
Das Beschneidungsurteil aus einer kindheitspädagogischen Perspektive
Inhalt- Die Beschneidung ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des kleinen Jungen
- Die Beschneidung ist ein Eingriff in die seelische Unversehrtheit des kleinen Jungen
- Das Urteil des Landesgerichts Köln
- Religion und Tradition
- Religion für das männliche Geschlecht?
- Das Elternrecht
- Empfehlungen aus kindheitspädagogischer Sicht
Es hat uns ordentlich gerüttelt, das Urteil des Landgerichts Köln. Und es ist in der Tat nicht so leicht, sich eine Meinung zu bilden, wenn man den Kinderschutz, das Elternrecht und die Religionsfreiheit ernst nimmt. Im folgenden Aufsatz versuche ich, die Argumente aus einer frühpädagogischen Sicht zu gewichten und zu ordnen. Alle Artikel in der FAZ, im Tagesspiegel und in der tageszeitung und ein Beitrag in der Zeit wurden ausgewertet. Interviews in Deutschlandfunk und Deutschlandradio einbezogen. Bei diesem schwierigen Thema verbietet sich eine kurze Stellungnahme – hier sollen alle Gründe und Argumente zu Wort kommen.
Die Beschneidung ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des kleinen Jungen
„Die Zirkumzision (von lat. circumcido, rings abschneiden), auch (männliche) Beschneidung ist die teilweise oder vollständige Entfernung der männlichen Vorhaut. Die Zirkumzision ist der weltweit häufigste chirurgische Eingriff. Er wird meist aus religiöser und kultureller Motivation durchgeführt, seltener als medizinische Behandlungsmaßnahme (vorrangig bei Verengung der Vorhaut…). Die Beschneidung gilt im Judentum als Gebot Gottes; im Islam wird sie zwar nicht im Koran erwähnt, ist jedoch als Sunna (‚Brauch, gewohnte Handlungsweise, überlieferte Norm‘) weit verbreitet“ (1)
Die religiös motivierte Vorhautentfernung wird von ihren BefürworterInnen als medizinisch sinnvoll begründet. Im westlichen Europa sind diese Gründe jedoch nicht haltbar:
- Die Aids-Prävention. Um Aids in den besonders betroffenen afrikanischen Ländern zu vermeiden, hat die Weltgesundheitsorganisation die männliche Beschneidung für die besonders betroffenen afrikanischen Länder empfohlen. Für die europäischen Länder gilt dies jedoch nicht.
- Die Peniskrebs-Prävention. Das Argument, Peniskrebs komme bei beschnittenen Männern seltener vor, sei nicht haltbar, weil die Fälle extrem selten seien, sagt der Vertreter des Berufsverbandes der deutschen Urologen.
- Die Prävention von Entzündungen. Diese ließen sich auch durch Reinlichkeit vermeiden
- Das bessere Durchhaltevermögen beim Sex. Dies sei, so der ärztliche Standesvertreter, eine Legende. (2)
In den USA ist die Beschneidung von Jungen weit verbreitet und wird medizinisch gerechtfertigt. Tatsache ist allerdings, dass diese Verbreitung ein Ausfluss des Puritanismus und der Sexualfeindlichkeit ist. Das Zitat eines Befürworters zeigt, wo die Motivation für den häufigen Eingriff liegt:
„Ein Mittel gegen Masturbation, welches bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der kurze Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders, wenn er mit Gedanken an Strafe in Verbindung gebracht wird.“ (3)
Hiesige Urologen und Kinderchirurgen sprechen sich gegen eine Beschneidung aus. So haben die Kinderchirurgen Stehr und Dietz 2008 darauf hingewiesen, dass die Zirkumzision einen Schaden für den betroffenen Jungen bedeutet:
„Der Schaden bei einer Zirkumzision liegt im irreversiblen Verlust von Körpersubstanz. Manche halten den Verlust der Vorhaut allerdings für unbedeutend, weil der Vorhaut keine Funktion zukomme. Eine solche Sicht ist nicht überzeugend, weil es sehr wohl Funktionen gibt, die die Vorhaut erfüllt. Fehlt sie, wird etwa die Eichel nicht mehr feucht gehalten, ist vielmehr ständig einer trockenen äußeren Umgebung ausgesetzt – weswegen die Empfindungsfähigkeit abnimmt.“ (4)
Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie hat das Urteil aus ethischen Gründen begrüßt. „Dabei geht es in keinem Fall um die Diskriminierung von Religionsgemeinschaften, die die Zirkumzision bei nicht einwilligungsfähigen Knaben regelhaft praktizieren, sondern vielmehr um ärztliche Ethik,“ so der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Kinderurologie der Gesellschaft, Maximilian Stehr (5).
Beschneidungen von Säuglingen in der jüdischen Glaubensgemeinschaft werden häufig ohne Gabe von Schmerzmitteln durchgeführt in der Annahme, das Baby sei nicht schmerzempfindlich. Ganz so kann es nicht sein, wenn es schreit. Und deshalb gibt man dem Kleinen etwas Alkohol ein (6).
Die Beschneidungen von muslimischen Jungen finden in einem späteren Alter statt. Während in Deutschland die türkischen Jungen größtenteils narkotisiert werden und den Eingriff selbst schmerzlos erleben, findet er in der Türkei und in anderen islamischen Ländern zum Teil völlig ohne Narkose statt. Dies ist sehr schmerzhaft. Auch im Anschluss an den Eingriff quälen sich die Jungen je nach individuellem Schmerzempfinden beim Wasserlassen, und zwar eine ganze Weile. Dass der Eingriff so unproblematisch nicht ist, lässt sich an der Komplikationsrate ablesen, die schon nach medizinisch korrekt durchgeführten Eingriffen bei geschätzten zwei Prozent liegt. Hinzu kommen Schäden durch die Narkose (7).
Die Beschneidung ist ein Eingriff in die seelische Unversehrtheit des kleinen Jungen
Die Bemühungen, der religiösen, politischen (z.B. Volker Beck, Grüne) und philosophischen (z.B. Robert Spaemann) Befürworter der Beschneidung (8), diese auch als medizinisch sinnvoll zu definieren, stehen in keinem Verhältnis dazu, „sich in die Erlebniswelt des Kindes einzufühlen“ (7).
Dabei muss unterschieden werden zwischen der Beschneidung von Säuglingen und von Jungen im Schulalter.
Die Beschneidung von Säuglingen
Eine Traumatisierung findet bei Babies statt, die ohne Narkose die Beschneidung erleben. Matthias Franz (Psychoanalytiker und Professor für psychosomatische Medizin) betont: „Die im Körpergedächtnis konservierten Schmerzen selbst bei der Neugeborenenbeschneidung sind als überschießende Stressantwort auf nachfolgende Impfungen noch nach einem Jahr nachweisbar“ (7). Bei Säuglingen ist das Schmerzempfinden noch nicht so ausgeprägt, aber es ist vorhanden. Obwohl die Heilung nach dem Eingriff schneller als bei älteren Jungen erfolgt, ist auch hier mit Schmerzen nach dem Eingriff zu rechnen, die vor allem beim Urinieren auftreten. Viele christliche Eltern, die ihrem Sohn wegen einer Phimose die Vorhaut entfernen lassen, können ein Lied davon singen.
In der Türkei wurde der Verdacht geäußert, dass, weil Säuglinge sich nicht an die Beschneidung erinnern können, dies ein Grund für die Macho-Kultur in der islamischen Welt sei (9).
Die Beschneidung von Jungen im Schulalter
Erwiesenermaßen traumatisierend sind Beschneidungen im späteren Lebensalter, wie z.B. in der Türkei ab dem 6. oder 7. Lebensjahr, wenn sie ohne Narkose vorgenommen werden. „Ich habe das im Ausland einmal miterlebt, das ist eine Quälerei“, so der Sprecher des Berufsverbandes der deutschen Urologen (2). Najem Wali hat das traumatisierende Erlebnis der Beschneidung aus eigener Erfahrung eindrucksvoll geschildert (10).
Dass die körperliche Unversehrtheit der männlichen Kinder und die psychischen Folgen der Beschneidung bisher nicht thematisiert wurden, hat mehrere Gründe, deren Erforschung eine eigene Studie erfordern würden. Aber zunächst ein Blick auf das Kölner Urteil, das die Diskussion in Gang brachte.
Das Urteil des Landesgerichts Köln
Bislang gab es kein Urteil zur Berechtigung der Religionsgemeinschaften, Beschneidungen durchzuführen – sie galten als selbstverständlich und wurden als Bestandteil der Religionen geachtet. Der Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit beim UN-Menschenrechtsrat gibt zu:
„Der Kinderrechtsausschuss hat die männliche Zirkumzision, also, das heißt, die Entfernung der Vorhaut, wenn sie unter entsprechenden Bedingungen durchgeführt wird, bislang nicht als Verletzung thematisiert“ (11).
Er hat sie aber auch nicht gut geheißen. Das heißt: Er hat es bisher nicht für nötig gehalten, sich mit dem Thema zu befassen.
Das Kölner Landgericht hat nun entschieden, dass die Beschneidung rechtswidrig ist und hat damit die Unversehrtheit des Kindes über das Elternrecht und die Religionsfreiheit gestellt.
„Dieser Eingriff sei insbesondere nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, weil sie nicht dem Wohl des Kindes entspreche. Denn im Rahmen einer vorzunehmenden Abwägung überwiege das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit vorliegend die Grundrechte der Eltern. Ihre Religionsfreiheit und ihr Erziehungsrecht würden nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten seien abzuwarten, ob sich das Kind später selbst für eine Beschneidung entscheidet.“ (12)
Der Strafrechtsprofessor Holm Putzke an der Universität Passau hat sich schon vier Jahre vorher dazu gemeinsam mit zwei Professoren der Kinderchirurgie im Ärzteblatt (3) dazu geäußert:
„Ich habe mich ... mit diesem Thema beschäftigt, weil ich mich damals gewundert habe, dass diese Thematik überhaupt keine Rolle spielt im juristischen Schrifttum oder im Schrifttum überhaupt, dass in der Gesellschaft keine Debatte stattfindet über diesen körperlichen Eingriff, wo wir doch in der Gesellschaft immer wieder reden über Gewalt gegen Kinder, die Gewalt gegen Kinder kriminalisiert und eingeschränkt wird. Völlig zu Recht, im bürgerlichen Gesetzbuch gibt es eine Vorschrift, 1631 BGB, ein Paragraf, der sagt, Gewalt gegen Kinder - auch in der Erziehung - ist nicht zulässig. Wir beschäftigen uns damit, aber immer wurde die religiöse Beschneidung ausgeblendet“ (13).
Das Schweigen hat in Deutschland einen spezifischen Grund, den z.B. Robert Spaemann (8) in seinem Aufsatz in der Zeit nicht reflektiert, wenn er fragt: „Wäre die Knabenbeschneidung wirklich etwas so Skandalöses, dann müsste man doch fragen, warum all die Verteidiger des Kölner Urteils jahrzehntelang zu dieser Ungeheuerlichkeit geschwiegen haben.“
Putzke erklärt: „… selbstverständlich ist es gerade in Deutschland - ich kann nun mal um diesen Punkt auch nicht herumkommen - durchaus ein heikler Akt, wenn sich eine Kritik gerade gegen eine Religion wie das Judentum richtet, die wahrlich in diesem Land genug gelitten haben. Und das bestreitet niemand. Dass das eine ganz heikle Angelegenheit ist, das mag möglicherweise dazu geführt haben, dass Kritik zurückgehalten wurde und nur ganz vorsichtig geäußert wurde“ (13).
Ob das Urteil sich durchsetzt oder nicht, wird sich zeigen. Veränderungen in der Sicht auf ein solches Thema brauchen ihre Zeit. Aber Deutschland ist nicht allein. In San Francisco gab es auch schon 2011 ein Referendum, das die Beschneidung von Jungen, die jünger als 18 sind, unter Strafe stellen sollte. Das ist allerdings gescheitert (11). Auch in Israel hatten entsprechende Bemühungen keinen Erfolg (s. Elternrecht).
Bislang haben es die Befürworter des Urteils nicht leicht. Putzke war nach seinem Artikel im Ärzteblatt und dem Kölner Urteil schweren Anfeindungen ausgesetzt:
„Also, die Drohungen gehen schon sehr weit, ich habe das schon 2008 erlebt im Ansatz, als mein erster Beitrag zu dem Thema erschienen war, in einer Festschrift und dann im ‚Deutschen Ärzteblatt‘ zusammen mit zwei Münchener Ärzten. Die Drohungen reichen - ich sage es ganz unverblümt - von Zwangsbeschneidung hin zu Ertränken und Ähnlichem, das ist überwiegend anonym. Und die Vergleiche mit dem Dritten Reich, dass die selbstverständlich auch permanent gebracht werden, daran habe ich mich inzwischen gewöhnt (13).
Wir wollen uns nun mit den beiden Grundrechten Religionsfreiheit und Elternrecht auseinandersetzen, deren VertreterInnen das Kindeswohl in diesem Fall als nachrangig ansehen.
Religion und Tradition
Es sei vorausgeschickt, dass die Religionsfreiheit von der Autorin dieses Beitrages für ein außerordentlich hohes Gut gehalten wird. Wir können glücklich sein, dass sie im Grundgesetz, also unserer Verfassung, verankert ist (Artikel 4). Viele Menschen flüchten aus Gebieten, in denen sie wegen ihrer religiösen Überzeugung verfolgt wurden und können nun, wenn ihr Flüchtlingsstatus anerkannt ist, bei uns angstfrei ihre Religion praktizieren.
Es gibt allerdings in jeder Religionsgemeinschaft Elemente, die traditionsbedingt sind und auf den Prüfstein gehören, dies wird von kritischen ChristInnen, Juden/Jüdinnen und MuslimInnen gleichermaßen eingeräumt. Die Sprecher der Religionen jedoch - sei es Papst Benedikt, der Zentralrat der Juden oder die islamischen Gemeinschaften - pochen auf die Tradition, gleich welche Entwicklungen in der Zwischenzeit einzelne Gesetze und Vorschriften obsolet erscheinen lassen. Am besten lässt sich dies an der Wandlung des Menschenopfers zur Beschneidung darstellen.
Tradition
Die Beschneidung im Judentum hat die noch brutalere Methode der Opferung des eigenen Sohnes als Beweis der Treue zu Gott abgelöst, so der Historiker Wolffsohn: .Wenn wir uns das religionshistorisch einmal ansehen, ist die Beschneidung Teil oder Symbol einer Entwicklung weg vom Menschenopfer, welches ja oft den Göttern oder auch dem Gott - denken Sie an die Geschichte von Abraham und Isaak - dargebracht worden ist. Das heißt, es sind entwicklungsgeschichtliche Etappen, die wir in dem religiösen Brauchtum finden, und dann stellt sich für uns natürlich die Frage, brauchen wir diesen Abschnitt, diese Distanzierung vom Menschenopfer? Nein, wir brauchen sie nicht mehr“ (15).
Die Beschneidung ist demnach „eine zivilisatorisch fortschrittliche Minderform des archaischen Opfers des erstgeborenen Sohnes, das im spätbronzezeitlichen Kulturkreis des südöstlichen Mittelmeerraumes ebenfalls am achten Tage zu erbringen war“ (7).
Die Bindung an Gott musste nach Einführung der Beschneidung nicht mehr durch Menschenopfer dokumentiert werden. Dann aber, so der Historiker Wolffsohn, stellt sich die Frage: „…haben die traditionellen Rituale, seien sie christlich, jüdisch, muslimisch, in unserer Gegenwart noch die Kraft der Bindung, die sie früher hatten, und diese Frage zu stellen, halte ich für legitim und auch notwendig, völlig unabhängig von diesem Urteil … Haben wir andere Verbindungen zu Gott, ob wir ihn Allah nennen, oder Ardonai, oder Elohim, oder wie auch immer, auch zweitrangig. Und daher muss diese Debatte geführt werden“ (15).
An diese Frage knüpft sich eine andere: Wenn es möglich war, die Tradition des Menschenopfers hinter sich zu lassen – warum ist es nicht möglich, die Tradition der Beschneidung zu verändern, indem jüdischen und muslimischen Jungen das Recht eingeräumt wird, als Erwachsene selbst zu entscheiden, ob und in welcher Form sie der Religionsgemeinschaft ihrer Eltern angehören wollen? Was sollte Gott dagegen haben, dass man ein paar Jahre bis zu diesem Termin verstreichen lässt? Was glauben die Religionsvertreter, wer sie sind, dass sie meinen, zu wissen, was Gott will?
Eine Antwort darauf ist das Festhalten an der Macht, die durch Religion ausgeübt wird.
„Man beschneidet aber, sowohl im Judentum als auch im Islam, gerade kleine Jungs, damit die religiöse Identität die grundlegende, die bestimmende, die selbstverständliche Identität wird, aus der heraus man später agiert …“ (14).
Oder, wie der Psychoanalytiker Franz es ausdrückt: „Als ethnisch exklusives Zeichen göttlicher Verbundenheit und Opferbereitschaft dient die Beschneidung neugeborener Jungen im Judentum als transgenerational festlich tradierte, verletzende und bleibende Körpereinschreibung auch der verpflichtenden Festigung der gruppal-religiösen Identität“. (7)
Das trifft sicher auch für die Beschneidung im mittleren Kindesalter im Islam zu.
Aus diesem Grunde wird eine Verlegung des Zeitpunkts der Beschneidung vom Judentum radikal abgelehnt. Jüdische wie muslimische Religionsvertreter behaupten, darüber hinaus, mit dem Kölner Urteil werde zum Ausdruck gebracht, die Angehörigen dieser Religionen seien in Deutschland nicht erwünscht, das Urteil sei daher ein Schlag gegen die ansonsten geforderte Integration. Das Gegenteil ist der Fall, könnte man antworten. Das Urteil nimmt die Religionen wahr und ernst, es misst sie an unserer Verfassung. Und es nimmt die Religionsfreiheit der männlichen Kinder ernst, die sich später für eine Beschneidung entscheiden können. Dass dieses Urteil jetzt eine Diskussion in Gang bringt, die längst überfällig ist, zeigt, dass der Dialog mit Juden und Muslimen inzwischen bei uns zum Normalfall geworden ist – auch im Recht. Und jetzt wird der Konflikt zwischen den einzelnen Wertvorstellungen diskutiert.
Dabei gilt „Die Werteentscheidung des (an völkerrechtliche Normen gebundenen) Staates hat Vorrang vor den Werteentscheidungen von Glaubensgemeinschaften und ist im Falle eines Wertekonfliktes keinerlei transzendentalen Überordnungen unterworfen… Eine Kultur oder ein Religion, die eine regelmäßige Körperverletzung von Minderjährigen, insbesondere von zur persönlichen Abwehr Unfähigen, im Programm hat, steht in einem Dauerkonflikt mit wesentlichen Zielen der Verfassung – und zwar umso tiefgreifender, je freiheitlicher und säkularer der Staat ist“ (16).
Das Kölner Urteil verlangt „in der Tat Judentum und Islam nichts weniger als ein säkularisiertes Verständnis ihrer Religionen ab“ (14). Sich darauf einzulassen, würde eine Einschränkung der Macht der Religionen bedeuten. Über sie schreibt Najem Wali, der die Beschneidung als Trauma erlebt hat: „Ich weiß nicht, welche Auswirkung das Urteil des Kölner Gerichts haben wird, aber ich weiß, dass die Religionen mit Klauen und Zähnen kämpfen werden, um weiter ihre Grausamkeiten an den Menschen auszuüben. Es geht für sie um ihre Macht“ (10).
Und Macht wird in den seltensten Fällen freiwillig ab- oder gar aufgegeben.
Religion für das männliche Geschlecht?
Bleiben wir also beim Argument der Religionen, der Knabe schließe durch die Beschneidung einen Bund mit Gott. Die Szene der Beschneidung rührt daher jüdische Frauen wie Männer: „Ich bin vielmehr immer tief ergriffen davon, dass ich ein jüdisches Kind in den Jahrtausende alten Bund mit Gott bringen darf“, so eine jüdische Beschneiderin (17).
Wieso der Knabe? Was ist mit den Mädchen? Es ist banal, auf die Gleichberechtigung der Geschlechter im Grundgesetz zu verweisen. Die Kindheitspädagogik hat diese Forderung nur aufgenommen, indem sie eine Förderung der Entwicklung aller Kinder fordert, gleich, welches Geschlecht sie haben und welcher Ethnie oder Religion sie angehören. Die Beschneiderin sagt „Kind“ und meint „Junge“. Können Mädchen nicht in Gottes Nähe gelangen? Diese Frage hat merkwürdigerweise in der öffentlichen Diskussion niemand gestellt. Vielleicht ist es die Erleichterung über die Ablehnung der weiblichen Genitalverstümmelung bei allen Religionsgemeinschaften, die hier zum Schweigen verführt. Aber die Ablehnung einer Praxis, die nichts mit Gott, sondern alles mit der Beschneidung weiblicher Lust zu tun hat, schließt die Frage nicht aus, wieso die weibliche Nähe zu Gott weder im Judentum noch im Islam ein Thema ist.
In der katholischen Kirche findet sich die Diskriminierung von Frauen ebenfalls noch, z.B. in der Beschränkung des Priesteramts auf Männer und deren Zölibat, das bekanntermaßen zu einer Vielzahl von Problemen führt. Es sind also nicht nur das Judentum und der Islam, die Mädchen und Frauen diskriminieren – diese Diskriminierung ist Bestandteil des Monotheismus, der patriarchalische Strukturen einfordert. Müssen sich die Religionen – und diese Frage bezieht sich auch auf die katholische Kirche - nicht fragen lassen, ob diese Ausschließung der Frauen vom Bund mit Gott noch zeitgemäß ist, ob sie ihre Tradition nicht überdenken müssen? Müssten die Religionsgemeinschaften nicht ein Ritual finden, das beide Geschlechter mit Gott verbindet, so wie die Taufe, die Kommunion, die Firmung und die Konfirmation im Christentum? Die Beschneidung kann es dann nicht sein, weil auch „nur“ die Klitorisbeschneidung für Frauen eine dauerhafte Verstümmelung und Behinderung in ihrer Sexualität bedeutet.
Wir müssen davon ausgehen, dass die Monotheismen sich nur in sehr langen Zeiträumen wandeln. Einen wesentlichen Anteil daran haben die Eltern.
Das Elternrecht
Eltern haben das Recht, Entscheidungen für ihr unmündiges Kind zu treffen, GG, Artikel 6. Kein Kind kann sich gegen die Sprache der Eltern, ihre Kultur, ihre Erziehungsideale wehren, solange es klein ist. Aber das Ausmaß, in dem die Eltern und andere Erwachsene Macht und Gewalt über das Kind ausüben dürfen, ist beschnitten worden. „Elternschaft wurde über Jahrhunderte und länger als die unanfechtbare Lizenz dazu interpretiert, mit dem eigenen Kind wie in einer Art Leibeigenschaft nach Belieben umgehen zu dürfen. Dass Patriarchen über Minderjährige ähnlich verfügen konnten wie über Viehbesitz, Ehefrauen und Gesinde, ist auch in Westeuropa historisch noch nicht lange her“ (18). Gewalt gegenüber Kindern wurde auch religiös begründet, denn selbst im Neuen Testament wird die körperliche Züchtigung als gottgefällig und als Ausdruck der väterlichen Liebe empfohlen.
Über die letzten Jahrzehnte hat sich der Staat – und nicht nur der unsrige – zu einem Kontrolleur des Elternrechts entwickelt. Aufgrund der ständigen Arbeit von MedizinerInnen, PsychologInnen, SozialwissenschaftlerInnen, SozialarbeiterInnen und ehemaligen Opfern elterlicher und staatlicher Gewalt wurden Grenzen für die Willkür von Erwachsenen gezogen (18). 1992 wurde die UN-Kinderrechtskonvention von der Bundesrepublik ratifiziert, im Jahr 2000 wurde im BGB das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung eingefügt. Der Kinderschutz ist heute auch wesentlicher Bestandteil der Kindheits- bzw. Frühpädagogik.
Die Veränderungen in Deutschland sind nicht ohne große Widerstände seitens der konservativen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen erkämpft und in Gesetze gegossen worden. So darf es auch nicht verwundern, dass der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek die Einschränkung des Elternrechts als eine „langsame Entmündigung der Eltern“ durch Gerichte und Jugendämter kritisiert (19).
Die heute in Deutschland gelehrte und mancherorts praktizierte Kindheitspädagogik geht aber weit über das Gewaltverbot hinaus. Sie betont nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sondern auch das Recht auf Selbstbestimmung und Partizipation. Wenden wir diese Prinzipien auf die Religionszugehörigkeit an, dann muss auch die Zugehörigkeit zu einer Religion vom Kind selbst entschieden werden. Dies heißt aber nicht, wie der Papst-Berater Robert Spaemann befürchtet, hinter dem Urteil stehe der Wunsch oder die Absicht, „dass religiöse Erziehung von Kindern überhaupt verschwinden müsse, weil sie die spätere religiöse Selbstbestimmung präjudiziere und beeinträchtige.“ (8). Denn Kinder brauchen die Bindung an ihre Eltern und werden in den meisten Fällen auch deren Ansichten übernehmen. Gerade die Kindheitspädagogik weiß um die Notwendigkeit der Bindung, diese wird aber durch das Urteil auch nicht infrage gestellt. Die Religionen müssen sich jedoch der zunehmenden Durchsetzung der Kinderrechte stellen, wie im Falle der Beschneidung, „denn es handelt sich um die Einschränkung einer durch die Tradition begründeten Ausübung ihrer Religion zulasten ihrer Kinder“ (20).
Für die Verteidigerin des Islam, Hilal Sezgün, ist das Recht der Kinder allerdings kein Thema. Das Elternrecht umso mehr, wenn sie schreibt, dass die Beschneidung „einfach nur eine Kulturpraxis unter anderen sei … so, wie alle Eltern ihre Kinder bestimmten Praktiken und Vorstellungen unterwerfen, haben auch muslimische Eltern das Recht dazu“ (21).
Aber nicht alle jüdischen und muslimischen Eltern lassen ihre Jungen beschneiden. In Israel kämpft ein Verein mit dem Namen Ben Schalem („intakter Sohn“) seit 15 Jahren gegen die Beschneidung. Es sind inzwischen zwei Prozent der israelischen Eltern, die sich dagegen entscheiden. 1998 klagte der Verein, um die Beschneidung für kriminell zu erklären. Die Richter wiesen die Klage ab. (22)
Die Drohung der Bibel, dass, wer sich nicht beschneiden lässt, ausgerottet werden soll, ist nur ein Grund, dass die meisten Eltern in Israel ihre Söhne beschneiden lassen. Nach einer Umfrage würde ein Drittel gerne darauf verzichten, die meisten davon entscheiden sich trotzdem aufgrund des gesellschaftlichen Drucks dafür. Der Gründer des Vereins, Jonathan Enosch, der seinen Sohn nicht beschneiden ließ, hat diesen Druck bei seinem Sohn nicht feststellen können. Auch ein Offizier in der Armee bestreitet, dass unbeschnittene Männer diskriminiert würden. Enosch gibt das Urteil „Mut, aufs Neue zu versuchen, mit einer Klage auch hier im Land Ähnliches zu erreichen.“ (22) Mann kann also auch ohne Beschneidung Jude sein.
In der Türkei gab es bisher keine Debatte über die Beschneidung von Jungen, die dort erst im Alter von sechs bis neun Jahren durchgeführt wird. Zwar üben viele TürkInnen im Netz auch Kritik am Kölner Urteil, aber es gibt auch Forderungen, das Thema aus der Sicht des Kindes zu betrachten (9).
Empfehlungen aus kindheitspädagogischer Sicht
Das Kölner Urteil hat einige Fragen aufgeworfen, denen sich die Politik, aber auch die Religionen stellen müssen. Wünschenswert wäre eine Verlegung der Beschneidung auf einen Zeitpunkt, zu dem die jungen Männer selbst entscheiden können, ob sie der Religion ihrer Eltern in dieser Form verbunden bleiben wollen oder nicht. Wünschenswert wären aber auch Überlegungen, wie Mädchen und Frauen ein ritueller Zugang zu Gott ohne Körperverletzung eingeräumt werden kann.
Auf solche Veränderungen in den Religionsgemeinschaften ist nur langfristig zu hoffen, wenn die jetzt begonnene Diskussion konsequent weitergeführt wird. Denn die mangelnde Flexibilität der Religionen und die fehlenden Konsequenzen aus den teilweise fatalen Folgen ihrer Entscheidungen sind auch Katholiken wohl bekannt. Man denke nur an den Widerstand der Kurie gegen Kondome und damit ihre Mitschuld an vielen Aids-Infektionen, unerwünschten Schwangerschaften und Mütter- sowie Säuglingssterblichkeit. Wir sollten uns also nicht der Hoffnung hingeben, dass Judentum und Islam beweglicher seien als der Katholizismus und ihre Beschneidungsrituale den heute gültigen Werten und medizinischen Erkenntnissen anpassen würden.
Die jetzige Auseinandersetzung schafft Unsicherheit bei gläubigen jüdischen und muslimischen Eltern und damit eine Gefahr für ihre Kinder. Denn schon unter medizinisch einwandfreien Bedingungen birgt die Beschneidung ein Risiko. Dieses Risiko wird vervielfacht, wenn die Beschneidung unter medizinisch fragwürdigen Bedingungen erfolgt. Der Staat sollte deutlich machen, welche Werte er vertritt, so wie dies aufgrund der Initiativen von Tierschützern auch beim Schächten geschehen ist. Die Diskussion um die Beschneidung sollte, unterstützt von Kampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und von Berufsverbänden (ÄrztInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen) weitergeführt werden, um die Fronten aufzuweichen. Beschneidungen bei nicht einwilligungsfähigen Jungen müssen, wenn überhaupt, unter medizinisch einwandfreien Bedingungen und mit Betäubung erfolgen, damit die Kinder nicht durch fehlerhafte medizinische Versorgung im Heimatland oder im hiesigen Hinterzimmer gefährdet werden. Dies muss die Bedingung sein, unter der von einer Strafverfolgung abgesehen werden kann.
Quellen:
(1) Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Zirkumzision
(2) Aus medizinischer Sicht, Tagesspiegel vom 28. Juni 12, S. 2.
(3) http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/geschichte-der-beschneidung/beschneidung-in-den-usa-aus-dem-munde-der-aerzte.html
(4) Maximilian Stehr, Holm Putzke, Hans-Georg Dietz: Strafrechtliche Konsequenzen auch bei religiöser Begründung. In: Deutsches Ärzteblatt 2008, http://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=61273
(5) Pascal Beucker: Muslime fordern Beschneidungsgesetz, taz 4.7
(6) Telefonat mit einem Kinderarzt am 10.7.12
(7) Matthias Franz: Ritual, Traum, Kindeswohl. In: FAZ, 9.7.12, S. 7
(8) Robert Spaemann: Der Traum von der Schicksallosigkeit. In: Die Zeit, 5. Juli 12, S. 46
(9) Susanne Güsten, Tagesspiegel vom, 29.6.12, S. 5
(10) Najem Wali: Beschneidungen und andere Traumata. taz, 4. Juli 12, S. 15
(11) Heiner Bielefeldt im Interview mit Liane von Billerbeck im Deutschlandradio Kultur am 28.6.2012 http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1796986
(12) Pressemitteilung des Landgerichts Köln, http://www.lg-koeln.nrw.de/Presse/Pressemitteilungen/26_06_2012_-_Beschneidung.pdf
(13) Holm Putzke im Interview mit Stephan Karkowsky in Deutschlandradio Kultur am 27.6. 2012. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1796548/ FAZ, 28.6.12, S. 2.
(14) Isolde Charim: Zurück zum Fleischhauer, taz vom 28. 6.12, S. 12
(15) Michael Wolffsohn im Interview mit Jasper Barenberg im Deutschlandfunk am 3.7.12. http:/www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1800972
(16) Georg Paul Hefty: Strafbare Beschneidung, FAZ, 29.6.12, S. 1
(17) Ayala Goldmann im Interview mit Renate Konrad im Deutschlandradio Kultur am 29.6.12
(18) Caroline Fetscher: Kolonie Kindheit. Tagesspiegel vom 11.7.12, S. 19
(19) Andrea Dernbach: Zwischen Riten und Richtern. Tagesspiegel vom 3.7.12, S. 4
(20) Georg Ehrmann, Vorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, im Tagesspiegel vom 5.7.12, S. 8
(21) Hilal Sezgin: Beschnittene Meinung. Kommentar in der taz vom 4.7.12
(22) Gil Yaron: Auch ohne Schnitt ist der Sohn intakt. FAZ vom 29. Juni, S. 30
Ihre Meinung ist gefragt!
Diskutieren Sie über diesen Beitrag.
Kommentare (2)