Kind mit Büchern

Ein Tiger im Zug: Ein Bilderbuch von Mariesa Dulak und Rebecca Cobb

Vorgestellt für Kitafachkräfte und Praktikant:innen

Angelika Mauel

11.11.2024 Kommentare (0)

So viel Zeit muss sein

Bei Jumbo ist ein erfrischend kindgerechtes und längst überfälliges Bilderbuch erschienen. Beim ersten Durchblättern stellen wir fest, dass auf fast jeder Doppelseite ein Smartphone zu sehen ist. Seinetwegen hat ein Vater keine Augen für sein Kind. Er bekommt nicht mit, was es erlebt und empfindet. Doch nach einer phantasievollen Reise mit einem Tiger und vielen anderen vermenschlichten Tieren finden Vater und Sohn wirklich zusammen. Kinder und Erwachsene können der Geschichte entnehmen, wie wichtig Aufmerksamkeit ist. Sie bereichert unser Leben, wenn wir selbst aufmerksam sind und sie macht uns glücklich, wenn wir die liebevolle Aufmerksamkeit geschenkt bekommen, nach der wir uns sehnen.

Für Erzieher:innen, die aus hinlänglich bekannten Gründen oftmals zu wenig Zeit für Kinder und manchmal kaum noch welche zum Vorlesen haben, drei kurze Empfehlungen vorab: Bitte „Ein Tiger im Zug“ anschaffen für Kindergartenkinder ab drei, auf eine Empfehlungsliste für die Eltern setzen und auch Praktikant:innen auf diese Neuerscheinung aus 2024 hinweisen! Mariesa Dulak als Autorin und Rebecca Cobb als Illustratorin haben es geschafft, eine Kinder betreffende weitverbreitete Unsitte ideologiefrei und manchmal sogar urkomisch nahezubringen. Ein Kind als Ich-Erzähler gibt die Perspektive vor. Unser Fachwissen, Intuition und Erinnerungen an kindliche Phantasien während der magischen oder mystischen Phase werden durch detailreiche, aussagestarke Bilder einer erträumten Zugreise herausgefordert. Fachschüler:innen bietet das Buch für den Bereich Kinderliteratur die Chance, sich mit einer kindgerechten Geschichte auf eine praktische Prüfung vorzubereiten – oder aber losgelöst von Projekten und zu planenden Reihen einfach mit den Kindern Spaß zu haben!

Da Text und Illustrationen des Buchs sinnvoll aufeinander abgestimmt sind, dürften auch Kinder ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen von einem Vorlesen in gemütlicher Atmosphäre und dem Eintauchen in die Szenen profitieren. Keine Seite enthält unnötigen Text. Ein Mix aus jüngeren Kindern noch nicht vertrauten Nomen, Adjektiven, Adverbien und auch mal eine Redewendung erweitern den Wortschatz beiläufig und animieren dazu, aufmerksam zuzuhören. Wie auch in anderen Bilderbüchern üblich, variiert die Schrift. Was von Vorlesenden stärker betont oder lauter gelesen werden kann, wird in unterschiedlich großem Fettdruck präsentiert. Unartikulierte, lautmalerische Töne wurden in weichen Rundungen vor den Tiermündern zum Vorlesen oder Lesen eingefügt. Ein bisschen schauspielerischer Einsatz beim Vorlesen steigert die Spannung und ermutigt Kinder sich selbst mit dem Nachahmen von Geräuschen einzubringen. Jüngere übernehmen dies gern gemeinsam mit älteren Kindern. Insgesamt eignet sich diese abwechslungsreiche Geschichte deshalb sehr gut für das Vorlesen in einer Familie mit mehreren Kindern und auch für eine altersgemischte Kindergartengruppe.

Nach dem ersten Eindruck beginnt unsere gedankliche Vorbereitung

Um ein Bilderbuch neu einzuführen, ist es nicht nur für Vorlesepaten und Berufsanfänger sinnvoll, das Buch einmal vor seinem ersten Einsatz vor Kindern laut zu lesen - oder zumindest so langsam als würde man es Kindern vorlesen. Was mag diese Geschichte beim ersten Hören und Ansehen in Kindern auslösen? Welche Fragen könnten von ihnen kommen, welche könnten wir ihnen stellen? Und nicht minder wichtig: Was werden Mädchen und Jungen von sich oder den ihnen nahestehenden Menschen erzählen wollen, weil sie etwas loswerden müssen? Was liegt Kindern auf der Seele, wenn die Erwachsenen um sie herum zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit für sie übrig haben?

Wiederholt hinschauen: Was ist zu sehen? Was könnte es bedeuten?

Auf dem Cover sieht man einen großen Tiger mit schwarzem Zylinder und einen kleinen Jungen in Shorts, T-Shirt und Turnschuhen. Im Vergleich zum Vater fällt sein erheblich dunklerer Teint auf. Er hat rote Apfelbäckchen und eine knallroten Kappe auf dem Kopf. Es folgen Bilder eines nostalgisch wirkenden Bahnhofs, der Junge und sein Vater mit dem allgegenwärtigen Smartphone auf einer Wartebank.

Nachdem der Zug eingefahren ist, erfolgt ein markanter Perspektivwechsel: „Du errätst nie, was bei unserem Ausflug ans Meer passiert ist...“ Allein das Kind an der Hand seines Vaters ist vollständig abgebildet, umgeben von Beinen, die alle der offenen Waggontür zustreben. Die Kinder erkennen, dass es um dieses Kind in der Geschichte geht. Diverse Füße Erwachsener stecken in verschiedenartigen Sandalen oder Halbschuhen. Ein paar dunkle Stiefel irritieren angesichts von Shorts, Sandalen und einer Strandmatte, die auf eine Reise zu einem Gewässer mit Strand hindeuten. Eine Schrittlänge hinter den Stiefeln, am äußersten linken Bildrand dann ein erster Anblick der Streifen eines Tigers. Nur eine breite Vorderpfote und ein Stück Bein sind zu sehen. - Oder aber so dicht am Bildrand auch zu übersehen! Es versteht sich von selbst, dass Kinder auf dem Vorlesesofa nicht jedes Detail beim ersten Anschauen entdecken können. Gerade bei gehaltvolleren Bilderbüchern fällt manches ohnehin erst später auf.

Auffallen könnte den Kindern, dass hinter dem Jungen schokoladenbraune Füße in gelben Sandalen und die unbekleideten Unterarme einer zierlichen dunkelhäutigen Frau zu sehen sind. Ein spontaner Gedanke, der auch Kindern kommen kann: Könnte die Mutter des Jungen auch mitfahren? - Kinder von Eltern, die sich getrennt haben, reagieren manchmal sensibel auf Szenen, die sie an ihre familiäre Situation erinnern. Aber auch unabhängig von einem uns bekannten Anlass können Kinder bei einer Bilderbuchbetrachtung (vor allem bei einer Einführung eines neuen Buchs) den Wunsch verspüren, spontan einen Kommentar abzugeben oder eine Frage zu stellen. Oder jemand möchte unbedingt zurückblättern, während andere Kinder schon „weiter!“ fordern. -  Unsere Flexibilität ist gefragt und je besser wir die Geschichte kennen, um so leichter ist es souverän zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Straff nach einem Plan dem Ende der Geschichte zuzustreben kann nicht unser Ziel sein. Ein Vorteil der natürlichen Kommunikation gegenüber einer Sprach-App ist, dass wir begründet jederzeit von einer Planung abweichen können. Egal ob es plötzlich blitzt und donnert oder ein Wackelzahn ausgefallen ist – wir können wir uns immer dazu entscheiden, auch „nur“ dem Anliegen eines einzelnen Kindes aufmerksam zuzuhören und andere Kinder dabei einzubeziehen.

Rebecca Cobb bevölkert den Zug mit zahlreichen comicartig gemalten Tieren. Ausnahmslos alle haben rosa Apfelbäckchen wie der Vater. Rosa – eine zarte Farbe, die besänftigend wirkt. So kommt weder beim Anblick des Raubtiers Tiger, noch bei den Krokodilen, den Nilpferden, den verkleideten Mopsdamen oder dem Mutterschwein mit seinen Ferkeln die Angst auf, diese Tiere könnten beißen, zwicken, kratzen oder gar jemanden töten. Als der Vater einmal Richtung Tiger blickt, sind von diesem aus seiner Perspektive nur ein Stück des Zylinders und eine seiner Vorderpfoten zu sehen, mit der er einen Comic hält. Und obwohl der Tiger selbst gar nicht kämpferisch wirkt, hält er ein Titelblatt vor sich, auf dem ein ihm ähnlich sehender „Batman“ oder „Zorro“ zu sehen ist. Alle sechs Krokodile scheinen freundlich mit ihren strahlend weißen Zähnen zu lächeln. Zwei tragen breite Schwimmreifen, die an ihnen fast wie Reifröcke aussehen. Ein weiteres trägt Schwimmflügel an seinen kräftigen Oberarmen und wirkt damit ein bisschen wie ein halbstarker Muskelprotz.

Was Genderfragen angeht, lässt Rebecca Cobb Humor und Lässigkeit erkennen. Die Muttersau lässt ihre quirligen Ferkel im Zug machen, was sie wollen und fängt schnell zu schlafen an. Ist es der Powernap einer überforderten, alleinerziehenden Mutter? Eine der beiden mit breiten Hüten und langen Rüschenkleidern aufgebrezelten „Mopsdamen“ schafft es nicht, mit ihren Stöckelschuhen ladylike und sicher zu gehen. Ob die kleinen Hunde dafür stehen sollen, dass auch Travestie zum Leben gehört und Anderssein in Ordnung ist? - Positiv fällt auf, dass auf der Phantasiereise kein Unfrieden zwischen den Tieren herrscht. Tee und Bonbons werden angeboten. Es wird gemeinsam mit Karten gespielt. Von allen Tieren wird der Junge gesehen.  

Doch von allem, was der Junge sieht und woran er Anteil nimmt, bekommt der Vater nichts mit. Seine Sitzposition ändert sich zwar einige Male, aber seine Augen sind – bis auf einen angenommenen Telefonanruf – immerzu auf das Smartphone gerichtet. Würde ein Vater sehen können, was dieses Bilderbuchkind sieht, würde er sein Kind beschützen und mit ihm flüchten wollen – oder er würde angstfrei einige Photos und Selfies machen. Aber der Vater lebt wie in einer eigenen Blase, abgeschottet von allem Lebendigen um ihn herum. - Kein Wunder, dass er als einziger die kleine Maus nicht sieht, die gegen Ende der Reise durchs Abteil gehuscht kommt. Während die großen Krokodile ihre Arme wie um Hilfe rufend hoch werfen, wodurch die Karten ihres Spiels durch die Luft fliegen, kniet der Junge mit ausgestreckten Armen auf dem Boden. Es sieht aus, als ob er die Maus, vor der einige Tiere sich offensichtlich verstecken wollen, umarmen und beschützen möchte. Die kleine Maus wurde übrigens als einziges Tier nicht vermenschlicht. Auf der Folgeseite sieht man den Tiger – symbolträchtig – über den Kopf des Vaters hinweg brüllen. Ein Reigen aus tiefschwarzen, fett gedruckten Großbuchstaben - Roarrrrrr - kommt aus seinem mit markanten Reißzähnen ausgestatteten Maul. Es stellt sich die Frage, ob der lange hinter dem Comic verborgen lesende Tiger auch Angst vor der Maus bekommen hat oder nur sehr laut gegähnt hat. Anders als in einem Comic werden die Emotionen der Tiere nicht überdeutlich dargestellt. Kinder können etwas in sie hineinlesen.

Alle außer dem telefonierenden Vater erstarren. Dann entfährt dem Mutterschwein mit der Herzchensonnenbrille ein lautes „Hatschiiiii!". Ein weiteres Ereignis folgt: Endstation. Alle (fast alle) Tiere stürzen aus dem Zug! Nur der Vater schaut unverdrossen weiter auf sein Smartphone, während sein Sohn zur Gepäckablage empor blickt. Dort liegt der Tiger und lässt eine Pfote runter baumeln. Auf der nächsten Seite dann befördert er sich das Smartphone des Vaters ins Maul und rast mit dem lächelnden Jungen auf seinem Rücken davon. Ein langgestreckter Sprung zeigt, dass der Vater keine Chance hat, den Tiger einzuholen. Die Frage dazu ist: Will er das überhaupt? Geht es darum einen Tiger einzuholen oder das eigene Kind zurück zu bekommen? Die Seite, auf der der Vater hinter seinem auf dem Tiger reitenden Kind, her rennt, lädt zu Gesprächen mit den Kindern ein. Wie stellen sie sich den Fortgang der Geschichte vor? Was würde ein Vater jetzt ihrer Meinung nach tun? Und was mag im Tiger und dem kleinen Jungen vorgehen? - Eine Stelle, an der Vorlesende gut eine kleine Nachdenkpause einlegen und dadurch die Spannung noch etwas erhöhen können. Die persönlichen Stellungnahmen der Kinder sind gefragt.  Ihr Ideenreichtum kann selbst erfahrene Erzieherinnen noch überraschen und gibt Aufschluss über vieles. Temperamentvolle ältere Kinder, die Zeichentrickfilme mögen, könnten daran denken, den Tiger mit einem Lasso einzufangen oder ihm in den Po oder ein Hinterbein zu schießen. Auch gewaltfreie Lösungen dürften genannt werden. Lauter nach dem Tiger rufen und ihm eine Belohnung versprechen. Ob darüber jedoch etwas auffällt, ist nicht sicher. Wir kennen den Namen des Kindes noch gar nicht. Könnte es sein, dass der Kosename oder Spitzname des Jungen „Tiger“ ist? Manchmal bezeichen sich Kinder selbst als Tiger. - Manchmal wollen Kinder ein starker, mächtiger Tiger sein.

„Hey, Tiger... warte auf MICH!“

Der Junge reitet sichtlich gern auf dem Tiger. Es sieht nicht so aus, als ob er freiwillig abspringen wolle. Das wäre bei dem Tempo auch gefährlich. Und wozu auch? Dieser weglaufende Tiger ist doch gar nicht wirklich gefährlich, sondern sein mit Hilfe der Phantasie geschaffenes Schutztier.

Gut, dass er mit einem Haps das Handy verschluckt hat“, mögen Kinder denken. Aber auch: „Das darf man nicht“. Sobald die Kinder anfangen ausgiebig darüber zu berichten, wie oft Geschwister oder Eltern immer nur auf das Smartphone sehen – oder „glotzen“, wird es lebhaft. Und es ist klar, dass alles was Kinder loswerden, erleben, genießen oder überwinden möchten, nicht nur an einem Tag wie eine Rechenaufgabe erfasst und bearbeitet werden kann. Die Kinder werden das Buch öfter vorgelesen bekommen wollen. Und wir sollten ihnen alle erdenkliche Zeit lassen, nur das zu sehen und zu verstehen, was für sie gerade bedeutsam und wichtig ist.

Auf der vorletzten Doppelseite sieht man, dass alle am Strand angekommen sind und es genießen. Vater und Sohn kugeln sich gut gelaunt über den Strand. Sogar die Maus ist wieder dabei. Langgestreckt wie der Tiger zuvor flitzt sie davon. - Was Große können, können Kleine auch. - Oder hat sich die Maus vielleicht erschrocken, weil aus dem Bauch des Tigers mehrmaliges „Klingeling“ zu hören war? Ohne die aufgemalten Worte könnte man dem Tiger nicht ansehen, dass es in seinem Bauch klingelt. Eine witzige Idee, die Kindern ebenso gefällt wie das Happy End.

Vater und Sohn spielten bis zum Abendrot. Auf dem Rückweg laufen beide barfuß Hand in Hand den Strand entlang und der Junge weiß, warum der Tag am Meer ihn überglücklich gemacht hat. „Weil Papa endlich wieder bei mir war.“ Auf der Rückfahrt kuschelt er sich an seinen Vater, der einen Arm um ihn gelegt hat. Dessen Smartphone lugt aus der Hosentasche hervor. Unter den beiden liegt zusammengerollt die kleine Maus und schläft. Und obwohl der Vater jetzt eine Hand frei hätte, um wieder auf sein Smartphone zu sehen, tut er es nicht. Mit einem Handy in der Hand kann man schließlich nicht richtig kuscheln. Aber mit geschlossenen Augen und einem Lächeln!

Ein harmonischer Schluss, der mit seinem Happy End als Gute-Nacht-Geschichte für einen harmonischen Tagesausklang sorgen kann. Sogar die kleine Maus liegt zusammengekuschelt unter der Bank und rundet das friedliche Bild ab. Warum haben eigentlich manche Menschen Angst vor einer Maus und andere nicht? Der Junge hat die Maus offensichtlich lieb gehabt. Deshalb hatte er keine Angst vor ihr. Und diese kleine Maus muss gemerkt haben, dass der aus ihrer Sicht große Junge sie so mag, wie sie ist. Deshalb will sie bei ihm sein. Sie muss nichts für ihn tun, damit er sie mag. - Es geht nicht allein um Aufmerksamkeit, sondern um noch etwas mehr: Um bedingungslose Liebe.

Link zur Buchhandlung Lehmann 

Ihre Meinung ist gefragt!

Kommentar schreiben




Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.


Bitte schreiben Sie freundlich und sachlich. Ihr Kommentar wird erst nach redaktioneller Prüfung freigeschaltet.





Ihre Angaben werden nicht an Dritte weitergegeben. Weitere Hinweise zum Datenschutz finden Sie im Impressum.