Das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik in der frühkindlichen Bildung.
Inhalt- 1. Einleitung
- 2. Das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik
- 3. Pädagog*innen als zentrale Zielgruppe des Antidiskriminierungspädagogik-Konzepts
- 6. Fazit
- 7. Quellenangaben
1. Einleitung
Die Thematik der Chancengleichheit und Gerechtigkeit des deutschen Bildungssystems prägt seit Jahrzehnten sowohl den gesellschaftlichen als auch den wissenschaftlichen Diskurs. So wird beispielsweise in dem jüngst erschienenen ‚Chancenmonitor 2023‘ des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik erneut „die große Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland“ (Wößmann et al., 2023, S. 5) hervorgehoben, während dem Bundesministerium für Bildung und Forschung zufolge „mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen […] eine zentrale politische und gesellschaftliche Aufgabe“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2023, o.S.) ist.
Die Bildungsetappe der Frühen Kindheit wird dabei bislang vergleichsweise wenig berücksichtigt, obwohl gerade die spezifischen Erfahrungen in den ersten Lebensjahren langfristige Auswirkungen auf die Bildungs- und Teilhabechancen der Kinder sowie auf ihre Entwicklung von Werten, Einstellungen und Überzeugungen haben. Die Kindertageseinrichtungen und die Kindertagespflege spielen in diesem Kontext als zentrale frühkindliche Bildungseinrichtungen eine besondere Rolle, weil Kinder dort „ihre ersten Erfahrungen mit einer öffentlichen Einrichtung und soziales Wissen, wie gesellschaftliche Strukturen funktionieren“ (Antidiskriminierungsstelle des Bundes [ADS], 2013, S. 61), sammeln. Diese Erfahrungen finden allerdings nicht in einem diskriminierungsfreien Raum statt, sondern sind mit Benachteiligungen und ungleichen Teilhabechancen der Kinder verbunden (siehe u.a. ADS, 2013 und Bostancı et al., 2022), was damit dem Ziel der Bildungsgerechtigkeit widerspricht. Deshalb werden auch für den Bereich der frühen Kindheit Konzepte benötigt, die sich mit den ungleichen gesellschaftlichen Verhältnissen und Diskriminierungen im pädagogischen Feld auseinandersetzen. Das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik stellt ein solches Konzept dar und richtet sich insbesondere an das pädagogische Personal. Im vorliegenden Beitrag wird das Antidiskriminierungspädagogik-Konzept mit einem Fokus auf die Zielgruppe der Pädagog*innen vorgestellt und an geeigneten Stellen um Befunde meiner Masterarbeit ergänzt.[1]
2. Das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik
Das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik zielt über die prozesshafte Entwicklung nichtdiskriminierender vorurteilsfreier Einstellungen und Handlungskompetenzen darauf ab, „für verschiedene Formen von Diskriminierung und deren Folgen zu sensibilisieren und sich für deren Abschaffung einzusetzen“ (Liebscher et al., 2010, S. 103). Die Inhalte und Ziele der Antidiskriminierungspädagogik werden dabei nicht als Spezialangelegenheit betrachtet, sondern als Grundhaltung, die alle Aspekte des pädagogischen Alltags sowie dessen Organisation betreffen und ebenfalls in den Reformbemühungen des Bildungssystems berücksichtigt werden müssen. Wagner (2022a) weist darauf hin, dass die Realisierung eines solch umfassenden, prozessorientierten, intersektional und horizontal ausgerichteten Konzepts langwierig, kooperativ, anspruchsvoll, aufwendig und mit Kosten verbunden ist.
Liebscher et al. (2010) zufolge kombiniert das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik Aspekte von verschiedenen pädagogischen Ansätzen gegen Diskriminierungen, wie z.B. von Diversitypädagogik, Inklusionspädagogik, geschlechtergerechter Pädagogik, antirassistischer oder vorurteilsbewusster Pädagogik, und verknüpft diese mit den Zielsetzungen der Antidiskriminierungspädagogik. Deshalb kann das Konzept als übergeordneter Ansatz zur Bekämpfung von Diskriminierungen betrachtet werden.
Basierend auf den Untersuchungsergebnissen meiner Masterarbeit zeigt sich insgesamt ein unscharfes Bild mit einer positiven Tendenz zur aktuellen Umsetzung des Konzepts der Antidiskriminierungspädagogik in frühkindlichen Bildungseinrichtungen. Die Umsetzungsfragen wurden zwar mehrheitlich zustimmend beantwortet, aber dennoch gab es jeweils einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an Teilnehmenden, die den Fragen nicht oder eher nicht zustimmten. Dies wird in Abbildung 1 mit einem Beispielitem verdeutlicht.
Abbildung 1: Beispielitem „Das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik prägt meinen Arbeitsalltag.“
Als Zielgruppen richtet sich das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik neben den Adressat*innen pädagogischer Arbeit (z.B. Kinder, Jugendliche, Schüler*innen) und den Organisationen und Strukturen, in denen die verschiedenen Akteur*innen zusammenkommen, insbesondere an das pädagogische Personal (Liebscher et al., 2010). Liebscher et al. schreiben Pädagog*innen im Kontext des Konzepts der Antidiskriminierungspädagogik eine „Schlüsselposition“ (S. 127) zu, weshalb ich diese Zielgruppe im Folgenden vertiefend vorstelle.
3. Pädagog*innen als zentrale Zielgruppe des Antidiskriminierungspädagogik-Konzepts
Grundsätzlich haben Pädagog*innen durch ihre „vielfältige[n] bildungsbedeutsame[n] Funktionen“ (Viernickel, 2020, S. 34) eine besondere Stellung im Aufwachsen und Lernen von Kindern und Jugendlichen. Neben der gezielten Wissensvermittlung beeinflussen pädagogische Fachkräfte gemäß Viernickel (2020) die Aufwachsenden auch durch die Symbole und Bedeutungen, die sie Gegenständen und Situationen zuschreiben, und fungieren als Basis fürs Modelllernen.
Infolge der vorhandenen Diversität in frühkindlichen Bildungseinrichtungen entstehen zudem neue Gegebenheiten und Herausforderungen innerhalb der Institutionen, die insbesondere an Pädagog*innen gerichtet werden (Wagner, 2022b). Pädagogische Fachkräfte wurden bereits in Studien als relevante Instanz im Kontext der bestehenden Diversität innerhalb der Kindergruppen und in Bezug auf Diskriminierungserfahrungen von Kindern und Familien identifiziert (siehe z.B. ADS, 2013 und Bostancı et al., 2022). Wagner (2022b) sieht die Aufgabe von Pädagog*innen vor diesem Hintergrund darin, Unterschiede und Diskriminierungen in täglichen Konversationen und in zielgerichteten Aktivitäten zu thematisieren sowie beim Auftreten von Vorurteilen und Ausgrenzungen einzugreifen. Des Weiteren sollen sie durch ihre Arbeit zum Wissensaufbau der Kinder über Differenzen und zum kompetenten und respektvollen Umgang mit Unterschieden beitragen. Das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik nimmt diese Anforderungen auf und will Pädagog*innen zu einem solchen sensiblen Umgang befähigen.
Pädagog*innen nehmen in der Umsetzung des Antidiskriminierungspädagogik-Konzepts eine Schlüsselrolle ein, weil sie durch ihre Haltungen, ihre Interventionen sowie durch ihre Fachkenntnisse den Rahmen für den Umgang mit der vorhandenen Diversität in frühkindlichen Bildungseinrichtungen bilden (Nowack, 2013). Dadurch nehmen sie sowohl eine passive als auch eine aktive Rolle in der Vermittlung der antidiskriminierungspädagogischen Inhalte und Ziele ein. Liebscher et al. (2010) weisen zwar auf die eingeschränkte Handlungsfreiheit der Pädagog*innen in, weil ihre Arbeit durch teilweise diskriminierende strukturelle Rahmenbedingungen festgelegt ist. Gleichzeitig beschreiben sie das pädagogische Personal explizit als Handlungsträger*innen, die eine Verantwortung haben, innerhalb der bestehenden Strukturen zu agieren und Handlungsspielräume zu nutzen.
Liebscher et al. (2010) stellen klar, dass es keine Voraussetzung für das antidiskriminierende Arbeiten von Pädagog*innen ist, selbst frei von Vorurteilen und von eigenen Versuchungen, auszugrenzen oder zu diskriminieren, zu sein. Das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik zielt auf der Ebene der Pädagog*innen stattdessen vordergründig darauf ab, „die Bereitschaft und die Fähigkeit zu entwickeln, diese Vorurteile, Ausschlüsse und Benachteiligungen kritisch zu hinterfragen und Veränderungsoptionen auszuloten“ (Liebscher et al., 2010, S. 132). Sie betrachten die damit verbundene Selbst- und Praxisreflexion als unverzichtbare Komponente der pädagogischen Professionalität und betonen hierbei insbesondere das Erarbeiten einer antidiskriminierenden Grundhaltung, die die alltägliche Arbeit als Leitprinzip prägt. In diesem Zusammenhang weist Nowack (2013) auch auf die Relevanz des Austauschs und der Entwicklung gemeinsamer Grundvorstellungen innerhalb des pädagogischen Teams für die Umsetzung einer antidiskriminierenden Praxis hin.
Trotz der Schlüsselrolle, die das pädagogische Personal in frühkindlichen Bildungseinrichtungen allgemein im Umgang mit der vorhandenen Diversität und Diskriminierungen sowie speziell im Konzept der Antidiskriminierungspädagogik einnimmt, gaben über 60 % der Studienteilnehmenden im Rahmen der Untersuchung meiner Masterarbeit an, keine Qualifikationen für das Konzept oder vergleichbare Ansätze zu haben.
6. Fazit
Wie ich in diesem Beitrag gezeigt habe, werden bereits für die Bildungsetappe der Frühen Kindheit Konzepte benötigt, die sich mit ungleichen gesellschaftlichen Verhältnissen und Diskriminierungen im pädagogischen Feld auseinandersetzen, da die Erfahrungen von Kindern und ihren Familien in frühkindlichen Bildungseinrichtungen nicht in einem diskriminierungsfreien Raum stattfinden. Ein solches Konzept stellt das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik dar, das sich insbesondere an Pädagog*innen richtet.
Doch welche Faktoren beeinflussen Pädagog*innen in frühkindlichen Bildungseinrichtungen, antidiskriminierungspädagogisch zu arbeiten? Die Untersuchungsergebnisse meiner Masterarbeit weisen darauf hin, dass je positiver die zwei Einstellungsdimensionen pädagogische Kernüberzeugungen und subjektive Wirksamkeitsüberzeugungen bezüglich Widrigkeiten von Pädagog*innen sind, desto stärker ist ihre Absicht, antidiskriminierungspädagogisch zu arbeiten. Die pädagogischen Kernüberzeugungen haben dabei einen stärkeren Einfluss auf die Verhaltensintention und erwiesen sich über alle berechneten Regressionsmodelle hinweg als signifikanter Prädiktor. Dieses Wissen kann zu einem besseren Verständnis über das antidiskriminierungspädagogische Verhalten des pädagogischen Personals beitragen sowie Ansatzpunkte zur Förderung des antidiskriminierungspädagogischen Arbeitens liefern.
Bezüglich der besonderen Rolle der pädagogischen Fachkräfte im Kontext der Antidiskriminierungspädagogik möchte ich – unter Rückgriff auf Liebscher et al. (2010) und Wagner (2022a) – hervorheben, dass die Umsetzung der Ansprüche an Pädagog*innen, die mit den Zielstellungen des Konzepts verbunden sind, voraussetzungsvoll, aufwändig und anstrengend sind und nicht mit einer trivialen Haltungsänderung gleichgesetzt werden können. Darüber hinaus werden gleichzeitig tiefgreifende Veränderungsprozesse der Team- und Organisationsentwicklung benötigt. Dennoch kann das Konzept der Antidiskriminierungspädagogik ohne gesamtgesellschaftliche Veränderungen nur eingeschränkte Wirkungen entfalten.
Insgesamt sollte das bislang wenig untersuchte Feld der Antidiskriminierungspädagogik, insbesondere im Kontext der Frühen Kindheit, zukünftig stärker beforscht werden, sodass u.a. weitere Informations- und Bildungsmaterialien entwickelt werden können auf die Pädagog*innen, Träger und weitere Akteur*innen zur Gestaltung einer nichtdiskriminierenden und gerechteren Bildungspraxis zurückgreifen können.
7. Quellenangaben
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS). (2013). Diskriminierung im Bildungsbereich und im Arbeitsleben: Zweiter Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages.Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Bostancı, S., Biel, C. & Neuhauser, B. (2022). „Ich habe lange gekämpft, aber dann sind wir doch gewechselt“: Eine explorativ-qualitative Pilotstudie zum Umgang mit institutionellem Rassismus in Berliner Kitas. NaDiRa Working Papers: Bd. 1. Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). https://www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/Pdfs/Working_Papers/NaDiRa_Working_Papers_1.pdf
Bundesministerium für Bildung und Forschung. (2023). Rahmenprogramm Empirische Bildungsforschung - Handlungsfelder. https://www.empirische-bildungsforschung-bmbf.de/de/Handlungsfelder-1766.html
Nowack, S. (2013). Die Rolle der pädagogischen Fachkraft im inklusiven Prozess. KiTa Fachtexte.
Liebscher, D., Fritzsche, H., Pates, R., Schmidt, D. & Karawanskij, S. (2010). Antidiskriminierungspädagogik: Konzepte und Methoden für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen. VS, Verl. für Sozialwiss. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92011-5
Viernickel, S. (2020). Didaktische Perspektiven in der Arbeit mit null- bis dreijährigen Kindern. In J. Roos & S. Roux (Hrsg.), Das große Handbuch Frühe Bildung in der Kita: Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis (S. 33–43). Carl Link.
Wagner, P. (2022a). Der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung© als inklusives Praxiskonzept. In P. Wagner (Hrsg.), Handbuch Inklusion: Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung (4. Aufl., S. 23–41). Herder.
Wagner, P. (2022b). Gleichheit und Differenz im Kindergarten – eine lange Geschichte. In P. Wagner (Hrsg.),Handbuch Inklusion: Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung (4. Aufl., S. 42–65). Herder.
Wößmann, L., Schoner, F., Freundl, V. & Pfaehler, F. (2023). Der ifo-„Ein Herz für Kinder“- Chancenmonitor: Wie (un-)gerecht sind die Bildungschancen von Kindern aus verschiedenen Familien in Deutschland verteilt? ifo SCHNELLDIENST, 76(4), 5–19.
[1] Der Beitrag ist basieren auf meiner Masterarbeit in Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildungstheorie/Bildungsforschung an der Universität Münster im Sommersemester 2023 entstanden. Darin habe ich untersucht, inwiefern das pädagogische Personal in frühkindlichen Bildungseinrichtungen antidiskriminierungspädagogisch arbeitet und wovon die Intention, dies zu tun, beeinflusst wird.