Bindung und Trennungsangst im Übergang von der Familie in die Kita
Auch wenn das Bild vom Kind heute die vielfältigen Kompetenzen, die Kinder von Geburt an mitbringen, und die beachtliche eigene Aktivität ihrer Bildungsentwicklung in den Vordergrund stellt, so sind Kinder gerade in den ersten Lebensjahren gleichzeitig auch sehr verletzbar und völlig von der liebevollen, beständigen Pflege und Versorgung durch vertraute Bezugspersonen abhängig (Becker-Stoll et al. 2014).
Grundbedürfnisse nach Bindung, Kompetenzerleben und Autonomie
Seit den Untersuchungen von René Spitz (1945) zum Hospitalismus wissen wir, dass die Befriedigung der physischen Grundbedürfnisse (Hunger, Durst, körperliche Hygiene, Schutz vor Kälte oder Hitze) nicht ausreicht, um eine gesunde Entwicklung von Kindern zu gewährleisten. Voraussetzung hierfür ist vielmehr eine angemessene Befriedigung der psychischen Grundbedürfnisse. Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder sind ganz auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse durch ihre soziale Umwelt angewiesen. Nach den beiden Motivationsforschern Deci und Ryan (1995) unterscheiden wir dabei die drei psychischen Grundbedürfnisse Bindung, Kompetenzerleben und Autonomieerleben. Im weiteren Entwicklungsverlauf geht es bei der Befriedigung des Bindungsbedürfnisses um das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit oder menschlicher Nähe. Nur wenn die Grundbedürfnisse nach Bindung, Kompetenz und Autonomie ausreichend und entwicklungsangemessen befriedigt werden, kann sich das Kind aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzen und die alterstypischen Entwicklungsaufgaben gut bewältigen.
Das Grundbedürfnis nach Bindung steht für das Bedürfnis, enge zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, sich sicher gebunden zu fühlen und sich als liebesfähig und liebenswert zu erleben. Dem Grundbedürfnis nach Kompetenz liegt der Wunsch nach einer effektiven Interaktion mit der Umwelt zugrunde, durch die positive Ergebnisse erzielt und negative verhindert werden können. Autonomie steht für das Grundbedürfnis nach freier Bestimmung des eigenen Handelns und selbstbestimmter Interaktion mit der Umwelt (Deci & Ryan 1992). Der Mensch hat die angeborene motivationale Tendenz, sich mit anderen Personen in einer sozialen Umwelt verbunden zu fühlen, in dieser Umwelt effektiv zu wirken und sich dabei persönlich als autonom und initiativ zu erfahren.
In den ersten Lebensjahren sind Kinder darauf angewiesen, dass auch ihre psychischen Grundbedürfnisse von ihrer unmittelbaren sozialen Umwelt befriedigt werden. Das Grundbedürfnis nach Bindung wird zunächst von den Eltern beantwortet. Hierbei sind wiederum drei Aspekte grundlegend: elterliches Engagement, Struktur und Unterstützung von Autonomie. Elterliches Engagement steht für eine Beziehung zum Kind, die von Freude und Interesse am Kind geprägt ist, in der Gefühle offen ausgedrückt werden können und die Bezugsperson emotional und zeitlich verfügbar ist. Fehlendes elterliches Engagement reicht dagegen von mangelnder Feinfühligkeit bis zu Vernachlässigung und Misshandlung. Struktur wiederum ist notwendig, um die Kompetenz eines Kindes zu fördern. Sie umfasst an den Entwicklungsstand angepasste Herausforderungen, aber auch Hilfestellung beim Erwerb von neuen Strategien. Das Gegenteil von Struktur – Chaos – ist charakterisiert von Unvorhersagbarkeit, Über- oder Unterstimulation, einem Mangel an Kontrolle und Unterstützung beim Erreichen von Zielen (Skinner & Wellborn 1994).
Autonomie unterstützendes Verhalten beinhaltet die Gewährung von Freiheit und Wahlmöglichkeiten bei einem Minimum an Regeln, so dass eigene Ziele erkannt und verfolgt werden können. Autonomie wird auch als Entwicklungsschritt verstanden, als Übergang zu selbst reguliertem Verhalten (Deci & Ryan 1995), der jedoch nicht unabhängig von der Umwelt geschehen kann und somit sehr beeinflussbar ist. Die Unterstützung von Autonomie ist demnach ein wichtiger Punkt im Verhalten von Bezugspersonen (Rya, Deci, Grolnick 1995). Die Hemmung von Autonomiebestrebungen kann durch übermäßige Kontrolle, Manipulation oder Strafen geschehen.
Folgt man der Bindungstheorie, ist für die genannten Prozesse zunächst der Aufbau einer sicheren Eltern-Kind-Bindung die Grundvoraussetzung, um im weiteren Entwicklungsverlauf Kompetenz- und Autonomiebestrebungen optimal beantworten und fördern zu können.
Entwicklung von Bindungsbeziehungen
Die Bindungsbeziehungen bilden sich im ersten Lebensjahr aufgrund der Erfahrungen aus, die ein Kind mit seinen engen und konstanten Bindungspersonen macht. Das Ausmaß, in dem die Bindungsperson auf die Bedürfnisse eines Kindes eingeht, wird dabei durch ihre Feinfühligkeit bestimmt (Ainsworth et al. 1978; Grossmann et al. 1985). Die Feinfühligkeit ist die Fähigkeit und Bereitwilligkeit der Betreuungsperson, die Signale und das Verhalten des Säuglings wahrzunehmen und richtig zu deuten sowie prompt und angemessen darauf zu reagieren. Erfährt ein Kind feinfühlige Reaktionen, vor allem in den Situationen, in denen sein Bindungssystem aktiviert ist, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit eine sichere Bindungsorganisation gegenüber der feinfühligen Bindungsperson entwickeln. Im Kontakt mit wenig feinfühligen oder sehr inkonsistent reagierenden Bindungspersonen werden als Folge im Verhalten des Kindes gegenüber dieser Bindungsperson unsichere Bindungsstrategien beobachtet. Ein unsicheres Bindungsverhaltensmuster ist also Ausdruck der Anpassung des Kindes an die Reaktionen der Bindungsperson auf seine Bindungs- und Explorationsbedürfnisse. Demnach ist das gezeigte Bindungsverhaltensmuster keine Eigenschaft des Kindes, sondern zeigt vielmehr, ob das Kind diese Bindungsperson als sichere Basis nutzen kann, um durch Nähe und Körperkontakt seine negativen Emotionen zu regulieren oder nicht (Grossmann, Grossmann, Waters 2005).
Zunächst entwickeln die meisten Kinder eine erste Bindungsbeziehung zu der Person, die sich am meisten um sie kümmert, also am häufigsten und intensivsten mit ihnen interagiert. Diese primäre Bindung wird in drei Phasen innerhalb der ersten neun Monate vom Kind aus entwickelt, bevor dann weitere Bindungsbeziehungen folgen. Die Bindungsentwicklung erstreckt sich insgesamt über vier Phasen, die sich teilweise überlappen und fließende Übergänge aufweisen (Ainsworth 1964/2003):
Erste Phase der „vorbereitenden Anhänglichkeit“ (0-3 Monate):Das Baby zeigt Orientierung und Signale ohne Unterscheidung der Person und unterschiedslose Ansprechbarkeit auf alle Personen.
Zweite Phase der „entstehenden Bindung“ (3-6 Monate): Das Baby zeigt Orientierung und Signale, die sich auf eine oder mehrere besondere Person(en) richten, und differenzierende Ansprechbarkeit auf die primäre Bezugsperson, meist die Mutter, wobei die Ansprechbarkeit auf andere Personen fortbesteht.
Dritte Phase der „ausgeprägten Bindung“ (6-12 Monate): Das Baby versucht, die Nähe zu bestimmten Personen durch Fortbewegung, Signale und Kommunikation aufrechtzuerhalten. Es zeigt jetzt eine klar definierte Bindung an die primäre Bezugsperson mit auffallender Verminderung der Freundlichkeit gegenüber anderen Personen. Schon während der dritten Phase (8-12 Monate) können Bindungen an eine oder mehrere bekannte Personen über die Mutter hinaus beobachtet werden. Babys, die an die Pflege durch eine andere Person als die Mutter gewöhnt sind, verlieren die Toleranz gegenüber einer solchen Pflege nie vollständig, obwohl sie vielleicht anfänglich gegen den Weggang der Mutter protestieren. Sehr kurz, nachdem das Baby eine klare Bindung an die Mutter erkennen lässt, beginnt es vor allem durch Grußreaktionen eine Bindung an andere Personen, oftmals an den Vater, zu zeigen. Nachdem Unterscheidungsfähigkeit und Bindung an andere Personen als die Mutter oder eine andere primäre Bindungsperson auftreten, äußern manche Babys Angst vor Fremden. Das bedeutet, dass nun das Kind klar unterscheidet, welche Personen als ihm zugehörig akzeptiert werden und welche nicht – ein sinnvoller Mechanismus, um sich zu schützen. Wenn nun neue Personen (z. B. Erzieherinnen) als Bezugs- oder gar Bindungspersonen eingeführt werden sollen, muss dies vor allem in der Phase des Fremdelns behutsam und gut geplant vorgenommen werden.
Vierte Phase der „zielkorrigierten Partnerschaft“ (12-36 Monate): In dieser Phase entwickelt das Kind die Fähigkeit, Ziele und Pläne einer anderen Person zu verstehen und von den eigenen zu unterscheiden. Von nun an sind Kinder in der Lage, ihre Bindungsbedürfnisse mit ihren Bindungspartnern zu verhandeln. Das Kind versucht, Pläne und Absichten der Partner durch „zielkorrigiertes" Verhalten mit den eigenen Zielen in Einklang zu bringen. Das bedeutet auch, dass Kinder jetzt mit kurzen Verzögerungen umgehen können, also z. B. verstehen, wenn die Bindungsperson zum Kind sagt, es soll noch kurz warten, bis sie ihm etwas geben kann.
Trennungsangst und Trennungsschmerz
Die Trennung eines Kindes von seinen Eltern gilt als der wichtigste Stressor in der frühen Kindheit. Kleinkinder sind selbst in einer völlig fremden Umgebung wenig irritiert und kaum ängstlich, solange die Eltern dabei sind. Das liegt daran, dass die Eltern durch ihre Nähe dem Kind ermöglichen, bei Überforderung durch die fremde Umgebung bei ihnen Schutz zu finden und Hilfe zu bekommen, um ihre Ängste zu regulieren.
Im Alter von sechs bis acht Monaten stellt sich beim Baby die Trennungsangst ein, die meist bis zum 14. Monat anhält, aber bis zum fünften Lebensjahr noch bedeutsam sein kann. Trennungen von den Eltern tun Kindern fast auf die gleiche Weise weh wie körperlicher Schmerz (Sunderland 2006). Auch kurzzeitige Trennungen können Schaden anrichten. Wenn die Eltern nicht anwesend sind, muss ein Kleinkind von einer ihm vertrauten Person betreut werden – alles andere führt zu Stressreaktionen.Kommen Kleinkinder ohne Eingewöhnungsphase von einem Tag auf den anderen in eine Kinderkrippe, so wie dies früher insbesondere auch in der ehemaligen DDR der Fall war, zeigen sie sehr starke Stressreaktionen, die sich auf ihre gesamte Entwicklung negativ auswirken können (Ahnert 2010). Ein solcher abrupter Übergang in die außerfamiliäre Betreuung kann sich auch negativ auf die Mutter-Kind-Beziehung auswirken. In einer Studie von Ahnert (2004), bei der die Bindungsqualität vor und drei Monate nach dem Krippeneintritt gemessen wurde, konnte gezeigt werden, dass die Mutter-Kind-Bindung von einem sicheren in ein unsicheres Muster kippte, wenn der Übergang in die Krippe ohne Eingewöhnung stattfand. Wenn sich die Mutter aber für die Eingewöhnung des Kindes in die Krippe genügend Zeit nahm, blieb die Bindung erhalten oder verbesserte sich in einigen Fällen sogar.
Die Entwicklung von Vertrauen und der Aufbau von emotionalen Beziehungen brauchen viel Zeit und gemeinsame Erfahrungen. Oder anders ausgedrückt, nur dann, wenn ein Kind bei einer Bezugsperson Trost suchen und finden kann, wird es sie als sichere Basis nutzen können. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass die Bezugsperson dem Kind wirksam helfen kann, seine Gefühle zu regulieren und zu explorieren. Daher ist es beim Übergang von der familiären zur außerfamiliären Betreuung so wichtig, auf die Bindungsbedürfnisse des Kindes zu achten und ihm bei der Stressregulation zu helfen.
Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung zeigen eindeutig: Damit Kinder sich wohlfühlen, brauchen sie emotionale Sicherheit und eine Vertrautheit mit ihren Bezugspersonen. Mit dem Übergang von der Familie zur außerfamiliären Betreuung treten neue Menschen in das Alltagsleben eines Kindes, die nicht zur Familie gehören und zunächst fremd sind. Damit verbunden ist die zeitweise Trennung von den engsten Bezugspersonen, von Mutter, Vater und gegebenenfalls den Geschwistern. Zu den Entwicklungsaufgaben in der Familie kommen weitere in der Einrichtung hinzu (Griebel & Niesel 2013).
Jedes Kind erlebt diesen Übergang von der Familie in die Kindertageseinrichtung anders. Sein Verhalten ist von den bisherigen Beziehungs- und Trennungserfahrungen geprägt und kann sehr unterschiedlich ausfallen. Hier spielen auch Temperamentsunterschiede eine Rolle: Während sich manche Kinder leichter tun mit Veränderungen und sich neuen Situationen bereitwilliger stellen, brauchen etwa leicht irritierbare Kinder mehr Unterstützung bei der Übergangsbewältigung. Dieser Prozess der Eingewöhnung erfordert Zeit, Geduld und einen regelmäßigen Austausch zwischen Eltern und pädagogischer Bezugsperson, um den jeweiligen Bedürfnissen des Kindes möglichst gerecht werden zu können. Aufgabe der Fachkraft ist es, Unterschiede zwischen den Kindern zu erkennen und zu akzeptieren und jedem Kind Mitgestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen, z. B. indem das Kind den Zeitpunkt bestimmt, wann es Interaktionsangebote der Bezugserzieherin annimmt (Niesel & Griebel 2015).
Der Übergang von der Familie in die Kita oder Tagespflege
Für alle Kinder ist der Übergang in die Kita oder Tagespflege mit der Aufgabe verbunden, die fremde Umgebung und die neuen Menschen – sowohl die Fachkräfte als auch die anderen Kinder – kennenzulernen und mit ihnen vertraut zu werden. Eine Schlüsselposition haben hierbei die Eltern, die als primäre Bindungspersonen ihrem Kind die Sicherheit und das Zutrauen vermitteln können, neue Beziehungen einzugehen. Die Betreuungsbedingungen (z. B. das Verhältnis Erwachsene zu Kindern) in der Familie und der Kita sind sehr unterschiedlich. Zudem haben jüngere Kinder von sich aus nicht das Verlangen, sich von ihren Eltern zu trennen, um sich für eine längere Zeitspanne auf fremde Erwachsene in einer fremden Umgebung einzulassen. Schließlich brauchen sie die Eltern in ihrer Nähe, um ihr Wohlbefinden zu regulieren (Datler, Datler, Nover-Reisner 2010). Wenn sie jedoch vertrauensvolle Beziehungen zu den neuen Bezugspersonen aufbauen, können sie mit der Betreuungsvielfalt gut umgehen (Ahnert 2010).
Eine individuelle Eingewöhnung, in der die Eltern, das Kind und die Erzieherin den Übergang gemeinsam gestalten und bewältigen, ist die Voraussetzung für die Erzieherin-Kind-Beziehung. Darüber hinaus tragen auch die anderen Kinder in der Einrichtung zur Übergangsbewältigung bei. Wurden die Kinder früher am ersten Tag in der Einrichtung einfach abgegeben, so wird heute die Gestaltung der Eingewöhnung als entscheidend für die weitere „Karriere“ des Kindes in der außerfamiliären Betreuung betrachtet.
Die Eingewöhnung ist ein Qualitätsstandard und wird über einen Zeitraum von mindestens vier Wochen elternbegleitet, bezugspersonenorientiert und abschiedsbewusst durchgeführt (Haug-Schnabel & Bensel 2006). Elternbegleitet heißt, dass das Kind in Anwesenheit und Begleitung seiner Bezugsperson die fremde Umgebung der Kindertageseinrichtung und seine Bezugserzieherin kennenlernen kann. Mutter oder Vater dienen dem Kind als sichere emotionale Basis, von der aus es dieses neue Umfeld erkunden kann. Die Bezugserzieherin widmet sich in dieser Eingewöhnungsphase ganz dem neuen Kind und versucht, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihm aufzubauen. So kann sie selbst zu einer sicheren Basis für das Kind werden. Es gibt einen klaren Abschied, zu dem bald das verinnerlichte Vertrauen auf die Rückkehr der Mutter oder des Vaters gehört.
Auch die Eltern sind herausgefordert, sich auf die Fachkräfte als Ansprechpartner und Vertrauenspersonen und die zusätzliche Betreuung ihres Kindes in der Kita einzulassen. Für die Fachkraft sind die Eltern wichtige Partner und Informanten, nicht nur in der Phase der Eingewöhnung. Ziel eines regelmäßigen Austauschs zwischen Fachkraft und Eltern ist es, das Kind beim Übergang in die Kita sowie bei seinen täglichen Herausforderungen gemeinsam und gemäß seiner aktuellen Entwicklungsphase zu unterstützen. Für die Eltern ist es wichtig zu erfahren, dass ihr Kind in der Kita gut aufgehoben ist. Der Einbezug der Eltern in die Eingewöhnung trägt, neben regelmäßigen Gesprächen mit den Fachkräften, maßgeblich dazu bei.
Nicht übersehen werden darf, dass die Eltern nicht nur Unterstützer ihres Kindes sind, sondern dass sie selbst auch einen Übergang bewältigen müssen. Sie werden in Zukunft nicht nur Eltern in ihrer Familie sein, sondern auch Eltern eines Krippen- oder Kita-Kindes, d. h. sie müssen „Familienelternschaft“ und „Kita-Kind-Elternschaft“ in ihr Selbstbild integrieren. Das ist mit intensiven, meist gemischten Gefühlen verbunden. Zur Freude über die Entwicklungsschritte ihres Kindes kommen eventuell Schuldgefühle oder Zweifel. Ähnlich wie ihr Kind müssen sie vertrauensvolle Beziehungen zu den Fachkräften aufbauen und Mitglied der Elterngruppe werden – auch sie müssen ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln (Griebel & Niesel 2013; Niesel & Griebel 2013).
So gelingt die Eingewöhnung
Ziel einer behutsamen Eingewöhnung muss es sein, dass das Kind – ausgehend von der sicheren Basis seiner primären Bindungsperson – die zunächst fremde Umgebung der Kindertageseinrichtung kennenlernen und zu seiner Bezugserzieherin Vertrauen fassen kann. Denn: Nur mit beruhigtem Bindungssystem können Kinder in außerfamiliärer Umgebung frei explorieren und stressfrei Bildungsangebote nutzen. Dabei ist es unabhängig von dem jeweiligen Eingewöhnungsmodell eine wesentliche Aufgabe der pädagogischen Fachkraft, eine wertschätzende Atmosphäre zu schaffen und dafür zu sorgen, dass jedes Kind seinen Platz in der Gesamtgruppe findet (Niesel & Griebel 2015).
Erprobte und bewährte Eingewöhnungsmodelle für die Kindertageseinrichtung und Tagespflege sind (1) das „Berliner Eingewöhnungsmodell“ (INFANS-Modell) von Laewen, Andres und Hédervári (2000) und (2) das „Münchner Modell“ von Beller (2002; vgl. auch Winner & Erndt-Doll 2009). Beide Modelle unterscheiden drei Phasen des Eingewöhnungsprozesses (Lorber & Hanf 2013, S. 115):
- die „Kennenlernphase“ (mit Kind und Elternteil, das bei Bedarf das Kind versorgt und tröstet);
- die „Sicherheitsphase“ (in der die Fachkraft zunehmend die kindliche Versorgung übernimmt, wenn das Kind dies zulässt; erste Trennung von Elternteil und Kind);
- die „Vertrauensphase“ (Kind lässt sich von der Fachkraft versorgen und trösten, es exploriert und nimmt Kontakt zu anderen Kindern auf).
Die Anwesenheit der vertrauten Person aus der Familie in der Kennenlernphase ist wichtig, reicht aber später nicht aus, um den kindlichen Stress zu regulieren, der durch die Trennung von Elternteil und Kind entsteht. Vielmehr muss die Anwesenheit der vertrauten Person dazu genutzt werden, die Beziehung zur Fachkraft und zwischen Fachkraft und Kind aufzubauen und zu stärken (Ahnert 2010). Es ist wichtig, dass jedes Kind in jeder Phase der Eingewöhnung ausreichend Zeit und Unterstützung bekommt, um ein verlässliches emotionales Band zu „seiner“ Fachkraft zu knüpfen.
Vor allem bei Kindern, die noch wenig (positive) Trennungserfahrungen machen konnten oder die besonders schüchtern oder ängstlich sind, sollte eine längere Eingewöhnungszeit eingeplant werden. Damit sich die Fachkraft dem Kind mit ihrer vollen Aufmerksamkeit zuwenden kann, empfehlen sich eine zeitlich gestaffelte Aufnahme der Kinder und ein allmähliches Heranführen jedes neuen Kindes in die Kindergruppe und an gemeinsame Tagesroutinen (z. B. Mahlzeiten, Schlafen). Der Anpassungsprozess ist auch für das Kind leichter, wenn dieses zunächst mit seiner Bezugserzieherin vertraut werden kann, bevor es die anderen Fachkräfte kennenlernt (Hédervári-Heller 2010).
Bei der Bewältigung von Veränderungen, die mit dem Eintritt in die Kita verbunden sind, kommt es darauf an, das Kind und seine Eltern nicht zu überfordern oder zu verunsichern und durch die allmähliche Eingewöhnung sensibel an die neue Situation heranzuführen (Griebel & Niesel 2013). Hierzu gehört es auch, dass die Fachkraft die Ängste der Kinder („Wo ist meine Mama?“) und die Ängste der Eltern („Geht es meinem Kind gut, wenn ich nicht da bin?“) aufgreift und ihnen Sicherheit vermittelt. Unterstützend für das Kind kann auch ein Übergangsobjekt, z. B. ein Stofftier oder ein Gegenstand der Mutter, genutzt werden. Damit weiß das Kind: Meine Familie ist noch da, auch wenn ich in der Kita bin und sie nicht sehe (Gutknecht 2012). Ob eine Eingewöhnung erfolgreich war, kann man am Verhalten des Kindes erkennen. Wenn ein Kind zunehmend und sichtlich den Kita-Alltag genießen kann, wenn es sich für die Räume und Materialien in der Kita interessiert und sich aktiv in die Interaktionen mit anderen Kindern einbringt, dann ist es in der Einrichtung angekommen (Datler, Datler, Hover-Reisner 2010).
Ein deutliches Anzeichen von gelungener Eingewöhnung ist, wenn das Kind bei seiner Erzieherin Trost sucht und findet (Ahnert 2006, 2007): sich zum Beispiel in einer Überforderungssituation oder bei Müdigkeit an die Bezugserzieherin wendet, von ihr auf den Schoß oder Arm nehmen lässt, dort „Sicherheit tanken“ kann und von da aus wieder explorieren möchte. Die Sicherheit, die das Kind durch eine gelungene Eingewöhnung und den allmählichen Beziehungsaufbau gewinnt, unterstützt es dabei, ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Kita-Gemeinschaft zu entwickeln (Niesel & Griebel 2015). Besonders hilfreich ist, dass positive Beziehungserfahrungen mit einer Fachkraft auf die anderen Fachkräfte übertragen werden können (Ahnert 2010). Auf diese Weise kann jedes Kind ein stabiles Beziehungsnetz entwickeln, das ihm auch bei kurzfristigen Veränderungen (z. B. Erkrankung der Bezugserzieherin) Beziehungskontinuität und Sicherheit vermittelt.
Die Autorinnen
Literatur
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Ahnert, L. (2007): Von der Mutter-Kind- zur Erzieherinnen-Kind-Bindung. In: Becker-Stoll, F., Textor, M. R. (Hrsg.). Die Erzieherin-Kind-Beziehung. Zentrum von Bildung und Erziehung. Berlin, Düsseldorf & Mannheim, S. 31-41.
Ahnert, L. (2010): Wie viel Mutter braucht das Kind? Bindung-Bildung-Betreuung: öffentlich und privat. Heidelberg.
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Beller, E. K. (2002): Eingewöhnung in die Krippe. Ein Modell zur Unterstützung der aktiven Auseinandersetzung aller Beteiligten mit Veränderungsstress. In: frühe Kindheit (2/2002), S. 9-14.
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Winner, A., Erndt-Doll, E. (2009): Anfang gut? Alles besser! Ein Modell für die Eingewöhnung in Kinderkrippen und anderen Kindertageseinrichtungen für Kinder. Berlin, Weimar.
Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus frühe Kindheit 2/2015.
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