Familie

Beziehung statt Erziehung – was Kinder heute brauchen

Annette Sperling

12.05.2025 | Fachbeitrag Kommentare (1)

Jahrhundertelang galt in der Kindererziehung überwiegend ein klarer Ton: Gehorsam, Disziplin und Regeln standen im Mittelpunkt. Ein angepasstes Kind war ein gut erzogenes Kind. Die Erwachsenen bestimmten, die Kinder folgten. 

Doch die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie der letzten Jahre und Jahrzehnte zeigen: Kinder brauchen nicht primär Anleitung, sondern Beziehung. „Beziehung statt Erziehung“ ist kein pädagogischer Trend, sondern Wandel unserer Grundhaltung gegenüber Kindern.

Warum Beziehung wichtiger ist als Erziehung

Erziehung im klassischen Sinne geht von einem Ungleichgewicht aus: Erwachsene wissen, was richtig ist, Kinder müssen es lernen – oft durch Lob, Strafe oder Kontrolle. Beziehung hingegen meint ein Miteinander auf Augenhöhe. Das Kind wird als eigenständige, gleichwürdige Person anerkannt.
Kinder lernen am besten, wenn sie sich sicher, gesehen und zugehörig fühlen. Studien belegen, dass ein stabiles, vertrauensvolles Beziehungsumfeld die wichtigste Grundlage für emotionale, soziale und kognitive Entwicklung ist. Es geht nicht darum, Kinder zu formen, sondern sie in ihrer Entwicklung zu begleiten.

Was Kinder heute brauchen – vier zentrale Bedürfnisse

  1. Bindung und Resonanz
    Kinder brauchen sichere Bindungen zu ihren Bezugspersonen. Sie brauchen Menschen, die verlässlich ansprechbar sind, empathisch zuhören und emotionale Nähe bieten. Bindungssicherheit entsteht durch wiederholte Erfahrungen von Trost, Verständnis und Fürsorge. Wenn Kinder etwas sagen, brauchen sie eine Antwort – nicht nur in Worten, sondern im Mitfühlen. Diese Resonanz zeigt ihnen: „Ich werde gehört, ich mache einen Unterschied.“ 
  2. Authentizität
    Kinder haben feine Antennen für die innere Verfassung ihrer erwachsenen Bezugspersonen. Nur wer echt ist – in Freude, Unsicherheit, Ärger – wirkt vertrauenswürdig. Beziehung statt Erziehung heißt auch: sich als Mensch zeigen statt einfach zu funktionieren.
  3. Orientierung 
    Kinder brauchen Orientierung – aber keine ständige Korrektur. Beziehungsvoll Orientierung geben bedeutet, einen altersgerechten Rahmen zu setzen, ohne zu dominieren und zu kontrollieren. Die Erwachsenen übernehmen Verantwortung für die Beziehung und das Miteinander. Je stärker die Beziehung, desto eher orientieren sich Kinder an den Werten und dem Verhalten ihrer Bezugspersonen. Wichtige Bezugspersonen sind Leuchttürme ihrer Kinder.
  4. Entwicklung
    Kinder wachsen nicht auf Zuruf. Ihre Entwicklung folgt einem inneren Rhythmus, der durch Beziehung gefördert, aber nicht erzwungen werden kann. Wer Kinder ständig korrigiert oder „formen“ will, hemmt oft ihre Eigenmotivation und ihr Selbstvertrauen. Bedürfnisorientierung bedeutet hier: begleiten statt steuern, beobachten statt eingreifen. Und es braucht vor allem eines: Gelassenheit und das Vertrauen, dass sich das Kind in seinem Tempo entfaltet, wenn es sich sicher und angenommen fühlt. Diese Haltung entlastet alle.

So sieht das in der Praxis aus:

  • Weniger erziehen – mehr zuhören. Statt zu erklären, was „nicht geht“, fragen: „Was brauchst du gerade?“
  • Weniger korrigieren – mehr begleiten. Statt zu schimpfen, wie ein Kind mit seinem Bruder umgeht, kann man fragen: „Was ist gerade schwierig für dich?“
  • Weniger machen – mehr sein. Kinder brauchen kein perfektes Elternhaus, sondern echte Menschen, die mit ihnen im Kontakt sind.

Grenzen bleiben wichtig. Grenzen setzen heißt nicht, das Kind zu kontrollieren. Grenzen setzen bedeutet, sich selbst mit den eigenen Werten und Bedürfnissen klar zu zeigen. Nähe und Klarheit auszuhalten, auch wenn es schwierig wird. Ein „Nein“, aus Liebe ausgesprochen wird so zu einem „Ja“ zur Beziehung.

Herausforderungen auf dem Weg

Wer auf Beziehung setzt, wird sich manchmal verunsichert fühlen. Es gibt keine Rezepte, keine schnellen Lösungen. Eigene Kindheitserfahrungen können im Weg stehen und wer selbst wenig Beziehung erlebt hat, braucht Mut und Unterstützung, um alte Muster zu verlassen.

Die Rolle der Großeltern

Gerade Großeltern stehen heute vor einer neuen Aufgabe: Wir sind nicht mehr (nur) Autorität oder Helfer, sondern Beziehungspartner:innen auf Augenhöhe – mit den Enkeln und mit den eigenen Kindern. Wenn Großeltern sich für einen beziehungsorientierten Weg öffnen, können sie Brücken bauen: zwischen Generationen, zwischen pädagogischen Welten, zwischen alten Mustern und neuen Haltungen.
Wenn Großeltern zuhören statt zu urteilen und Beziehung anbieten statt Ratschläge zu erteilen, können sie eine Brücke zwischen den Generationen bauen, die von Vertrauen, Verständnis und echter Verbundenheit getragen wird.

Fazit: Beziehung ist kein Ziel – sie ist der Weg

„Beziehung statt Erziehung“ ist keine Methode, sondern eine Haltung. Sie beginnt mit der Entscheidung, Kinder gleichwürdig und liebevoll zu begleiten. 

Kinder brauchen heute das, was Menschen immer gebraucht haben: Gesehen werden, gehört werden, ernst genommen werden. Wenn Erwachsene bereit sind, uns auf echte Beziehung einzulassen, können sie ihnen das geben – und gleichzeitig selbst wachsen.

Weiterführende Literatur:
Juul, Jesper: Aus Erziehung wird Beziehung: Impulse für eine neue Eltern-Kind-Kultur. 11. Aufl. Weinheim und Basel: Beltz, 2020.

Imlau, Nora: Bindung ohne Burnout: Wie liebevolle Erziehung gelingt und Eltern dabei nicht ausbrennen. München: Kösel-Verlag, 2020.

Grimm, Nina C.: Hätte, müsste, sollte: Bedürfnisorientierung im Familienalltag wirklich leben. München: Kösel-Verlag, 2023.

Autorin:

Annette Sperling
Familienberaterin, Großelternberaterin, Musik- und Waldpädagogin
Fortbildungen, Seminare, Vorträge
mail@annettesperling
www.grosselternberatung.de

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Kommentare (1)

Armin Krenz, Hon.Prof. (a.D.) Dr. et Prof. h.c. 02 Juni 2025, 09:27

Dieser kleine Artikel bringt einen ganz wesentlichen Aspekt auf den Punkt - nämlich, dass Erwachsene, Eltern ebenso wie professionelle EntwicklungsbegleiterInnen (ein notwendiger Alternativbegriff für 'ErzieherInnen') verstehen, dass nur eine den Kindern angebotene Beziehungsqualität einen Bindungswunsch aufseiten der Kinder bewirkt, der wiederum die Selbstbildungsmotivation in Kindern aktiviert. Diese wissenschaftlich fundierten Grundlagen (dokumentiert durch neurobiologische, bildungs- und bindungswissenschaftliche sowie entwicklungspsychologische Untersuchungen) liegen uns schon lange vor (z.B. Krenz, A et Klein, F.: Bildung durch Bindung. Göttingen 2012)! Gleichzeitig bedarf es einer radikalen Änderung der HALTUNG, also der Sichtweise und dem fachlichen Verständnis von Bildung (vgl.: Krenz, A.: Pädagogische Haltung entwickeln und leben. München 2025). So ist der Autorin dieses Fachbeitrages zu danken, erneut und klar auf diese Aspekte hinzuweisen.

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