
Das da draußen könnten wir sein... Die wilden Ideen zweier Kita-Künstler über die Wirklichkeit
Dieses aufschlussreiche Zwiegespräch entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus dem neuen Heft von Welt des Kindes.
Lieber Pit,vor ein paar Wochen hatte unserSohn bei den Hausaufgaben kleine Probleme mit den binomischen Formeln. Was hab ich mich gefreut. Ich konnte das noch, ehrlich: a plus b in Klammern zum Quadrat. Okay, ich hab auch ein bisschen damit angegeben. Aber dann fragt mich unser Sohn: „Sag mal, warum muss man das eigentlich wissen?“ –„Haben die dir in der Schule nicht gesagt, warum man das wissen muss?“„Nee“, sagt er, und ich sage: „Mir haben sie es auch nicht erklärt.“Das ist doch schlimm!
Ja, Klaus, das ist schlimm, aber ich glaube, das liegt nicht am Matheunterricht, sondern daran, dass wir Erwachsenen den Kindern generell eine Ersatzwelt anbieten, damit sie lernen und üben für die richtige Welt, die wir für zu gefährlich halten, um direkt darin zu üben. Eigentlich müssten alle Kinder viel mehr raus aus der Ersatzwelt und rein in die reale, greifbare, begreifbare Welt. Weil wir sie betrügen um das echte Draußen, sie in einer Ersatzwelt halten, und wenn sie dann in die Pubertät kommen und nicht mehr zu halten sind, sich endlich das Leben – und zwar das ganz echt – nehmen wollen, spätestens dann merken sie, dass wir sie an der Nase herumgeführt haben, wie die Esel. Viele Eltern müssen dann erkennen, dass sie vielleicht doch lieber von Anfang an mehr echte Draußen-Welt für ihre Kinder hätten bereitstellen sollen, und die elektronischen Medien tragen ihren Teil natürlich noch dazu bei, dass die Entfremdung immer größer wird. Im Grunde erzählen doch alle Geschichten vom Draußen, das immer etwas bedrohlich ist, aber eben real, und da lässt sich Gefahr nicht ausschließen – im Gegenteil. „Seien wir mal ehrlich, das Leben ist lebensgefährlich“, hat Erich Kästner geschrieben. Unsere Kinder müssen und wollen etwas lernen über die Herausforderungen des Lebens, die nicht „ge–DIN–normt“ und abgesichert sind, sondern die echt sind mit allem, was dazugehört. Mein Buch des Monats wäre deshalb: „Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde“ von Eckehard Schiffer. Da steckt alles drin, was wir uns hier erträumen. Träume und Ideen zu verwirklichen, eben Realität werden zu lassen, ohne Rücksicht auf Lehr- und Orientierungspläne.
Ja, lieber Pit, dann lass uns den Faden mal weiterspinnen: Dann gäbe es in den Kitas keine Referenten, niemand würde über die Bedeutung der Kreativität in Kitas referieren, niemand würde uns beweisen, dass Zeichnen und Malen in Kitas sein muss, damit die Schüler in der Grundschule nicht durchrasseln, damit sie aufs Gymnasium kommen, damit sie einen Studienplatz kriegen und danach eine globale Karriere machen, an Burn-out erkranken und in einer echt teuren Schweizer Klinik für psychosomatische Erkrankungen in die Maltherapie überwiesen werden können. Nix von alldem! Bitte! Sondern nur Malen. Mehr nicht! Malen als ein reines Glück und große Freude. Ein Erlebnis, ein Farberlebnis, ein Klischee: Ich und die Farbe sind eins. Malen als reine Begeisterung fürs Malen. Was würde ich mich freuen!
Und genauso wäre es in der Musik. Wie wäre es, wenn wir beide die „Kinderinsel“ überredenwürden, eine Band zu gründen? Eine richtig laute Band. Oder kannste dir vorstellen, mit Erzieherinnen zwei Tage lang Haikus zu schreiben, ohne erklärenzu müssen, warum das wichtig ist? Warum das wichtig ist, hat Donata Elschenbroich schon mal in einem ihrer großartigen Bücher erklärt. Was mich betrifft, ich würde gerne mit einem Team ein bis drei Malspiele machen. Die Malspiele habe ich mit den Kindern auf der „Kinderinsel“ entwickelt, die haben bestimmte Regeln, innerhalb derer man sich frei bewegen kann. Und die Malspiele dauern von mir aus einen ganzen Tag, und am Ende kann man ein gemeinsames Bild erkennen.
Ganz genau, Klaus, die eigene Begeisterung, die führt uns nämlich dann raus aus dem ganzen Darübergerede, weil sie uns die Möglichkeit lässt, begeistert zu sein von dem direkten Kontakt – mit den Kindern oder den Erwachsenen – oder eben den Dingen, dem Wetter, den Jahreszeiten, den Elementen und was weiß ich sonst noch, eben allem, was uns umgibt und dem man eine Erfahrung abringen kann.
Kinder sind immer wieder von direktem Kontakt mit Menschen, Tieren oder Dingen angezogen, ja, das Andere, Fremde scheint einen enormen Sog auf sie auszuüben – und weißt du was, weil es echt ist und nicht Teil einer Ersatzwelt. Vielleicht müssen wir viel öfter die Komfortzone verlassen und uns an die Ränder begeben, wie der alte Hugo Kükelhaus meinte, denn da würde es farbig werden. Und das stimmt. Wenn du durch ein Prisma schaust, erscheinen die Farben an den Rändern, da wo Weiß auf Schwarz trifft und umgekehrt. Vielleicht müssen wir mit den Kindern viel mehr Eigenes tun, uns auf unsere Intuition verlassen und ihnen Dinge, Erlebnisse und Geschichten zumuten, die sie entdecken und erleben, ja gleichsam inwendig aufnehmen können. Da draußen ist so eine große und fantastische Welt, die mit Begeisterung entdeckt werden will. Es kommt mir manchmal so vor wie in der „Unendlichen Geschichte“, wo das Nichts um sich greift und alles sich darin auflöst – nur dass unser Nichts ein verführerischer Ersatz für das Reale, für Wirklichkeit ist. Kükelhaus hat immer wieder betont: Wirklichkeit ist das, was wirkt, das, was Organe stimuliert, aufbaut, ernährt – und nicht das, was sie verkümmern lässt.
Ich denke so oft, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und so in die Landschaft träume und vorgebe, etwas Wichtiges zu tun, wie toll es wäre, einfach immer draußen zu sein, den Wind auf der Haut und in den Haaren zu spüren,und wenn es regnet oder schneit, dann muss man einen Unterstand finden, oder man wird halt nass. Wie wäre es, ein Draußen-Projekt zu beginnen, mit Feuer zum Wärmen und Kochen und vielleicht auch zum Arbeiten? Zum Beispiel hätte ich schon lange mal wieder Lust, Eisen zu schmieden. Oder wir machen uns selber Holzkohle zum Zeichnen oder brennen Lehm im Feuer. Das ist doch das Tollste, den ganzen Tag von frühmorgens bis abends draußen sein, draußen leben, ganz echt, beiWind und Wetter. Alle haben nach wenigen Tagen schon eine viel gesündere Hautfarbe und rote Bäckchen, und so oft krank ist auch keiner mehr. Über dem Feuer hinge ein Topf mit Ingwer- oder Pfefferminztee, und wem kalt ist, der nimmt sich eine Tasse. Ich stelle mir das so vor wie der Waldkindergarten, nur ohne Wald, oder wo es einen hat von mir aus auch mit Wald, aber raus aus der Enge der Häuser und Platz für alle.
Im Sommer wachsen dann ja vielleicht in einem hohlen Baum Limonaden-Flaschen, wer weiß, Pippi Langstrumpf ist überall. Wir würden die Früchte ernten, die wir finden, und Marmelade kochen oder Kompott. Oder Rühreier machen mit selbst gebackenem Fladenbrot – oder Suppe aus frischen Gemüsen, wo die Eltern wieder sagen werden: „Das könnt ihr vergessen, ›unserer‹ isst keine Suppe.“ Und dann sind, eh du gucken kannst, zehn Liter Suppe weg, weil „unserer“ bei uns eben doch Suppe mag – und wie! Weil er sie selber kochen durfte auf dem offenen Feuer. Und abends stinken alle so richtig toll nach Holzfeuer und sind dreckig und müde und hatten einen ganz echt tollen Tag draußen. Und wenn dann gemalt wird am Tag drauf, dann brauchen die Kinder kein Thema, weil sie genug Themen haben, angefüllt sind mit Eindrücken, die sie unbedingt zum Ausdruck bringen wollen. Na, und dann gründen wir die Band, schrill und laut und manchmal zart und leise. Vielleicht sitzt in jedem Baum ein Musiker und macht einen Ton, der von einem anderen beantwortet wird, bis alle antworten oder vielleicht fragen, und zusammen wird es dann eine Sinn-fonie – da wäre er stolz, der Hugo! Draußen spielen, dort, wo die Herausforderungen lauern!
Lieber Pit, da haben wir angefangen, uns in eine schöne Begeisterung zu reden!Tolle Vorschläge hast du gemacht, etwas davon haben wir schon mal gemacht, und das andere merke ich mir. Das, was ich alleine arbeite, meine eigenen Arbeiten, haben seit ein paar Jahren immer was mit Büchern zu tun. Was ist ein Buch? Nicht nur ein Notizbuch, ein Blankobuch, sondern: Wie kann ich erzählen – von mir, von meinen Tagen, von meinem Leben, vom Urlaub, von einer Radtour? Und so überlege ich auch gemeinsam mit den Kindern: Wie können wir, wenn wir im Wald waren, zu Hause davon erzählen, welches Buch machen wir? Einmal haben wir in Marmeladengläsern Düfte gesammelt: vermodertes Holz, Moos, Holunderblüten, wilden Rhabarber, Gras, Blätter … Und die Gläser haben wir in einer Reihe ausgestellt, im Flur der „Kinderinsel“. Jeder konnte da mal dran riechen, und wir konnten uns erinnern. Das wäre dann auch ein Buch.
Wenn du Lust hast, schau dir doch mal die Website von Steve McPherson an, der macht auch Tagebücher: http://www.stevemcpherson.co.uk/2004/11/25/note-books/
Also, zu all deinen Vorschlägen, rausgehen, draußen sein, sind mir viele Bücher, viele Buchmöglichkeiten, Möglichkeiten,von dem Erlebten zu erzählen, eingefallen. Anderen zu erzählen, aber auch uns selbst, später dann einmal: „Weißt du noch, wie wir mal…?“ Für mich ist das ’ne Aufgabe von Kunst, Erlebtes zu erzählen. Aber wie? Und da hole ich die Kinder ab, wo sie sind. Wenn sie mir vertrauen, nehme ich sie an die Hand und wir gehen dahin, wo sie noch nicht waren. Geht es nicht genau darum: die Kinder an die Hand zu nehmen und mit ihnen die Welt zu entdecken, die sie noch nicht kennen, und dann man mit dem ganzen unterwegs gefundenen vermeintlichen „Müll“ davon Geschichten zu erzählen?
Pit Brüssel
Künstler, Musiker, Kunstpädagoge, Kükelhausexperte und Mitbegründer des Kompetenzzentrums für mathematisch-naturwissenschaftliche Förderung im Kindesalter „Frühzünder“ an der Uni Heidelberg.
Klaus von Mirbach
Künstler und Kunstpädagoge, leitet in der städtischen Kindertageseinrichtung „Kinderinsel“ in Mönchengladbach die Kunstwerkstatt.