
Corona: Kinder in der Krise – Ein Erzieher stellt noch eine Frage
Ein zweiter offener Brief an die Politik und an sonstige Entscheidungsträger
Verehrte Leser*innen,
vor wenigen Tagen, in einem Augenblick des Übermutes, habe ich einige der Fragen, die mich seit Wochen beschäftigen, zusammengetragen und in einen offenen Brief gepackt. Einen Brief, den ich an viele Menschen gerichtet habe, die in diesen Krisenzeiten für unsere Gesellschaft am relevantesten sind. (1)
Antworten habe ich bis jetzt nicht bekommen. Und das ist gut so, denn sie sollen gründlich überlegt werden. Was ich mir wünsche, sind keine populistischen Versprechen, sondern fundierte und praktikable Lösungen.
Auf meinem Brief hin, bekam ich zahlreiche anregende Reaktionen von Kolleg*innen aus der Praxis, aus der Wissenschaft und aus den Gewerkschaften. Das ermutigt mich jetzt, meine Überlegungen dort fortzuführen, wo ich sie in meinem letzten Brief beendet habe: Mit der Frage „wie geht es nun weiter?“. Diese Frage gewinnt an Relevanz, nachdem die Ergebnisse aus der letzten Beratung der Ministerkonferenz viel, viel Raum für „Gestaltung“ in der Kinder- und Jugendhilfe gelassen haben.
Somit wäre ich schon bei meiner heutigen Frage:
Worum geht es eigentlich bei den aktuellen Diskussionen um Betreuung und Begleitung von Kindern? Geht es nur um die möglichst schnelle Wiederherstellung eines „normalen“ Zustandes oder geht es auch darum, Kinder vor möglichen Folgen der Krise zu schützen?
Ich höre in den letzten Wochen oft, dass jetzt gerade nicht die Zeit für Grundsatzdiskussionen ist. Ich denke aber, dass wir uns die Zeit nehmen sollten, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Erst recht, wenn die Antwort maßgebend für die Gestaltung der Arbeit mit Kindern in den nächsten Monaten ist. Ich spreche nicht nur von Kitas, sondern von all den Einrichtungen, die für die Begleitung und Unterstützung von Kindern und deren Familien verantwortlich sind. Manche davon erleben gerade dramatische Zeiten.
Am 14.04. erschien im Tagesspiegel ein lesenswerter Artikel von Peter Dabrok (2). In seinem Artikel spricht Dabrock von „Kinderrechten“. Das ist sowohl ethisch als auch rechtlich richtig und notwendig. Der Begriff fehlt bisher in der Diskussion um Schulen und Betreuung. Und das, obgleich Deutschland sich zu einer vorrangigen Berücksichtigung des Wohles des Kindes verpflichtet hat (Art. 3 Abs. 1 KRK).
Um die Empörung mancher Leser*innen an dieser Stelle zuvor zu kommen: Eine vorrangige Berücksichtigung bedeutet NICHT, dass die Interessen von Kindern immer und unter allen Umständen VOR andere Interessen gestellt werden! Es bedeutet „lediglich“, dass zwischen ihren und anderen Interessen eine transparente und nachvollziehbare Abwägung stattfinden muss. Und diese Abwägung vermisse ich zurzeit sehr, so wie Herr Dabrock auch.
Genau diese Abwägung wäre jetzt aber mehr denn je erforderlich, um Kinder und ihre Familien nach deren Bedürfnissen zu unterstützen. Damit wir, die mit Kindern arbeiten, zu unserer ursprünglichen Berufung zurückkehren können. Und mit „wir“ meine ich alle, die sich aus Leidenschaft dazu entschieden haben, Kinder zu begleiten: Erzieher*innen, Lehrer*innen Sozialarbeiter*innen und -pädagog*innen und all die Fachkräfte, die mit uns zusammenarbeiten.
Anstatt das bestehende System auch nur für eine Sekunde zu hinterfragen, wird weiter wie bisher verfahren. Und von uns (sozial-pädagogische Fachkräften) wird erwartet, dass wir unser Pensum erfüllen. Die einzige Frage, die gerade die Gemüter zu bewegen scheint, ist: „Wann dürfen ‚wieder‘……?“
Ist das der richtige Weg? Wollen wir die Zeit absitzen und warten, bis alles so wird wie früher? Was ist, wenn es noch Monate dauert? Wollen wir überhaupt, dass alles so wird wie früher?
Ist jetzt nicht der richtige Moment, obsolete Handlungsmuster zu hinterfragen und nach neuen Strategien zu suchen, damit sowohl die Kinder als auch die Gesellschaft die aktuelle Krise möglichst unbeschadet überstehen?
Ich möchte versuchen meine Überlegungen zu verdeutlichen und konkretisieren anhand des Beispiels der Berliner „Notbetreuung“. Abgesehen von manchen spezifischen Besonderheiten lässt sich der allgemeine Tenor sicherlich auf andere Bundesländer und andere Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe übertragen.
Das Fehlen von verbindlichen hygienischen und präventiven Richtlinien hatte ich bereits in meinem ersten Brief bemängelt, deshalb werde ich mich jetzt den sozial-pädagogischen Aspekten widmen. Ziel dieser Fokussierung ist nur das Bild deutlicher zu skizzieren, denn es dürfte allen klar sein, dass die beiden Perspektiven nicht voneinander zu trennen sind und genau aufeinander abgestimmt sein müssen. Erst recht, wenn eine möglichst hohe Kontinuität angestrebt wird.
Eingerichtet wurde die Notbetreuung, um die Grundversorgung mit Waren und Dienstleistungen sicherzustellen. Nach und nach wurde der Kreis der anspruchsberechtigten „systemrelevanten“ Berufsgruppen erweitert. Leitend waren dabei in erster Linie Abwägungen finanzieller und funktionaler Natur. Das Ergebnis? Eine, aus meiner Sicht, uneffektive Verwendung vorhandener Ressourcen und die daraus resultierende ausgeprägte Disparität, sowohl bei der Versorgung der Eltern als auch bei der Auslastung der Einrichtungen.
Während manche Familien aufgrund einer günstigeren Konstellation ein beinahe normales Leben führen konnten, müssen manche Alleinerziehende Home-Office, -Schooling und Kinderbetreuung allein stemmen. Während manche Einrichtungen ein Drittel der Kinder betreuen, die sie unter normalen Umständen zu betreuen gehabt hätten, bleiben andere Einrichtungen leer.
Begrüßenswert war die schnelle Ausweitung der Notbetreuung für Kinder mit einer schweren Behinderung und aufgrund des Kindesschutzes. Problematisch allerdings ist im Falle des Kindesschutzes die notwendige Zustimmung des Jugendamtes, die ein niedrigschwelliges präventives Angebot unnötig erschwert.
Familiensystemische und sozial-emotionale Härtefälle sind für die Notbetreuung nicht vorgesehen. Ebenso wenig Kinder mit erhöhtem Förderbedarf.
Nun soll jetzt die Notbetreuung erweitert werden. Leitmotive bleiben anscheinend nach wie vor: Die Funktion der Eltern und das Beibehalten eines möglichst regelkonformen Ablaufs im Schulsystem. Beide zweifellos bedeutsam, aber dürfen sie die einzigen Kriterien sein?
Müssten die Lebensrealität der Kinder, ihr Wohl und der Ausgleich möglicher Benachteiligungen nicht stärker in den Fokus gerückt werden?
Kinder brauchen soziale Kontakte, in manchen Fälle Schutz und eine gezielte Förderung. Wie werden diese Aspekte in der Planung berücksichtigt? Könnten z.B. neue Formen der aufsuchenden Hilfe oder sozialräumliche Ansätzen nicht eine sinnvolle Alternative und/oder Ergänzung zu der Notbetreuung sein?
Einziger neuer Lichtblick bei den vorgestellten Plänen: Eine Perspektive für alleinerziehenden Eltern.
Laut der Berliner Bildungssenatorin Scheeres würden die neuesten Maßnahmen in enger Abstimmung mit den Trägern entwickelt. Nun, ich kann nicht hinter den Kulissen schauen, aber den Eindruck habe ich nicht.
Am 11.04. wurde ein Vorschlag von Stefan Spieker veröffentlicht (3). Spieker, Geschäftsführer der Gruppe Fröbel und somit verantwortlich für 190 Einrichtungen in 10 Bundesländern, schlug vor, die Notbetreuung im Sinne des Kindesschutzes auf Kinder in benachteiligten Lebenslagen auszuweiten. Flankiert werden sollte die Maßnahme von einem systematischen hygienischen Konzept. Eine Idee, m.E., die es Wert ist weiter gedacht zu werden. Davon war leider bei der Pressekonferenz des Berliner Senats nichts zu erkennen.
Ich möchte jetzt den Lesenden nicht mit meinen Vorschlägen unnötig aufhalten. Wenn Herr Spieker so wenig Aufmerksamkeit bekommen hat, dann wären meine Wörter reine Luft.
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es da „draußen“ tausende von kompetenten Menschen gibt, die Tag für Tag brauchbare Ideen entwickeln, wie wir gemeinsam die aktuelle Krise bewältigen können. Wir sollen einfach erneut DAS versuchen, was uns in all den Jahren nur mäßig gelungen ist: In den Dialog treten!
Seit Beginn der Corona-Krise ist immer wieder von einer „noch nie dagewesenen Herausforderung“ die Rede. Was die Dimension betrifft, kann ich der Einschätzung nur zustimmen, aber nicht, was die Natur der Herausforderung betrifft. Wenn es um Kinder ging, war das Abwägen von unterschiedlichen und zum Teil kontrastierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen schon immer sehr schwierig. Immer wieder wurden Beschlüsse gefasst, die der einen oder anderen Interessengruppe dienen sollten und „irgendwie“ ging es. Viel mehr aber auch nicht. Sowohl Kinder als auch Fachkräfte blieben oft auf der Strecke.
Jetzt ist die Lage um einiges komplizierter. Es heißt, dass wir noch lange mit dem Virus leben müssen. Dafür sind die vorhandenen Strukturen nicht sinnvoll! Erst recht nicht mit etablierten Denkstrukturen. „Mehr desselben“ wird nicht funktionieren.
Deshalb: Lasst uns miteinander reden. Lasst uns schauen, was Kinder, Fachkräfte und die Gesellschaft brauchen und gemeinsam nach Lösungen suchen, um die vorhandenen Ressourcen gezielt einzusetzen.
Lasst uns endlich wagen, Dinge neu zu denken. „Out of he Box“ wie neuerdings gerne gesagt wird.
Hinter jeder Krise steckt auch eine Chance zur Erneuerung. Lass uns die Chance ergreifen.
Mit freundlichen Grüßen
Bruno Capra
(1) https://www.nifbe.de/infoservice/aktuelles/1663-corona-exit-was-ist-mit-den-kitas