zwei U3 Kinder

Aufs Ganze gehen! Gedanken zur ganzheitlichen Bildung im frühen Kindesalter

Ursula Rabe-Kleberg

21.09.2010 Kommentare (0)

Den folgenden Artikel übernehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von Welt des Kindes aus Heft 5/2010 dieser Zeitschrift.

1. Als wir vor mehr als sechs Jahren das Bildungsprogramm für die Kindertageseinrichtungen in Sachsen-Anhalt „Bildung: elementar“ entwarfen, wollten wir kein Wort zu Bildungsbereichen schreiben. Die Bildung in Bereiche einzuteilen, die zudem zusammen kaum ein Ganzes abgeben, schien uns in der (damals noch) naiven Radikalität unserer Orientierung an den vom Kind selbst gesteuerten Bildungsprozessen der falsche Weg. Wir sahen dann ein, dass erwachsene Menschen zumeist nicht anders können, als umfassende und komplexe Prozesse in kleine Stücke zu zerlegen, um zu verstehen, worum es geht. Die Formulierung von Bildungsbereichen richtet sich also an den Denkgewohnheiten – man könnte auch sagen: an der Trägheit des Denkens – von Erwachsenen aus. Die Einteilung in Bildungsbereiche ist kein Abbild der Denk- und Erkenntnisprozesse von Kindern.

2. Peter Moss, einer der einflussreichsten Wissenschaftler und Reformpolitiker im Bereich der Frühpädagogik in Europa, hat bei einem Vortrag an der Martin-Luther-Universität in Halle zwei Typen von Lern- und Bildungsprozessen von Kindern unterschieden und dazu bildliche Vorstellungen gewählt: Das eine Bild zeigt eine Treppe mit gleich hohen Stufen - ein Lernschritt baut auf dem anderen auf, für jeden braucht es etwa gleich viel Kraft und Mühe, um ihn zu bewältigen. Das andere Bild zeigt einen Teller Spaghetti mit der von den meisten Kindern heiß geliebten roten Soße. Dies, so sagt er, ist das richtige Bild von kindlichen Lernprozessen. Denn die sind lustvoll und machen Spaß; sie sind vermischt und folgen keiner unmittelbar sichtbaren Logik; sie sind zusammenhängend und nur, wenn Nudeln, Soße und Parmesankäse in einem gelungenen Verhältnis stehen, kommt es zu sinnlichen und sinnvollen Erkenntnissen. Und das ist eben nicht immer so.   

3. In diesem Vortrag gratulierte Peter Moss uns Deutschen, dass wir in der Tradition der Sozialpädagogik eher zu der Vorstellung des Spaghetti-Tellers neigten, während die Frühpädagogik der angelsächsischen Länder eher dem strengen Regime der Treppe folge. Ich wollte ihm damals – beinhart optimistisch – nicht widersprechen. Heute sehe ich bei vielen Erzieherinnen die Lust auf Spaghettis schwinden - nicht zuletzt, weil sie glauben, sich selbst und das, was sie tun, mit einer Orientierung nach oben, nämlich an schulisch geordneten und nach Unterrichtsfächern geteilten Lernprozessen, aufzuwerten. Eine Fehlentwicklung!  

4. Wenn Erzieherinnen nicht sich, ihre Ängste und Unsicherheiten ins Zentrum ihrer Handlungsoptionen stellen, sondern die Bildungsprozesse der Kinder wahrnehmen, beobachten, dokumentieren, gemeinsam reflektieren und Konsequenzen für ihr alltägliches Handeln daraus ziehen, werden sie herausfinden, dass Bildungs- und Erkenntnisprozesse von Kindern nicht nach Bildungsbereichen, wissenschaftlichen Disziplinen und den Denkgewohnheiten von Erwachsenen geordnet sind, sondern eigenwillig und eigensinnig. 

5. Leider kann man Bildungs- und Erkenntnisprozesse von Kindern weder sehen noch hören oder fühlen – aber vielleicht ist das auch gut so, sonst käme jemand auf die Idee, diese mit Noten zu zensieren. So einfach ist es eben nicht. Vielmehr müssen wir vom Wahrnehmbaren auf das Nicht-Wahrnehmbare schließen, auf Bildungsprozesse, die von den Kindern selbst initiiert, gesteuert und zu einem angemessenen Ende geführt werden. Engagiertheit der Kinder, sich nicht abbringen oder stören lassen, Stolz und Erleichterung in der Mimik („Heureka!“) und in der Körpersprache lassen uns vermuten, dass gerade etwas Großartiges passiert ist: Bildung und Erkenntnis.

6. Ein Beispiel: Kinder einer sogenannten Vorschulgruppe experimentieren mit ihrer Erzieherin. Diese hat genaue Vorstellungen, wie das Experiment ablaufen soll. Sie ist angespannt, weil sie es noch nicht oft durchgeführt hat; sie weist den Kindern arbeitsteilig Aufgaben zu und erledigt diese rasch selbst, wenn die Kinder nicht schnell genug reagieren. Endlich das Ergebnis: Der „Vulkan“ bricht aus, eine gelbe, puffende Masse quillt zur Freude der Kinder aus der Öffnung. Während des Experiments sind die Kinder in erster Linie damit befasst, sich bei der Erzieherin vorzudrängeln, um auch eine wichtige Aufgabe übertragen zu bekommen. Sie „schmeißen sich ran“. Wirklich, eine gute Vorbereitung auf die Schule. Sehr traurig.

7. Nachtrag zu diesem Beispiel: Als der „Vulkan“ endlich pufft und spuckt, lässt die Erzieherin erleichtert nach und zieht sich ein wenig zurück. Die Kinder kommen – im engeren Sinn des Wortes – zu sich selbst und überlegen, wie das aussieht, was da an Gelbem herausläuft. „Zitronenvulkan“, schlägt ein Kind vor und beweist, dass Kinder – einmal losgelassen – Kreativität und Naturwissenschaft ohne Probleme verbinden können: „Let the kids alone!“, singen die Stones.

8. Die Kinder des ersten Early Excellence Centres in Mülheim an der Ruhr spielen bei hässlichem Winterwetter in einer Indoor-Sandkiste. Schnell wird Wasser dazugeholt und es beginnt eine richtig tolle Matscherei. Nachdem das grundlegende Bedürfnis, sich dreckig zu machen, befriedigt ist, beginnt ein Mädchen, aus dem nassen Sand einen Ball zu formen. Immer wieder streicht sie neue dünne Schichten nassen Sands über den Ball, der bald über die Kinderhand hinauswächst und schwer wird. Sie streicht neuen Matschsand darüber und erklärt dem interessierten Erwachsenen auf dessen Frage, was sie mache, hier handele es sich um „Hammerschleim“.

9. Nachtrag zu diesem Beispiel: „Hammerschleim“? Die Verbindung der beiden Worte „Hammer“ und „Schleim“ ist einzigartig, eigensinnig und eigenwillig. Vermutlich will das Mädchen ausdrücken, dass es ihr mit einer bestimmten, gerade von ihr erfundenen Methode gelungen ist, die Gegensätze von hart und weich zu einer ganz neuen und neuartigen Einheit zu integrieren. Ihr sind also die naturwissenschaftlichen Eigenschaften bekannt, auch dass sie eigentlich unvereinbar sind. Ihr aber ist es gelungen, sie zu vereinbaren! Kein Wunder, dass sie stolz ist. Und wir auf sie.

10. Aber vermitteln Sie das als Erzieherin einmal den Eltern!

11. Ja, genau. Da kommen wir wieder zu der ersten Überlegung zurück. Bildungsbereiche stehen für das Denken von Erwachsenen. Wenn wir kindliche Bildungs- und Erkenntnisprozesse erklären und verstehen wollen, müssen wir auf die Einteilung der Welt in Natur- und Geisteswissenschaften, in Technik und Schöne Künste zurückgreifen - eine Einteilung, die kaum mehr als 300 Jahre Geltung hat. Die uns aber als aus den Dingen und Phänomenen heraus angemessen, ja „natürlich“ erscheint. In kindlichen Bildungs- und Erkenntnisprozessen sind diese Aufteilungen und Ordnungen (noch) nicht definitions- und prozessmächtig. Ihnen solche Einteilungen aufzudrängen und abzuverlangen, gefährdet Bildungsprozesse eher als dass sie diese fördert.

12. Erzieherinnen sind dafür zuständig, Bildungsorte und -räume für Kinder zu garantieren, das heißt diese auszustatten und Einflüsse, die Bildungsprozesse von Kindern erschweren, zu minimieren. Kinder haben ein Recht darauf, ein Recht auf eigensinnige und eigenwillige Bildungsprozesse. Und die sind – das zeigen uns genaue Beobachtungen – nicht nach Bildungsbereichen geordnet.

13.Wie sollte man auch einen Teller Spaghetti ordnen? Auf der einen Seite die Nudeln, auf der anderen die Soße? Den Parmesan drum herum? Seltsam, die Versuche, Kinder nach Disziplinen und Logiken der Erwachsenen „zu bilden“, findet kaum jemand lächerlich …

Prof. Dr. Ursula Rabe-Kleberg ist Professorin für Soziologie der Bildung an der Martin-Luther-Universität in Halle, an ihrem Lehrstuhl ist das Bildungsprogramm für die Kindertageseinrichtungen in Sachsen-Anhalt erarbeitet worden. Sie ist zudem Wissenschaftliche Leiterin des Instituts „bildung: elementar“, einer Gesellschaft für Professions- und Organisationsentwicklung.

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