Bevor noch ein Kita-Kind ins Wasser fällt
Kindergartenausflüge: Ja – nein – vielleicht?
Nach einer Internetrecherche von Angelika Mauel
Kita-Ausflüge können Höhepunkte für Kinder und manchmal richtig anstrengend für ihre ErzieherInnen sein. Selbstverständlich müssen spezielle Highlights mit längeren Anreisen und Übernachtungen von den Fachkräften ausführlich besprochen und vorbereitet werden. Die Kinder sollen weder überfordert werden, noch sich langweilen. Manchen BetreuerInnen graust es vor Unwägbarkeiten. Oder vor dem Heimweh der Kinder oder den nächtlichen Anrufen der Eltern, die noch wissen wollen, wie es ihrem Kind geht.
Außer jenen spannenden Ausflügen, denen Kinder entgegenfiebern, gibt es die vielen alltäglich gewordenen Ausflüge, die sich zum Beispiel auf regelmäßige Besuche eines öffentlichen Spielplatzes, eines Parks oder eines Brunnens beschränken. Solche Ausflüge sind irgendwann Routine, werden nicht mehr im Team eigens besprochen oder gar schriftlich fixiert. Doch auch sie erfordern die beständige Aufmerksamkeit der BetreuerInnen.
Wenn wache Kinder etwas erleben wollen, bleibt es nicht aus, dass sie den Radius des vertrautes Terrains spontan ausweiten, um beispielsweise dem Müllwagen entgegen zu laufen oder verträumt und verzückt einen Schmetterling hüpfend zu verfolgen. Zauberhafte Szenen, aber auch volle Windeln, Scherben, Getränkedosen mit scharfen Verschlüssen im Sand, Wespen, Hundehaufen, jede Menge Zigarettenkippen, Bagatellverletzungen, Streitigkeiten der Kinder und vieles mehr, ziehen die Aufmerksamkeit der ErzieherInnen auf sich. Von ErzieherInnen, die sich nicht dazu berufen fühlen, immer wieder „Nein!“ oder „Iiiih!“ zu sagen, kann das Aufpassen auf einem öffentlichen Spielplatz als Unterforderung empfunden werden. Tatsächlich aber ist es ist eine Leistung, sich trotz auftretender Langeweile oder Erschöpfung (Stichworte: Personalmangel, Arbeiten trotz eines Infektes) voll und ganz auf die Kinder zu konzentrieren.
Es lässt sich nicht sagen, wie viele ErzieherInnen bundesweit während eines Kita-Ausflugs fix eingegriffen haben, bevor einem Kind ein Unfall zugestoßen wäre. In jenen Großstädten, in denen es überdurchschnittlich viele Tagespflegestellen, Krippen und manchmal sogar Kitas ohne ein eigenes oder angemessen großes Außengelände gibt, fällt auf, wie unterschiedlich konsequent oder liebevoll ErzieherInnen es verstehen, mit ihren Kindern umzugehen. Auf das Kommando „Ameise“ hin, schaffen es schon Krippenkinder bemerkenswert geordnet an einer Reihe parkender Autos vorbei zu gehen. Die Anerkennung von Fremden ist ihnen gewiss. Anderswo herrscht ein rauer Ton und die Kinder laufen trotzdem aus dem Ruder. Auf die Straße oder vor ein Fahrrad gelaufene, auf dem Bürgersteig trödelnde oder vorauslaufende Kinder werden nicht selten dank aufmerksamer Passanten zur Gruppe zurück gebracht. Insbesondere Zweijährige laufen nicht immer nur brav in Zweierreihen.
Damit es Kindern und ErzieherInnen gelingt, einander besser im Auge zu behalten, tragen sie seit einigen Jahren im Sommer vielerorts Kappen in einer einheitlichen Farbe. Sobald es kühler wird, gibt es Warnwesten für alle. Oftmals ist die Rückseite bedruckt mit dem Namen der Einrichtung. Ein besonders ausgeprägtes Bewusstsein für Gefahren lassen neonfarbene „Anti-Tarn-Westen“ erkennen. - Selbstverständlich gibt es Kinder und ErzieherInnen, denen die Farben fast an den Augen wehtun oder die die Qualität dieser „Schutzkleidung“ nicht mögen. Aber wenn sie einmal angeschafft wurde, muss sie angezogen werden, es ist nur vernünftig. Ist auf der Kleidung auch noch die Telefonnummer der Einrichtung aufgedruckt, erübrigt sich im Falle eines verloren gegangenen Kindes die Meldung des Vorfalls bei der Polizei... und es ist nicht sicher, dass Eltern es erfahren, wenn ihr Kind für kurze Zeit vermisst wurde...
Statistisch gesehen erleiden mehr Kinder schwere Unfälle im Straßenverkehr oder in ihren Elternhäusern als unter der Obhut pädagogischer Fachkräfte. ErzieherInnen, die eher für die Durchführung von Projekten mit den Kindern und die Organisation von Events im Rahmen eines Kita-Festes gelobt werden, könnten eigentlich stolz darauf sein, wie gut es ihnen gelingt, Kinder vor Verletzungen und Gesundheitsschäden zu bewahren. Doch wer im Kopfkino regelmäßig Kinder abzählt, empfindet auch nach vielen Jahren im Beruf immer wieder ein mulmiges Gefühl angesichts der immerwährenden Verantwortung. 15, 16, 17… Wo ist nur...?
Mit einem Bein im Gefängnis stehen ErzieherInnen zwar nicht, aber Strafbefehle und öffentliche Verhandlungen gab es...
Wie bei strafbaren Handlungen ist auch beim Versagen der Aufsichtspflicht das von Eltern und Vorgesetzten Unbemerkte wesentlich häufiger als die Anzahl der Meldungen, die bei Ämtern eintreffen. Ab wann liegt eigentlich ein tadelnswertes Handeln oder Unterlassen vor? Verdienen ErzieherInnen eine Abmahnung, wenn sie mit Kindern beispielsweise einen unzulänglich gesicherten öffentlichen Spielplatz besuchen? Manchmal werden sie dafür gelobt... Stellen ausbleibende Beschwerden der Eltern über das regelmäßige Aufsuchen des Platzes ein stillschweigendes Einverständnis mit dieser Praxis dar? Gehört es in die Personalakte, wenn ErzieherInnen es gut meinen und nach der Erkrankung einer Kollegin/ eines Kollegen lieber ohne sie einen Ausflug mit den Kindern unternehmen, als ihn kurzfristig abzusagen? In der Kita selbst arbeitet man schließlich auch oft mit einer Besetzung unterhalb des geltenden Personalschlüssels... Manche Kindergartenleitung erwartet es sogar trotz Widerstandes der ErzieherInnen.
Besteht in einem System, in dem Kinder unter Personalmangel irgendwie funktionieren müssen, die Gefahr, dass sich eine Gesellschaft daran gewöhnt, Bedingungen zu akzeptieren, so wie sie nun mal sind? Hauptsache ein Betreuungsplatz? Dass ErzieherInnen auf Ausflügen mit einer Kindergruppe nicht so erfolgreich auf ihre Schar achten können wie im vertrauten Außengelände der Einrichtung, sagt uns die Erfahrung.
In den letzten Jahren gab es einige tragisch endende Ausflüge
Eberswalde, 8. Dezember 2010. Die zweijährigen Freundinnen Liz und Lilly fielen durch das dünne Eis eines zugefrorenen Sees. Liz konnte gerettet werden. Lilly starb am 19.12.2010 im Herzzentrum Berlin. Die Erzieherinnen hatten 26 Kindern zwischen 2 und 4 Jahren einen schönen Tag im Schnee bereiten wollen. Begleitet wurde die Gruppe noch von einer Hilfskraft und zwei Praktikantinnen. „Tod im Eiswasser“ titelte die Bild. 2012 wurden beide Erzieherinnen wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen verurteilt. 2013 brach Erzieherin Mara E. auf einem Friedhof zusammen. Sie starb mit nur 44 Jahren. Der Vorname „Lilly“ und wie früh ihre Erzieherin starb, wird noch heute mit diesem bundesweit vor Weihnachten bekannt gewordenen Unfall in Verbindung gebracht.
Schwäbisch Gmünd, 20.1.2020: 19 Kinder wurden von drei Erzieherinnen auf einen öffentlichen Spielplatz nahe der Rems geführt. Der dreijährige Devin konnte unbemerkt den Spielplatz verlassen. Bald nachdem er vermisst wurde, fand man ihn leblos im Fluss. Er starb im Krankenhaus. Nach seinem Tod kursierten Bilder und Videos im Netz, die den Spielplatz und seine Begrenzung zur Rems hin zeigten. Ein circa hüfthoher hölzerner Zaun mit zwei quer laufenden Rundbalken. Wahrlich kein Hindernis für Kinder diesen Platz zu verlassen. Eher schon eine Aufforderung, die Rundhölzer zu betasten und durch den Zaun zu schlüpfen. Plätscherndes Wasser kann wie ein Magnet anziehen. Ein Kind kann so schnell entwischen. Dass der Spielplatz im Vorjahr vom TÜV abgenommen wurde, änderte nichts an seiner offensichtlich nicht verantwortungsbewusst geduldeten Begrenzung (siehe hier).
München Perlach, 17.10.2012: Für die Kinder war auf einem Parkplatz ein Areal mit Stühlen für ein Autorennen abgegrenzt worden. Drei Zweijährige sind mit Bobby Cars durch eine Lücke im Sicherheitszaun, der stellenweise niedergetrampelt war, entwischt. Über einen Trampelpfad gelangten sie zu den Bahngleisen. Während die Jungen ausweichen konnten, wurde das Mädchen vom Zug erfasst und mehrere Meter durch die Luft geschleudert. Der Unfall ereignete sich, als zwei Betreuerinnen mit 19 Kindern im Freien waren. Die dritte Betreuerin hatte mit einem Kind, das gerade zur Eingewöhnung in der Einrichtung war, ins Haus gehen müssen und deshalb eine Vertretung in den Garten geschickt, die dort aber noch nicht angekommen war. Ein Bahnhofspate hat gesagt, dass Sicherheitsmängel seit Jahren bekannt gewesen wären. (Quellen: SZ.de vom 17. und 18.10.2012)
Wolfsburg, 4.2.2020: Während das Entsetzen und die Trauer über Devins Tod in den Medien schon nachgelassen hatten, wurden zwei Erzieherinnen und eine Sozialassistentin wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Ein 16 Monate alter Junge war am 17.4.2019 bei einem Kita-Ausflug in ein Regenrückhaltebecken gefallen. Er starb 12 Tage später an Hirnschäden. Die zufällig an diesem Tag anwesende Praktikantin wurde freigesprochen. Laut focus online vom 5.2.2020 haben die Eltern eine Geste des Bedauerns von den Betreuerinnen vermisst. Für das von ihnen geforderte Berufsverbot sah Richter Lüdtke die Bedingungen nicht gegeben.
Der Artikel auf Focus online endet mit den Worten „Ein Besuch auf der Intensivstation oder eine Kontaktaufnahme zu den Eltern sei ihnen aber verboten worden, hatte eine der Erzieherinnen erklärt“.
Wäre es wirklich ein Unrecht gewesen, wenn eine Erzieherin sich über das „Kontaktverbot“ hinweggesetzt und mit dem Einverständnis der Eltern und Ärzte den Jungen besucht hätte? Sobald eine enge Bindung zwischen einem Kind und einer Erzieherin entstanden ist, könnte es für das Kind besser sein, wenn es besucht wird.
Steilshoop, 29.4.2016: Nur wenig älter war der von den Medien Tom genannte Junge, als er mit eineinhalb Jahren während eines Ausfluges seiner Kita ebenfalls in ein Regenrückhaltebecken fiel. Er konnte reanimiert werden, schwebte längere Zeit in Lebensgefahr.
In den Medien wurde die Berichterstattung, vermutlich aus Rücksicht auf die Angehörigen, eingestellt. (Nachfrage bei der Unfallkasse wurde gestellt.)
Hoisdorf, 18.7.2016: Ein Zweijähriger ertrank in einem Teich, der mit Entengrütze bedeckt war. Nach mehrstündiger Suche wurde Mattis gefunden. 19 Kinder einer Hamburger Kita waren, begleitet von sieben Betreuern, zu einer Ferienfreizeit in ein Hoisdorfer Jugendheim gefahren. "Wir haben den Kindern bei einer Runde über das Gelände genau erklärt, wo Gefahrenstellen sind, was sie tun dürfen und was nicht", sagte ein 36 Jahre alter Erzieher im späteren Verfahren als Zeuge. Die Kinder waren zwischen einem (!) und sieben Jahren alt. Da Erklärungen von Kleinkindern aufgrund ihres Entwicklungsstandes weder verstanden, noch behalten werden: Wäre es nicht lebensklug gewesen, keine Kleinkinder mitzunehmen? Als juristisch relevant galten die Absprachen des Teams. Die Erzieherin, der die Verantwortung übertragen worden war, am Uferbereich Aufsicht zu führen, saß als einzige auf der Anklagebank. Sie fühlte sich gegenüber ihren Kollegen ungerecht behandelt.
„Die Recherchen bei den zuständigen Behörden hätten ergeben, dass dort trotz des nicht eingezäunten Teiches keine Einschränkungen für Kinderfreizeiten in dem Jugendheim gegeben habe“, sagte laut LN online vom 9.7.2019 ein inzwischen pensionierter Kriminalbeamter aus. Der Prozess gegen die 33-jährige Erzieherin wurde mit dem Einverständnis aller Beteiligten eingestellt. Das Gericht begründete seine Entscheidung mit der geringen Schuld der Angeklagten und dem geringen öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung.
Bad Bramstedt, 23.6.2016: Gemeinsam mit 15 Kindern unternahmen drei Erzieherinnen einen Ausflug in das Freibad Roland Oase. Dort soll sich der sechsjährige Sohn einer irakischen Flüchtlingsfamilie, der erst seit zehn Tagen in den Kindergarten ging, unbemerkt von der Gruppe entfernt haben. Wenig später entdeckten ihn zwei Jugendliche leblos im Wasser. Er konnte zwar reanimiert werden, starb aber am nächsten Tag in einer Hamburger Klinik. Laut der Staatsanwaltschaft haben die drei Erzieherinnen und zwei Bademeister ihre Aufsichtspflicht verletzt. Ein Urteil wurde seit dem Prozessbeginn im Januar 2020 noch nicht gefällt. Möglich wäre eine Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldauflage (Stand 12.2.2020). Nach Angaben der Eltern wussten sie nicht einmal, dass ihr Kind an dem Ausflug ins Freibad teilnehmen sollte. Niemand habe sie um Zustimmung gefragt. Sie kannten die Badehose nicht, die ihr Sohn Yad getragen hatte.
„Die tun hier alle so, als hätten wir unseren Schuh verloren und nicht unser Kind“
Werbellinsee, 6.6.2016: Die siebenjährige Erstklässlerin Elif-Fatma aus Neukölln ertrank während einer Klassenfahrt im Schwimmbad Werbellinsee. Drei Lehrerinnen und drei Erzieherinnen hatten laut der Presse mit 70, laut Angaben des Rechtsanwaltes mit 72 Kindern das Schwimmbad am Werbellinsee aufgesucht. Dort sollen zwei verantwortliche Lehrerinnen und zwei ebenso angeklagte Erzieherinnen nicht bemerkt haben, wie die Schülerin am Seil zwischen Schwimmer- und Nichtschwimmerbereich mit dem Kopf unter Wasser geriet und keine Luft mehr bekam.
Pädagogen wünschen und erwarten oftmals von muslimischen Eltern, dass sie ihre Kinder an Schulausflügen und Schwimmbadbesuchen teilnehmen lassen. Obwohl sie wie alle Eltern das Recht haben, ein Einverständnis zu verweigern, gab es nach dem Tod von Elif-Fatma im Netz Kritik von Rettungsschwimmern am Verhalten der Eltern, weil sie ihr Einverständnis zur Teilnahme erteilt haben, obwohl ihre Tochter noch nicht schwimmen konnte. Laut RTL. de erklärte jedoch die Rektorin, dass alle Kinder mit Badeerlaubnis trotzdem als Nichtschwimmer betrachtet wurden.
Am 16.6.2016 war das Schwimmbad gut besucht. Menschen, die es nicht gewohnt sind, Kinder im Wasser zu beaufsichtigen, dürften angesichts der vielen Lichtreflexe und des ungewohnten Geräuschpegels schnell überfordert gewesen sein. Früher hat man Lehrern in der Ausbildung davon abgeraten, mit Grundschülern in ein öffentliches Schwimmbad zu gehen. Auch haben Schulleiter nach Durchsicht der Planungen und Überprüfungen der Qualifikationen aufsichtspflichtiger Personen oftmals keine Genehmigung zum Besuch eines öffentlichen Schwimmbads erteilt. Es gibt Schwimmbäder, in denen hätten bereits die Angestellten an der Kasse verhindert, dass nur sechs Erwachsene mit einer derart großen Kindergruppe ein öffentliches Schwimmbad betreten.
Der Prozess zog sich aufgrund von Ermittlungspannen in die Länge. Erst spät erhielt das Gericht nach einer lange zurückgehaltenen Aussage der Rektorin der Grundschule die Gedächtnisprotokolle, die unmittelbar nach dem Unfall angefertigt worden waren. Für die Familie ist die lange Verfahrensdauer zusätzlich zum Verlust der Tochter sehr belastend. Laut RTL.de sagte Elif-Fatmas Vater bedrückt: "Der Prozess ist echt schwer für uns. Die tun hier alle so, als hätten wir unseren Schuh verloren und nicht unser Kind. Für meine Frau wäre eine Entschuldigung eine große Erleichterung gewesen."
Bis in den Mai 2020 soll der Prozess nach Gerichtsangaben dauern.
Bautzen, 13.4. 2017: Drei Erzieherinnen unternahmen mit 40 Kindern einen im Nachhinein umstrittenen Ausflug. Es ging zum Spielen in ein Birkenwäldchen bei Oehna. Das Wäldchen soll circa 200 Meter vom Stauvorbecken entfernt gewesen sein. Ein dreijähriges Mädchen und ein dreijähriger Junge wurden vermisst, als die Gruppe gegen elf Uhr zurücklaufen wollte. Gefunden wurden beide Kinder von einer 59jährigen Erzieherin. Der Junge stand aufgeregt am Ufer, das Mädchen trieb leblos im Wasser des Stausees, wurde von ihr herausgeholt und bis zum Eintreffen des Notarztes reanimiert. Der Zustand des Mädchens blieb für einige Zeit lebensbedrohlich. Es soll nicht mehr mit Folgeschäden zu rechnen sein.
Zum Zeitpunkt des Unfalls durfte in Sachsen eine Erzieherin für höchstens 12 Kindergartenkinder zuständig sein. Bis September des Vorjahres wären es 13 Kinder gewesen, also immer noch weniger Kinder, als tatsächlich am Ausflug teilnahmen. Laut sächsischem Kultusministerium wäre auf der einen Seite der Schlüssel auch bei Ausflügen einzuhalten, „weil der gesetzlich geregelte Personalschlüssel eine Mindestgröße darstellt“, andererseits sollen sich die Erzieherinnen laut Sprecherin Manja Kelch in einer „rechtlichen Grauzone“ befunden haben. Manja Kelch weiter: „Es gibt für Ausflüge keine eindeutige gesetzliche Grundlage.“
Kritik am Verhalten der Erzieherinnen gab es ebenso wie Kritik an der Kritik der Fachkräfte. Madeleine Arndt und Jana Ulbrich von der Sächsischen Zeitung schilderten eine Begegnung mit einem namentlich benannten Bautzener. Schon vor Jahren, als das Kind seiner damaligen Freundin in die Kita ging, seien die Ausflüge ein Thema gewesen. Seine Ex-Freundin hätte bemängelt, dass die Kitas aus dem Gesundbrunnen mit den Kindern nicht auf die Spielplätze gehen, sondern hierher in den Wald“, sagte er. „Aber es muss ja erst was passieren.“
Markus Gießler, (Referent des Oberbürgermeisters, Anm. von mir) der von Madeleine Arndt interviewt wurde, schlug andere Töne an (siehe Sächsische Zeitung.de vom 20.4.2017 „Besserer Personalschlüssel nötig“) Seine Lobpreisung der Erzieher - „Erzieher schaffen mit den aktuellen personellen und materiellen Voraussetzungen Heldenhaftes in einem Land, das sich mehr um die Wirtschaft kümmert“ wirken befremdlich. Es ist weit verbreitet, dass Erzieherinnen es gut meinen, wenn sie Grenzen überschreiten und sich mehr zumuten lassen, als nötig ist. Sie sollen – mit Rücksicht auf das Kindeswohl! - auf gar keinen Fall eine „Grauzone“ überschreiten. Ein Bewusstsein für den Sinn gesetzlicher Bestimmungen zur Einhaltung des Personalschlüssels lässt nur den Schluss zu, dass Kinder im öffentlichen Raum mit mehr und keineswegs mit weniger Personal als für den Aufenthalt in der Einrichtung gesetzlich vorgeschrieben ist, zu betreuen sind. Gegen die Erzieherinnen ergingen später Strafbefehle.
Markus Gießlers abschließendes Statement im Gespräch mit Madeleine Arndt, eine Woche nach dem Unfall: „Auf keinen Fall dürfen jetzt Verbote für Ausflüge an Gewässer oder generelle Verbote von Wanderungen oder Ähnlichem erlassen werden. Denn wie sollen die Kinder sonst ihre Umwelt kennenlernen? Dies ist auch Forderung des Bildungsplanes. Sicherlich ist es auch hilfreich, wenn Eltern in Ausflüge einbezogen werden können, aber Grundvoraussetzung sollte ein um mehrere Stellen verbesserter Betreuungsschlüssel sein.“
Sind Ausflüge die „heilige Kuh“ der frühkindlichen Bildung?
Soviel vorweg: Kühe werden in Indien verehrt und respektvoll behandelt und weil Kinder ebenfalls mit Achtung vor ihrem Leben und ihrer Lebendigkeit gut behandelt werden sollen, geht es selbstverständlich nicht darum, ihnen Ausflüge zu streichen. Allerdings darf über die Rahmenbedingungen, die ErzieherInnen nicht selten dazu zwingen, Ausflüge zu unternehmen, nicht mehr geschwiegen werden. Überforderte KrippenerzieherInnen ziehen Kinder im Krippenwagen durch Innenstädte, weil ihre Krippe gar kein Außengelände oder ein viel zu kleines für die Kinder hat. In manchen mehrgruppigen Kitas gehen sie quasi im Schichtdienst mit den Kindern auf „Entdeckungstour“, damit nicht alle Kinder gleichzeitig im knapp bemessenen Außengelände eingepfercht sind und sich die Anwohner über das „Geschrei“ beschweren. BerufsanfängerInnen, die sich noch sehr überfordert fühlen, müssen nicht selten auf unattraktiven Stellen – Krippen ohne Garten – Verantwortung für Kinder im öffentlichen Raum übernehmen, obwohl es ihnen und den Kindern in einem überschaubaren, kindgerechten Garten viel besser gefallen würde... Auch ErzieherInnen mit Tinnitus im Ohr, mit Knochenproblemen, mit erheblichem Übergewicht unternehmen oftmals nur notgedrungen und ungern diese Ausflüge, die im Stadtbild so putzig aussehen.
„Ausflüge sind extrem wichtig“...
Auch nach dem Tod von Devin in Schwäbisch Gmünd dauerte es nicht lange, bis in mehreren Tageszeitungen in Baden-Württemberg die Bedeutsamkeit von Ausflügen durch die Landesvorsitzende der GEW BW betont wurde. Bemerkenswert: Während sich ansonsten nach dem Unfalltod eines Kita-Kindes Gewerkschaftsvertreter nicht zu von PädagogInnen zu treffenden Entscheidungen geäußert haben, beantwortete Doro Moritz Fragen von Dominique Leibbrand auf eine Weise, die Eltern und ErzieherInnen fast als Bevormundung empfinden können (siehe hier).
Extrem wichtig sollen Ausflüge sein? - Sollen sie unbedingt gemacht werden und sollen Eltern am besten gleich bedenkenlos einverstanden sein? Bevor ich nach dem Tod des Jungen in Gmünd im Netz recherchiert habe, wusste ich nicht, dass es so viele „Treffer“ geben würde, die uns zeigen, wie schnell ein Unglück passieren kann. Deutlich wurde mit dieser ersten, noch unvollständigen Nennung von Kita-Unfällen aber auch, dass einige Unglücke mit einem soliden Problembewusstsein nicht passiert wären.
Fortsetzung folgt, denn es bleibt noch viel zu sagen und zu fragen. Erinnern wir uns an „die Heldin vom Osterwald“? Nachdem ein Dreijähriger auf einem Waldtag in einen Schacht gefallen ist, sprang seine Erzieherin ohne zu zögern hinterher. Im kalten Wasser konnte sie das Kind wärmen und vor dem Ertrinken bewahren. Anderthalb Stunden dauerte die komplizierte Rettungsaktion aus dem engen, 25 Meter tiefen Schacht an.
Wo wurden eigentlich sonst noch Kinder von ErzieherInnen gerettet? Längst nicht alles gelangt in der Presse. Wir sollten eigentlich viel öfter erfahren, wie Kinder – auch in unspektakulären Situationen „Glück im Unglück“ gehabt haben. Bestimmt sind schon ErzieherInnen unmittelbar nachdem ein Kind in einen Teich oder Bach geplumpst ist, hinterher gesprungen. Auch das Glück, das manche Kinder – und wir ebenso - gehabt haben, zeigt uns, dass es sich lohnt, immer wieder zu überdenken, was wir tun und was wir besser bleiben lassen wollen.
Es ist nämlich extrem wichtig, dass auf Kindergartenkinder – und erst recht auf die Jüngsten, die Gefahren wirklich noch nicht einschätzen können – sehr gut aufgepasst wird.
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