forschungs- und Erkundungsprozesse antreiben können.
Es ist nach meinem Ermessen und meiner Überzeugung der elementarpädagogische Ansatz, den wir in den „Mainstream“ der Elementarpädagogik bringen müssen!
Unsere solide Kindergartentradition findet hier ihren Anschluss. Kindergartenpädagogik, so wie ich sie etwa in der Ausbildung kennengelernt hatte, setzte immer schon auf persönliche Zugewandtheit, Naturkunde in Wald und auf der Wiese, Sinnesübungen, handwerkliche Betätigung, Pflege des freien Rollenspiels und Arbeiten im eigenen Kinder-Garten.
Das auch als Antwort zur oben gestellten Frage: „Was ist neu am Bildungsbereich frühe MINT-Bildung“? Es gibt viele gediegene Vorläufer des elementarpädagogischen Ansatzes.
Erfahrungen mit dem elementarpädagogischen Ansatz
Ich habe in den letzten 25 Jahren mit dem elementarpädagogischen Ansatz viele eindrucksvolle Erfahrungen sammeln können. Anregungen dazu erhielt ich besonders auch in der Zusammenarbeit mit Marianne Krug und Donata Elschenbroich.
Drei Schwerpunkte möchte ich hier besonders hervorheben und kurz beschreiben.
Die drei Beispiele beziehen sich auf Projektarbeit, Kontemplation im Zusammenhang mit belebter Natur und elementares Tüfteln und Handwissen.
Projektarbeit
In elementarpädagogischen Projekten sind Pädagoginnen Mitforschende, die sich auf Fragen und Ideen der Kinder einlassen. Sie stehen den Kindern bei, ihre Sache anzupacken.
Die Erfahrung zeigt: Eine offene, partizipatorische Projektform in allen Phasen unterstützt den frühkindlichen Lerncharakter am besten. Hier werden die Projektschritte gemeinsam ausgehandelt.
Ein Erkundungsthema kann sich über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt. Die Kinder verfolgen einen roten Faden. Die Projektschritte sind in sich schlüssig und nachvollziehbar.
Durch die gemeinsame Dokumentation der Vorgehensweise, durch für Kinder begreifbare Visualisierung der einzelnen Schritte erhalten Lernprozesse während des Projektverlaufs eine nachhaltige Wirkung. Die Kinder reflektieren im Nachhinein:
„So sind wir vorgegangen.
Das haben wir besprochen, dann fiel die Entscheidung für diesen Schritt.
Der hat uns aber nichts gebracht.
Wir haben eine Fachfrau zu uns eingeladen.
Sie hat mit uns die Sache durchdacht.
Ihre Impulse haben wir auf diese Art und Weise umgesetzt.
Das ist nun das Ergebnis unserer Projektarbeit.“
Kinder werden Organisatoren und Zeugen ihres eigenen Lernprozesses - eine gute Grundlage für alle weiteren Lernprozesse.
Kinder erfahren: Es gibt Hindernisse. Vieles funktioniert nicht sofort so wie gedacht. Das macht nichts. Wir lernen dazu und probieren weiter, wie wir vorgehen können, um die Herausforderung gemeinsam anzupacken.
Dabei erkunden Kinder gründlich und mit einem langen Atem ihren ausgewählten Weltausschnitt.
ElementarpädagogInnen entwickeln ein Gespür für die Themen die Kinder erkunden möchten. Sie beobachten die Begeisterung, Faszination und Beharrlichkeit, mit der sich junge Kinder einer speziellen Sache widmen.
Ihre professionelle Aufgabe liegt darin, ein aktuelles Interesse der Kinder werteorientiert auf seine ergiebigen Handlungsmöglichkeiten vor Ort hin zu überprüfen.
Und dann loszulassen von ihren eigenen, immer aus Erwachsenensicht logischen Herangehensweisen und didaktischen Vorstellungen, wie „man“ das Thema bearbeiten könnte und die Vorgehensweise der Kinder zu unterstützen.
Bei der Begleitung elementarpädagogischer Projekte habe ich in all den Jahren immer wieder eines erfahren:
Pädagoginnen im Kindergarten, in Horten und Grundschulen können das!
Aber sie brauchen geeignete Rahmenbedingungen und Unterstützung, diesen Weg auch gehen zu können.
Jetzt müssten nur noch alle Verantwortlichen mit anpacken, um diese Qualität für Kinder bis zehn Jahre und darüber hinaus auf lange Sicht in den Bildungseinrichtungen zu etablieren.
Belebte Natur und Kontemplation
Kontemplation sehe ich als einen Türöffner für Welterkundung: Kinder IHRE Themen finden zu lassen, die sie begeistern, für die sie brennen, braucht Zeit und Muße.
Ich bin mit Kindern viel in der Natur unterwegs. Immer wieder kommt es dabei zu unverhofften, ungeplanten Begegnungen mit der belebten Natur: Kleine Tiere im Wasser, Schnecken, Igel, Vogelküken, Ameise und Käfer ...
Die große Freude der Kinder an diesen Beobachtungen lässt eigentlich nur eines zu: Innehalten, sich einlassen auf die Situation, Raum und Zeit geben für Faszination, beobachten, wie diese Begegnungen auf Kinder wirken ... – So spannend!
Welche Fragen tauchen auf, welche Ideen entwickeln Kinder, welche Dialoge führen sie, welche Wertvorstellungen haben sie verinnerlicht? Dies wird ersichtlich beim direkten Kontakt mit der Vielfalt des Lebendigen vor Ort. Diesen spontanen Kontakt gilt es mit Sorgfalt zu hüten und zuzulassen.
Hier beginnt frühe MINT-Bildung!
Und niemand und auch keine noch so gut gemeinte pädagogische Absicht darf diese Magie des Augenblicks stören!
Denn neue pädagogische Modeströmungen machen sich bemerkbar. Und wieder müssen wir Pädagoginnen und Pädagogen uns kritisch fragen, unterstützen sie Interessen und Bedürfnisse der Kinder oder bedienen wir damit wieder einmal ein aufflackerndes Strohfeuer ohne Brennwert?
Dazu vier Beispiele:
- Bildungsprozesse dokumentieren ist das Eine und natürlich wichtig für die Transparenz von elementarer Bildung.
Aber immer sofort die Kamera auf Kinder richten, und Kinder dabei in ihrer Versunkenheit zu stören, ist das andere.
Kinder fotografieren, ja, aber wieviel ist zu viel? Fördern wir die Selbstdarstellung von Kindern? Das Fotoface als Selbstzweck und hübsche Fotos, um Eltern zu bedienen?
- Was ich noch beobachte: Den Drang immer sofort zu Googeln – bevor Kinder ihre Fragen formulieren können, werden sie mit Informationen und Fakten aus dem Internet zugeschüttet.
Es gibt so viele Möglichkeiten sich mit jungen Kindern einem Forschungsthema zu nähern. Googeln ist nur ein kleiner Teil davon.
- Naturkatastrophen und Umweltschutz sind allgegenwärtig. Schreckensszenarien erreichen auch die Kinder.
Folgen des Klimawandels werden ihre Zukunft sicher prägen. Gerade deshalb ist auch der unvermittelte, unbeschwerte Kontakt zur belebten Natur, ohne sofort auch das Bienen- und Artensterben anzusprechen und den Kindern aufzudrängen, wichtig.
- Digital aufpeppen ... muss alles digital bearbeitet werden?
Ameisen in slow Motion, Schmetterlinge im Zeitraffer, Großaufnahmen von Schnecken ..., nur um die digitale Bildung auch noch irgendwie unterzubringen?
Ich plädiere für einen sorgfältigen, reflektierten Umgang mit diesen neuen Herausforderungen und technischen Möglichkeiten.
Ich stelle das Recht der Kinder darauf, sich spontan, ungestört und unvoreingenommen von kleinen Tieren verzaubern zu lassen vor alle Bildungsabsichten, die sie dabei unterbrechen und ablenken würden.
Und Kinder brauchen uns Erwachsene zur Bestätigung und Unterstützung. Durch unsere achtsame Haltung signalisieren wir ihnen: „Ja, was du entdeckt hast, ist wichtig und von Bedeutung, schau es dir in Ruhe an. Dann sehen wir weiter.“
Tüfteln und Handwissen
Elementares Tüfteln und Forschen sind eng miteinander verknüpft. Forschen beinhaltet u. a. einen Weltausschnitt zu beobachten, zu untersuchen, Fakten zusammenzutragen, zu experimentieren. Tüfteln ist werktätiges Tun, Ideen in die Tat umsetzen. Materialerkundung, Erleben und Spüren von physikalischen Kräften, geplantes, zielgerichtetes Vorgehen. Tüfteln vereint in sich alle Forschungsbereiche.
Tüfteln ist angewandte elementare MINT-Bildung mit Sinnzusammenhang und Bedeutung.
Tüfteln ist ein Urbedürfnis und eine elementare Notwendigkeit.
Wir Menschen haben immer schon die Welt tüftelnd, also hands-on erkundet und sie dann für unsere Lebenssicherung und Bereicherung umgestaltet.
Tüftelnd erfand die Menschheit Werkzeuge, das Rad, Papier, Uhren, Schuhe, Wäscheklammern, Telefon.
Warum tüfteln junge Kinder?
Tüfteln macht Spaß. Von den Dingen des Alltags, den Materialien die Kinder im Umfeld entdecken, geht ein enormer Aufforderungscharakter aus, sie lustvoll mit allen Sinnen und aller Zeit der Welt zu erkunden.
Es sind diese Alltagserfahrungen, die beim Prozess des gemeinsamen Tüftelns in der Kindergruppe dann aufgegriffen und erweitert werden. Forscherdrang, Entdeckergeist, Tüftlertrieb, Spielfreude, Gruppendynamik, Verstehensprozesse ... treiben das Tüfteln an.
Tüfteln unterscheidet sich fundamental vom Basteln nach Anleitung oder vom „Kinder-beschäftigt-Halten“.
Im Kindergarten wird viel Aufwand betrieben, Kinder beschäftigt zu halten. Ich stelle mir oft die Frage: Müssen Kinder denn andauernd beschäftigt werden?
Beim Tüfteln setzen Kinder IHRE Ideen in die Tat um.
Tüfteln wird getragen von einem respektvollen Umgang mit dem Gestaltungswillen von Kindern.
Wie entstehen Ideen für gemeinsames Tüfteln?
- Oft liegt ein Thema in der Luft, dann spricht es ein Kind aus und alle wollen mitmachen.
- Oder die Kinder eint eine emotionale Betroffenheit und sie wollen sich um etwas kümmern.
- Sie erfahren einen Schreckmoment und möchten der Sache auf den Grund gehen.
- Sie machen gemeinsam eine Beobachtung, die sie überrascht oder irritiert. Sie fragen sich, wie kann so was geschehen?
- Oder die Begeisterung eines Kindes für eine Tüftelidee springt über, andere Kinder wollen auch dabei sein.
- Pädagoginnen beobachten die Begeisterung der Kinder für eine Sache und initiieren ein Tüftelprojekt.
Warum ist es wichtig, die Kinder IHRE Tüftelideen entdecken zu lassen?
Das Thema, die Sache hat für sie BEDEUTUNG, sie brennen dafür.
Sie werden von einer inneren Motivation angetrieben. Sie wollen alles geben und wachsen dadurch über sich hinaus.
Warum dem Tüfteln eine neue Aufmerksamkeit zukommen lassen?
Tüfteln ist lustvolles Agieren in der wirklichen Welt.
Selbst mit Dingen, Werkzeugen, Materialien und eigenen Ideen umgehen, im Gruppen-Flow einer Sache, mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, nachgehen ... Das sind elementare Erfahrungen.
Donata Elschenbroich fragt in ihrem Buch „Weltwissen der Siebenjährigen“, was unser Bildungssystem zur Ausbildung von „Hand-Wissen“ beiträgt? Das „Handwissen“ ist weniger wert als das „Kopfwissen“. Warum?
Begreifen heißt: Kinder müssen in der wirklichen Wirklichkeit, im selbstbestimmten Tun ihr Urteil über die Welt bilden, ihr fundiertes persönliches Urteil – sonst wird es nicht ihre Welt sein.
Die Hand, Kristallisationskern menschlicher Fähigkeiten.
Fazit: Ein Statement
Alle verfügbaren Erkenntnisse aus der aktuellen frühkindlichen Lernforschung weisen diesen Weg:
die erfahrbare tägliche Welt muss mit allen Sinnen, ohne zeitliches Limit, mit hoher Motivation, über Bewegung und Emotionen, im gemeinsamen, spielerischen Tun und Handeln, bedeutungsvoll und eigeninitiativ, mit Hilfe von Sprache in der Vorstellungswelt verankert, strukturiert und mit bereits vorhandenem Wissen und Erfahrungen verbunden, vernetzt und immer wieder abgeglichen, verändert und neu angepasst werden.
Fundierte Repräsentationen und Modelle der realen Welt sind für alle weiteren Lernprozesse ausschlaggebend. Späteres Verstehen von komplexen Sachverhalten braucht gut und lustvoll eingeübte Haltungen und solide, lebendige Anknüpfungspunkte.
Elementarpädagoginnen müssen eine kritische Distanz gegenüber forcierenden Anforderungen an ihr Berufsfeld entwickeln und ihre eigenen fachlichen, elementarpädagogischen Analysen und Argumente entgegensetzen.
MINT-Bildung von Anfang an meint nicht, den Schulstoff „kindgemäß“ zu bearbeiten und ihn dann an die Kinder heranzutragen. Oder sie von früh an für den Unterhaltungswert von Naturwissenschaft zu begeistern.
Das brauchen junge Kinder nicht.
Es gilt, die Freude und Energie, mit der Kinder in das Weltgeschehen eindringen zu respektieren.
Der Kompass muss sich ausschließlich an den uns anvertrauten Kindern ausrichten. Ihre Fragen an die Welt bestimmen die konzeptionelle Fahrtrichtung.
Das Bild vom Kind als Forscher und Tüftler kann durch gehaltsvolle elementarpädagogische Qualitätskriterien in der täglichen Praxis erfüllt und umgesetzt werden.
Literatur
Elschenbroich Donata: Weltwissen der Siebenjährigen: Wie Kinder die Welt entdecken können. Kunstmann 2001
Krug Marianne; Burtscher Irmgard M.: Technikprojekte im Alltag von Kindern. Rückschau und Erkenntnisse aus 15 Jahren „Es funktioniert?!“ in Das Kita-Handbuch, Hrsg. Martin R. Textor und Antje Bostelmann, November 2020
Dr. Irmgard M. Burtscher, Jg. 1957, Elementarpädagogin und Praxisforscherin, Penzberg
Dank an Marianne Krug für sorgfältiges Gegenlesen und inspirierende Anmerkungen.
Ihre Meinung ist gefragt!
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