zwei U3 Kinder

Autoritärer Kinderschutz?

Timo Müller/Reinhart Wolff

17.08.2010 Kommentare (0)

Im Vorlauf zum Fachkongress "Kinderschutzforum 2010" vom 8.-10. September hat Timo Müller von den Kinderschutz-Zentren ein Gespräch mit Reinhart Wolff, emeritierter Professor der Alice Salomon Hochschule Berlin zu Fehlern im Kinderschutz geführt.

 Wir übernehmen das Interview aus dem Newsletter der Kinderschutz-Zentren.

Dr. Müller: Sehr geehrter Herr Professor Wolff, der Bremer Kinderschutz-Fall „Kevin“ im Jahr 2006 fand eine große öffentliche Aufmerksamkeit. Nicht erst seit diesem Fall ist das Thema „Fehler im Kinderschutz“ in der fachlichen Diskussion. Wie schätzen Sie die jetzige Situation ein: Sind die Fachkräfte vor Ort seither sensibler für Fehler im Kinderschutz geworden? Und was bedeutet dies konkret für die fachliche Arbeit?

Prof. Wolff: Von zwei Seiten her ist die moderne Soziale Arbeit – wie andere Berufssysteme auch – in ihrer Praxis und Theorie mit neuen Anforderungen konfrontiert worden: 1. weil sich neue sozio-kulturelle und politisch-ökonomische Problemlagen ergeben haben und 2. weil wissenschaftliche und technische Entwicklungen die professionellen Wissens- und Kompetenzstrukturen veränderten haben. So ist auch die Herausbildung der modernen Kinderschutzarbeit ohne die neue Armut und Ausgrenzung in modernen Gesellschaften und die Veränderung der Generationen- und Geschlechterbeziehungen – mit neuen Rechten und Pflichten insbesondere in den Eltern-Kind-Beziehungen – und ohne das neue Wissen der Entwicklungspsychologie und Kleinkindpädagogik gar nicht denkbar. Mit der schrittweisen Anerkennung der Rechte des Kindes wird Kinderschutz zu einer wichtigen Aufgabe, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe, deren Wächteramt mit wachsender Familienkrise und zunehmender Gefährdung verantwortlicher Elternschaft an Bedeutung gewinnt.

Die neue Aufmerksamkeit, die sich auf Kinderschutzfehler richtet, hat allerdings auch mit Prozessen der Vergesellschaftung von Erziehung zu tun, d.h. hat auch mit der Verschiebung der Verantwortung im Verhältnis von primären – nämlich familialen – und sekundären – nämlich professionellen – Sozialisationsfeldern zu tun. Was die Gesundheits-, Sozial- und Bildungssysteme für die Entwicklungsförderung von Kindern und Jugendlichen leisten, hat damit einen viel wichtigeren Stellenwert bekommen. Mit ihrer gewachsenen funktionellen Bedeutung sind auch die Ansprüche an professionelle Dienstleistungen gestiegen. Jetzt müssen Professionelle (in einem Jugendamt, einer Klinik, einer Kindertagesstätte, einer Schule oder auch in einem Atomkraftwerk oder einem ICE der Deutschen Bahn) zeigen, dass sie ihr Geld wert sind. Die Bürgerinnen und Bürger, die Nutzerinnen und Nutzer moderner Dienstleistungen, ebenso wie die Öffentlichkeit und die Politik sind sensibler geworden, was die Leistungsfähigkeit der Professionellen betrifft. Was für alle Menschen gilt «Irren ist menschlich», gilt für Fachleute nur noch eingeschränkt: Ihnen wird in der radikal zugespitzten Variante nun eine Null-Fehler-Toleranz abgefordert, in der klügeren heißt es stattdessen «Aus Fehlern lernen!»

Dr. Müller: Noch einmal zum Bremer Fall „Kevin“ und dessen Auswirkungen. Was hat sich seit „Kevin“ in der Praxis verändert?

 Prof. Wolff: Nach der ganzen Erschütterung und Aufregung, die der Tod Kevins in Deutschland auslöste, kam es zu einem Umbruch in der Wahrnehmung und Beurteilung der Kinderschutzaufgaben vor allem der staatlichen Kinder- und Jugendhilfe. (…)

Nur vereinzelt haben Jugendämter und Freie Träger, auf die umgehende Angst, man könnte als Kinderschutzfachkraft scheitern (und dann auch zur Verantwortung gezogen werden) mit Qualitätsentwicklung, d.h. mit Lernen reagiert. Insofern ist das Projekt des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) „Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz“ in Neuland vorgestoßen. Das Projekt ist aber auf ein großes Interesse gestoßen und von den 41 Kommunen, die daran teilnahmen, gerne angenommen worden.

Dr. Müller: Was ist das Ergebnis dieses Projektes?

Prof. Wolff: Ein Hauptergebnis kann man bereits jetzt herausstellen: Wer im Kinderschutz besser werden will, braucht mehr als Gefährdungseinschätzungsbögen und Ablaufpläne. Auch die Etablierung einer neuen, gar präventiven Sicherheitskultur (mit sogenannten Frühwarnsystemen, mit prozuderalem und managerialem Autoritarismus und einer verschärften Kontrolle ärztlicher Vorsorgeuntersuchungen bzw. der Aufweichung von Datenschutzregelungen) ist kein Beitrag zur Qualitätsverbesserung.

Man muss vielmehr die Qualität der intra-organisationalen und inter-organisationalen Organisationsbedingungen, der strategische und programmatischen Ausrichtung, der Fach- und Leitungskräfte wie der methodischen Prozessgestaltung der Kinderschutzeinrichtungen in den Blick nehmen und reflektieren. Wer Kinder schützen will, arbeitet in einem Hochrisikobereich. Da sind Achtsamkeit, Mut und Verstand und permanentes Lernen angesagt, d.h. der Aufbau einer reflexiven Kommunikationskultur. Wie man das macht und welche Erfolge mit einem solchen Qualitätsentwicklungsansatz dabei erzielt wurden, werden wir im Laufe dieses Jahres konkreter beschreiben, wenn wir die Ergebnisse des Modellprojekts vorlegen.

 

 

 

 

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