
Brauchen Kinder eine Kinder-Uni?
Jedes dritte Elternpaar in Deutschland glaubt, sein Kind sei hochbegabt. [1]
Jahr für Jahr verlassen 27 Prozent der Studierenden die Alma Mater [2] ohne Abschluss. Das sind rund 50 000 junge Männer und Frauen, die die gütige Mutter nicht zu ernähren vermag.
Andererseits gibt es seit zehn Jahren die sogenannte Kinder-Uni. Der Autor beschäftigt sich mit diesem Widerspruch.
Kinder sind begeisterungsfähig und bereit, alles zu lernen. Allerdings können sie nicht selbst entscheiden, welche Lernerfahrungen sie in ihrer geistigen und emotionalen Entwicklung weiterbringen und welche nicht. Dies ist die Aufgabe der Erwachsenen, also der Eltern und Pädagogen. [3]
Das Dilemma aller Instruktionen
Was Bildung sei, ist eine Frage, die immer wieder neu aufgeworfen wird. Die Antworten darauf sind umstritten. Unumstritten sind jedoch einige Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften [4], die uns helfen, die Vorgänge des Verstehens besser zu erfassen.
Verstehen ist demnach ein Vorgang der Modifizierung vorhandener Konzepte. Um etwas zu verstehen, muss man es also in das bereits vorhandene Wissen integrieren können. Dies lässt sich vielleicht am Beispiel des Erlernens einer Fremdsprache verdeutlichen. Um einen Begriff, ein Wort, ein Bild in einer Fremdsprache zu verstehen, muss man die entsprechende Vokabel mit all ihren Bedeutungen in seiner Muttersprache kennen.
Die Bedeutungen der gesprochenen und geschriebenen Muttersprache sind dem Menschen aber erst durch die Integration in die eigene Wirklichkeit oder in die vorhandenen mentalen Konzepte zugänglich. Hier beginnt das Dilemma aller Instruktionen, wenn sie nicht danach fragen, wie Kinder in einem bestimmten Alter über ihre alltäglichen Erfahrungen denken.
Kinder und Jugendliche können ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen mit ihrer eigenen Logik und Systematik ordnen. Sie sind sogar fähig, eigene Theorien zu bilden. Ihr Denken ist also nicht völlig formlos. Interessiert sich beispielsweise ein achtjähriges Kind für den Mond, dann sind die Bilder, die es sich vom Mond macht, vollkommen anders als die Bilder eines Wissenschaftlers. Wird dieses Kind mit den Denkmustern eines Wissenschaftlers konfrontiert, dann trägt dies eher zur Bildung von Fehlkonzepten bei. Man muss also erst die mentalen Schemata der Kinder in Erfahrung bringen, bevor man als Wissenschaftler mit ihnen über einen Sachverhalt spricht. Ist dies bei Kinder-Uni der Fall?
Welche Themen interessieren Kinder?
Alle Lernprogramme, wenn sie an den Prozessen des kreativen Lernens orientiert sind, gehen von drei Fragen aus, nämlich:
- Was soll gelernt werden?
- Wozu soll etwas gelernt werden?
- Welches Alter ist dafür geeignet?
Vergegenwärtigt man sich die Vorlesungsverzeichnisse der Kinder-Unis, dann bleiben diese Fragen offen. Es bleibt auch unklar, ob die Kinder dort Erkenntnisse gewinnen, die sie auf andere Zusammenhänge übertragen können, und inwiefern die Kinder-Uni mit der Schulwirklichkeit korrespondiert.
Die Themen der Vorlesungen – in diesem Zusammenhang ist vornehmlich von naturwissenschaftlich orientierten Themen die Rede – scheinen wahllos herausgegriffen worden zu sein. Einige Beispiele:
Wie lange lebt ein Stern?
- Warum haben Delfine einen sechsten Sinn?
- Sonnensturm aus der Wüste
- Warum sind Kristalle ordentlicher als Kinderzimmer?
Das sind gewiss interessante Themen. Dennoch fragt man sich, weshalb Kinder der Frage über die Lebenszeit eines Sterns nachgehen sollten und nicht der Frage, weshalb Fische immer unter Wasser schwimmen oder Elefanten Plattfüße haben.
Ich denke, nicht irgendein Thema ist von Bedeutung, sondern vielmehr die Frage, wie Kinder aktiv und exemplarisch etwas darüber erfahren könnten, wie wissenschaftliche Prozesse zu Erkenntnissen führen und warum diese Erkenntnisse immer wieder modifiziert oder gänzlich neu begründet werden. Dies kann man nur an Beispielen sichtbar machen, die erst die vorhandenen Denkmuster oder Erfahrungsmöglichkeiten der Kinder anregen und dann als Grundlage zur Gewinnung neuer Konzepte oder zur Modifizierung alter Vorstellungen dienen. Genau dieser Aspekt ist jedoch an den diversen Vorlesungsverzeichnissen nicht ablesbar.
Beispielsweise vertrat Aristoteles [5] ein Konzept über den Zusammenhang von Kraft und Bewegung, das sich nicht von den naiven Vorstellungen der Kinder und Jugendlichen unterscheidet. Für ihn war die Bewegung eines Körpers vom Beweger abhängig. Erst Galilei [6] verwarf das Konzept von Aristoteles und postulierte, dass in einem reibungslosen Raum ein Gegenstand, einmal in Bewegung versetzt, seine Bewegung beibehalten würde.
Die Zeitspanne, die zwischen Aristoteles und Galilei liegt, ist enorm. Offensichtlich brauchte es so lange, bis neue Erfahrungen heranreiften, die das Postulat des Aristoteles modifizierten.
Betrachtet man die Themen der Kinder-Uni in diesem Zusammenhang, gewinnt man den Eindruck, dass Antworten auf Fragen gegeben werden, die von Kindern nicht gestellt wurden. Die vorlesende Person agiert als Sender von Botschaften; Empfänger sind die passiven Kinder. Geht man so vor, muss man stets Zusammenhänge erklären. Diese Erklärungen erweisen sich stets als Wissen aus zweiter Hand, zumal die Kinder keine Möglichkeit haben, reflektierend darüber nachzudenken, weil ein Rückgriff auf die Widersprüche ihres Weltverständnisses nicht möglich ist. Dies merkt man erst, wenn man die Kinder fragt, was sie nun konkret gelernt haben. Meist erhält man diffuse Antworten, obwohl alle Kinder der Meinung sind, sie hätten viel gelernt. Ähnlich reagieren sie auf Fernsehfilme, die sich mit Naturphänomenen beschäftigen: Sie sind der Meinung, sie hätten viel gelernt. Worin der Zuwachs ihres Wissens besteht, können sie nicht sagen.
Solche Lehrprogramme kommen ohne Dialog aus, und dies dürfte der Grund für ihre Ineffizienz sein.
Die Denkmuster der Kinder in „Puh der Bär“
Der Dialog ist ein Vorgang der personalen Begegnung. In einem Dialog möchten alle Beteiligten wissen, wie die jeweils anderen Dialogpartner über einen bestimmten Sachverhalt denken. Erst im dialogischen Prozess kommen unterschiedliche Vorstellungen, Erfahrungen, Überzeugen oder Bilder zum Ausdruck.
Ich denke, dass die Abwesenheit des Dialogs bei Lehrprozessen der Hauptgrund dafür ist, weshalb so viele begabte Kinder und Jugendliche in diversen Bildungseinrichtungen scheitern. Anders ausgedrückt: Wenn die Lehrenden versuchen, ihre eigenen Vorstellungen oder Schemata auf die Kinder zu übertragen, kann kein Lernen stattfinden. Etwas in ein vorhandenes Schema zu pressen muss scheitern, weil es nicht passt. Demzufolge ist es unabdingbar, erst die Schemata der Kinder und Jugendlichen über einen Sachverhalt zu erkunden.
Zum Glück kann man lernen, die Denkmuster der Kinder nachzuempfinden, wenn man sie ernst nimmt. Erst dann entdeckt man ihre Logik und ihre Weltbilder. Diesen Gesichtspunkt möchte ich mit einem Beispiel erläutern, das ich Alan Alexander Milnes Buch „Puh der Bär“ [7] entnommen habe. Ein Erwachsener kommt in diesem Buch nicht vor. Christopher Robin – die älteste Person und zugleich der Held des Buchs – ist gerade im Vorschulalter. Mit seinen Tierfreunden lebt er mitten im Wald. Jeder Tag ist von aufregenden Ereignissen und Abenteuern erfüllt. In diesem Mikrokosmos folgt die Bewältigung der Wirklichkeit ausschließlich dem Common Sense [8] und der Logik des Kindes. Mittels seiner Logik versucht Christopher Robin häufig, Begriffe und Definitionen, die der Welt der Erwachsenen zuzuordnen sind, zu begreifen und zu interpretieren.
Eines Tages beschließt er, mit seinen Freunden eine Expedition zur Entdeckung des Nordpols zu unternehmen. Alle Bewohner des Waldes – Ferkel, Kaninchen, IA, Eule, Känga und Ruh – werden zusammengetrommelt. Als es endlich losgeht, marschieren sie in einer langen Reihe, weil Christopher Robin meint, dies sei bei einer Expedition so üblich. Nachdem sie entlang eines Bächleins stromaufwärts gegangen sind, legen sie eine Pause ein. Plötzlich schreit Känga vor Schreck, denn Ruh ist ins Wasser gefallen. Während Eule meint, dass es in solchen Fällen wichtig sei, den Kopf über Wasser zu halten, versuchen die anderen, Ruh zu retten. Puh holt eine lange Stange und hält sie über den Teich. So kann Ruh endlich herausklettern. Als Christopher Robin sich davon überzeugt hat, dass Puh die Stange gefunden hat, erklärte er die Expedition für beendet, und Puh wird als Entdecker des Nordpols gefeiert. Die Stange wird in die Erde gesteckt, und Christopher Robin befestigt einen Zettel daran, auf dem steht: „NOTPOHL endtegt vohn Puh. Puh had in gefuhnden.“
Von nun an wissen alle Beteiligten, was unter einer Expedition und einer Entdeckung zu verstehen ist. Selbstverständlich wissen jetzt auch alle, wo sich der Nordpol befindet.
Der Witz dieser Episode beruht nicht allein auf der Doppeldeutigkeit des englischen Wortes „pole“, sondern auch auf der bezwingenden Logik des ganzen Geschehens. Alan Alexander Milne hatte die Gabe, sich in das Denken der Kinder hineinzuversetzen. Er hätte diese Geschichte nicht schreiben können, wenn sein Protagonist acht bis zwölf Jahre alt gewesen wäre. Dass Christopher Robin sein Konzept vom „Notpohl“ später auf Grund neuer Erfahrungen gänzlich revidieren wird, weiß Milne. Er nimmt die Kinder ernst. Ob die Verantwortlichen der Kinder-Unis das auch tun, muss bezweifelt werden.
Dr. Salman Ansari
Der Autor
Salman Ansari ist promovierter Chemiker mit pädagogischer Erfahrung in der Vermittlung naturwissenschaftlichen Grundwissens in Schule, Kindergarten und Erwachsenenbildung. Er ist Dozent und Buchautor.
Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von Betrifft Kinder.
Fussnoten
[1] Spiegel online, Ausgabe 15/2009
[2] Lat.: die gütige, nährende Mutter. Hochschule, Universität
[3] Siehe auch: Ansari, S.: Schule des Staunens. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2009; Ansari, S.: Kinderfragen. Prosa-Reihe, Heft Nr. 1. Leibnitz-Institut for Science Education (IPN), University Kiel 2003; Ansari, S.: Sehen bei hellem Licht und dennoch im Dunklen verharren. Vortrag anlässlich der XIII. Wagenschein-Tagung 2000
[4] Siehe auch: Bruner, J.: Child’s Talk. Learning to Use Language. Norton, New York 1983; Carey, S.: Conceptual Changes in Childhood. MA: MIT Press, Cambridge 1985; Driver, R./Guesne, E./Tiberghien, A.: Childern’s ideas in science. Open university press, Philadelphia 1998; Donaldson, M.: Wie Kinder denken. Piper, München 1991; Duckworth, E.: The having of wonderful ideas. Teachers Collage, Columbia 2006; Gelman, R.: Cognitive Development. In: Annual Review of Psychology 29/1980, S. 297-332; Inhalder, B./Piaget, J.: The Growth of Logical Thinking from Childhood to Adolescence. New York 1958; Spiegel online, Ausgabe 15/2009
[5] 384-322 v. Chr.
[6] 1564-1642
[7] Siehe auch: Ansari, S.: Kinderfragen. Prosa-Reihe, Heft Nr. 1. Leibnitz-Institut for Science Education (IPN), University Kiel 2003
[8] Gesunder Menschenverstand
Netz-Tipps
www.die-kinder-uni.de
„Der Dozent sollte den vollen Hörsaal möglichst nicht allein bändigen müssen“, lässt sich den Tipps für Professoren auf der zentralen Website für Kinder-Unis entnehmen. Weitere Hinweise zum Schmunzeln bietet die >Studienberatung. Über die >Vorlesungsverzeichnisse kann sich jeder selbst ein Bild machen.
www.youtube.com
Wer sich noch nie so klein gemacht hat, dass er in der Kinder-Uni einen Platz bekommen hat, kann hier mal durchs Schlüsselloch schauen. Einfach „Kinder Uni“ in die Suchmaske eingeben und zwischen „Gutenberg und die Erfindung des Buchdrucks“, „Wenn die Kinder artig sind – Erziehung gestern und heute“ und vielen anderen Themen wählen.
www.blinde-kuh.de
Über die Eingabe „Kinder Uni“ lassen sich alle Kinder-Uni-Seiten aus Deutschland und Europa finden.