ASH-Professor*innen für schrittweise Öffnung der KiTas
Die Professor*innen des Studiengangs Erziehung und Bildung in der Kindheit der Alice Salomon Hochschule in Berlin haben zum Lockdown von Kitas und Grundschulen in der Corona Krise eine Stellungnahme abgegeben und nehmen dabei eine bisher zu selten vernommene kindheitspädagogische Perspektive ein und stellen entsprechende Forderungen auf:
"Sehr früh, direkt bei der Einführung des gesellschaftlichen Lockdowns, haben verschiedene Verbände – so beispielweise der Weltärztebund durch seinen Präsident Montgomery – argumentiert, dass ein umfassender Lockdown auch problematisch sei, da der Weg aus dem Lockdown wieder heraus viel schwieriger sei als der hinein. Dies bestätigt sich aktuell.
Wir vermissen in den dafür verantwortlichen Expert*innengruppen Vertreter*innen aus dem Bereich der frühen Bildung, die eine kindheitspädagogische Perspektive in die Entwicklung von Konzepten aus dem Lockdown einbringen.
Zudem ist zu bedenken, dass die Corona-Pandemie mit großer Wahrscheinlichkeit keine zeitlich begrenzt zu meisternde Herausforderung sein wird, sondern eine dauerhafte, die es langfristig gesellschaftlich zu gestalten gilt. Insofern erscheint eine Schließung der Bildungsinstitutionen nur auf den ersten Blick als tragfähige Lösung. Sie lässt außer Acht, dass die Frage nach der Balance zwischen dem Recht auf Gesundheit und dem Recht auf Bildung, Betreuung und Erziehung eine Frage ist, die verantwortungsvoll im Interesse aller Akteur*innen im Feld der Bildung, Erziehung und Betreuung im Elementar- und Primarbereich mit tragfähigen Konzepten gelöst werden muss. Außerdem ist die Sicherstellung des Kinderschutzes eine verfassungsrechtlich verankerte Pflicht, die auch während der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona Pandemie unverändert bestehen bleibt (Art. 6 Abs. 2 GG).
Sowohl aus Gründen des Kinderschutzes als auch aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit ist daher die fortgesetzte weitgehende Schließung von Kindertageseinrichtungen und Grundschulen gesellschaftlich nicht zu verantworten. Sie steht auch im Widerspruch zu den von Deutschland 1992 ratifizierten Kinderrechten, hier insbesondere dem Recht auf Schutz vor Gewalt und dem Recht auf Bildung:
- Es wird deutlich, dass sich durch die Schließung von Kitas und Schulen Bildungsungerechtigkeiten verschärfen, da Kinder auf die materiellen und immateriellen Ressourcen zurückgeworfen sind, die durch ihre Familien bereitgestellt werden können. Da in Deutschland Bildungserfolg ohnehin wie in kaum einem anderen OECD-Staat vom familiären Hintergrund abhängt, wiegt dieser Umstand besonders schwer.
- Auch alltägliche soziale Kontakte und Interaktionen, gemeinsames Spielen und Bewegen sowie gemeinsame Lernprozesse – als zentrale Grundbedürfnisse von Kindern – sind in einem Maß eingeschränkt, dass wir die Folgen für die sozial-emotionale Entwicklung und das Gemeinschaftsgefühl nicht absehen können. Während ältere Kinder soziale Medien als Kontaktbrücken nutzen können, sind es die jüngeren, die eigenständig keine sozialen Kontakte ohne Unterstützung ihrer Eltern oder möglichen Geschwistern aufrechterhalten können.
- Die fehlende Unterstützung von Eltern durch den Lockdown bringt ein hohes Belastungs- und Konfliktpotential mit sich, und ist nicht nur bei Familien aus prekären Verhältnissen, in denen diese Situation zu verbaler und körperlicher Gewalt führen kann, sondern für alle Familien ein ernst zu nehmendes Problem. Diese Kinder haben unter den aktuellen Bedingungen kaum Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen oder wesentliche alternative Erfahrungen in außerfamilialen Systemen zu sammeln.
Als Vertreter*innen eines der ersten kindheitspädagogischen Studiengänge in Deutschland, der Studierende für die direkte und indirekte Arbeit mit Kindern im Alter von 0 bis 12 Jahre qualifiziert, befürworten wir daher dringend unter Achtung des Infektionsschutzes und des Schutzes von Risikogruppen eine schrittweise Öffnung von Kitas und der Ganztagsbetreuung an Schulen unter ausdifferenzierten Bedingungen.
Wie diese unter achtsamer Begleitung und mit Blick auf das Wohl aller Beteiligten schrittweise erfolgen kann, muss nun dringend gemeinsam mit allen Akteur*innen aus dem Bereich der Bildung, Betreuung und Erziehung in Kitas und Schulen – wie z.B. Kita- und Schulträgern, pädagogischen Fachkräften, Gewerkschaften und Berufsverbänden, Elternvertretungen und Wissenschaftler*innen – sowie mit Verwaltung und Politik erarbeitet werden.
Dabei geht es neben pädagogischen, konzeptionellen und inhaltlichen Fragen auch um die Bereitstellung entsprechender Ressourcen – sowohl für Maßnahmen im anhaltenden Lockdown als auch für die Umsetzung von Hygiene- und Arbeitsschutzmaßnahmen in den Institutionen selbst:
- Es sind gemeinsam Konzepte zu entwickeln, um so bald wie möglich Kindern – vor allem vulnerablen, schutzbedürftigen und benachteiligten – systematisch und kontinuierlich im anhaltenden Lockdown pädagogischer Einrichtungen zu Hause zu begleiten bzw. Kriterien zu entwickeln, wie Kindern schrittweise eine Rückkehr in die Kitas und Grundschulen ermöglicht werden kann. Die Kriterien für die Auswahl müssen transparent und in der Praxis umsetzbar sein.
- Um Kinderschutz auch in Pandemiezeiten anzuerkennen, stehen die Jugendämter hier in besonderer Verantwortung (§ 8a, 42 SGB VIII) und sind auf eine gelingende Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern, aber auch den freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe angewiesen.
- Es sind konzeptionelle Vorkehrungen zu treffen, wie die schrittweise Öffnung bei den Jüngsten unter Bindungsaspekten und einer ggf. prolongierten Eingewöhnungsphase gelingen kann.
- Da Kinder unter fünf Jahren häufig noch keine Abstandsregeln einhalten können, sollten diese nur kleine und konstante Gruppen mit maximal fünf Kindern in stabilen Betreuungskontexten besuchen dürfen. Diese Gruppen bzw. Teams sollten im Schichtbetrieb arbeiten und sich nicht begegnen. Dies kann nur mit viel Personal sichergestellt werden, was aufgrund des ohnehin schon bestehenden Fachkräftemangels und der hohen Anzahl an Risikogruppen gerade unter den vielen älteren Fachkräften kritisch zu sehen ist. • Eine Begleitung und Beratung durch die Gesundheitsbehörden ist unerlässlich. • Die notwendigen regelmäßigen Reinigungs- und Desinfektionsarbeiten müssen gewährleistet sein und dürfen nicht zusätzlich den pädagogischen Fachkräfte nauferlegt werden.
Die Zeit drängt, es geht elementar um die Gesundheit, die Würde, die Bildungs- und Lernerfahrungen und den Schutz unserer Kinder, um die Belastungsgrenzen von Familien und damit auch um die Zukunft unserer Gesellschaft! Dazu bedarf es der Zusammenarbeit unterschiedlichster Akteur*innen. Wir möchten Sie dabei unterstützen und unsere kindheitspädagogische Expertise gern in den Gestaltungsprozess einbringen.
- Prof. Dr. Dagmar Bergs-Winkels, Professorin für Pädagogik der Kindheit (bergs-winkels@ashberlin.eu)
- Prof. Dr. Michael Brodowski, Professor für Leitung und Management frühkindlicher Bildungseinrichtungen (brodowskim@ash-berlin.eu)
- Prof. Dr. Francesco Cuomo, Professor für Frühpädagogik und -didaktik mit dem Schwerpunkten Naturwissenschaften, Mathematik und Technik (cuomo@ash-berlin.eu)
- Prof. Dr. Rahel Dreyer, Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre (dreyer@ash-berlin.eu)
- Prof. Dr. Claudia Hruska, Professorin für Pädagogik der Kindheit mit dem Schwerpunkt Sprachbildung und Kommunikation (hruska@ash-berlin.eu)
- Prof. Dr. Corinna Schmude, Professorin für Inklusive Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kindheitspädagogik und Familienbildung (schmude@ash-berlin.eu)
- Prof. Dr. Anja Voss, Professorin für Bewegung und Gesundheit (anja.voss@ash-berlin.eu)
- Prof. Dr. Christian Widdascheck, Professor für Elementare Ästhetische Bildung (widdascheck@ash-berlin.eu)