
Praktische Theorie: Das Münchener Eingewöhnungsmodell
Éva Hédervári-Heller und Annette Dreier setzten sich kritisch mit meinen Beitrag „Alles Bindung – oder was? Zu Risiken und Nebenwirkungen eines Modebegriffs“ auseinander. Das ist gut, denn Wissenschaft und pädagogische Praxis leben vom Gespräch, von der Auseinandersetzung, dem Diskurs. Die Kritik Anna Freuds an John Bowlby oder Lew Wygotskis Kritik an Jean Piaget nutzten der Wissenschaft und setzten Impulse. Frauke Hildebrandt und Alexander Scheidt schreiben zu Recht: „Zudem erwiesen sich viele seiner empirischen Forschungsergebnisse in den letzten 20 Jahren als falsch. Kindergartenkinder sind eben nicht irrational, unlogisch ‚prä-kausal‘ und auf das Hier und Jetzt beschränkt, wie Piaget dachte.“ Dennoch würde niemand Piagets Bedeutung für die Entwicklungspsychologie schmälern wollen.
Éva Hédervári-Heller und Annette Dreier konkretisieren ihre Kritik am Beispiel der Eingewöhnung. In der Praxis der Eingewöhnung zeigen sich unterschiedliche theoretische Standpunkte besonders deutlich. Deshalb möchte ich am Beispiel des „Münchener Eingewöhnungskonzepts“ theoretische Unterschiede beleuchten und auch die befürchteten „Risiken und Nebenwirkungen“ benennen, die im Zusammenhang mit diesem Konzept diskutiert werden. Denn keine Theorie, keine Praxis ist risikolos. Nur wenn man die Risiken kennt und einschätzen kann, kann man mit ihnen umgehen.
Wie alles begann
1987 suchte ich für meine Tochter einen Krippenplatz in München. Das war auch damals kein leichtes Unterfangen. Drei Einrichtungen waren einigermaßen gut zu erreichen.
In der ersten Krippe fragte mich die Leiterin: „Warum wollen Sie das Haus sehen? Haben Sie kein Vertrauen zu uns?“ Die zweite Einrichtung durfte ich anschauen und wurde freundlich durch alle Räume geführt. Auf meine Frage nach der Eingewöhnungszeit antwortete die Leiterin: „Trennen Sie sich kurz und schmerzlos von Ihrem Kind. Das ist für alle das Beste.“ In der dritten Einrichtung war die Eingewöhnung nicht nur möglich, sondern Pflicht. Glücklicherweise bekam ich dort einen Platz.
Zwei Wochen und zwei Tage lang begleitete ich mein Kind. In den ersten Tagen zwei bis drei Stunden, dann den ganzen Vormittag, und in der zweiten Woche bis in den Nachmittag hinein. Wir beobachteten beide, wie die Kinder den Schlafraum vorbereiteten, wie sie sich zum Ausruhen in die Betten kuschelten und von den Fachkräften begleitet wurden. Mein Kind schlief nicht mit. Wir gingen in den Gruppenraum, und meist schliefen wir beide da ein bisschen.
Schließlich verabschiedete ich mich das erste Mal von meinem Kind. Es war Aschermittwoch, und ich fühlte mich auch so. Ab der vierten Woche arbeitete ich wieder.
Ich weiß nicht, woher dieses Krippenteam in München den Mut nahm, Eltern so konsequent in den Krippenalltag einzuladen. Üblich war das noch lange nicht. Aber diese Praxis der Eingewöhnung veränderte die Haltung zu Kinderkrippen grundsätzlich. Wir Mütter schlichen uns nicht mehr wie Rabenmütter durch die Stadt, sondern gingen erhobenen Hauptes und voller Selbstbewusstsein. Die Väter schlossen sich schnell an. Uns konnte man nichts mehr vormachen. Nach zwei Wochen Beobachtung wussten wir, wie eine gute Kinderkrippe aussehen kann, und das wollten wir jetzt für alle.
Von 1987 bis 1991 gab es in München ein Qualifizierungsprojekt für Kinderkrippen, abgekürzt „Projekt Familie und Krippe“ oder schlicht „Bellerprojekt“ genannt. Ich arbeitete ab 1990 in diesem Projekt mit. Gute pädagogische Praxis wurde theoretisch fundiert, evaluiert und verbreitet. Grundlage war das „Berliner Modell der Kleinkindpädagogik“ . Das „Münchener Eingewöhnungsmodell“ hat also Berliner Wurzeln.
Die Realität kennen lernen oder Reizüberflutung?
Dem „Münchener Eingewöhnungsmodell“ zufolge besuchen das neue Kind und seine Eltern - Mutter und/oder Vater – die Kinderkrippe in der ersten Woche für mehrere Stunden am Tag. Sie erleben den Alltag mit, beobachten die anderen Kinder in ihren Aktivitäten, das Verhalten der Fachkräfte, den Rhythmus des Tagesablaufs. Einige Kolleginnen befürchten, dass all diese neuen Eindrücke überfordern könnten: „Ist das nicht ein bisschen viel auf einmal für so ein kleines Kind?“
Wie kann man das Kennenlernen ermöglichen und „Reizüberflutung“ vermeiden?
Selbst ein Kleinkind ist kein hilfloses und passives Wesen, auf das Reize einprasseln und es überfluten. Von Geburt an sucht das Kind aktiv nach Eindrücken. Es wendet sich einem Geräusch, einem lächelnden Gesicht, einem bewegten Gegenstand zu, und es wendet sich ab, wenn es ihm zu viel wird. Während der Kennenlernphase braucht das Kind die Wahlfreiheit. Es soll selbst entscheiden, was es in welchem Tempo wahrnehmen möchte, und darf nicht zu einer Aktivität gedrängt oder animiert werden. Mutter und/oder Vater sind immer erreichbar. Aus dieser Sicherheit heraus kann das Kind in aller Ruhe erkunden.
Die Bedeutung des Kennenlernens wird oft unterschätzt. Immer wieder sieht man in Eingewöhnungsprozessen, dass die Erzieherin schon in den ersten Tagen auf das Kind zugeht, ihm Spielsachen anbietet, es zu Aktivitäten animiert. Wird das dem Kind zu viel, muss es „zumachen“.
Ob es um voruteilsbewusste Pädagogik, Inklusion oder den Einstieg in eine neue Arbeitsstelle geht – immer ist elementar, wie behutsam wir einander kennen lernen dürfen. Eltern investieren diese Zeit gern, wenn wir ihnen die Bedeutung der Sache vermitteln.
Keine Trennung in den ersten Wochen
Laut „Münchener Eingewöhnungsmodell“ findet in den ersten Wochen keine Trennung des Kindes von den Eltern statt. Sie bleiben zuverlässig in der Nähe, denn nach unseren Erfahrungen setzen frühe Trennungen – etwa bereits am vierten Tag – das Kind, die Kindergruppe, die Eltern und meist auch die Fachkräfte unter enormen Stress. Das zeigen Filmaufnahmen und schriftliche Aufzeichnungen. Meist ist das Kind in den darauffolgenden Tagen noch verunsichert, sucht nach den Eltern und erkundet kaum noch etwas. Warum geht man dieses Risiko ein? Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Begründungen:
Im „Berliner Eingewöhnungsmodell“ geht man davon aus, dass die Dauer der Eingewöhnung mit dem Bindungstyp korreliert. Unsicher gebundene Kinder brauchen kürzere, sicher gebundene längere Anwesenheit der Eltern. Um den Bindungstyp zu diagnostizieren, versucht man, das streng kontrollierte psychologische Experiment von Mary Ainsworth, die so genannte „Fremde Situation“, im Alltag zu simulieren. Die zehnminütige Trennung am vierten Tag sollte den Bindungstyp sichtbar machen. Dieses Vorgehen wurde und wird kritisiert. Auch unsicher gebundenen Kindern bereitet die Trennung von den Eltern Stress. Sie können diesen Stress nur (noch) nicht klar und deutlich ausdrücken. Beller sah deshalb in der Verkürzung der Eingewöhnung eine doppelte Benachteiligung dieser Kinder.
Gerade vermeintlich unsicher gebundene Kinder sollten erleben, dass es in Ordnung ist, Stress, Unsicherheit, Angst oder Unwohlsein klar und deutlich zu zeigen. Mütter sollten erleben, dass es in Ordnung ist, ihre Kinder zu trösten, sich ihnen zuzuwenden, die Gefühle der Kinder zu „intonieren“. Dafür brauchen aber alle mindestens zwei Wochen Zeit, weil die innere Repräsentanz auch aus bindungstheoretischer Sicht bei Kindern nicht mit 12 oder 18 Monaten abgeschlossen ist. Lediglich bei Kindern, die sich scheinbar unsicher gebunden verhalten, aber nicht unter Stress stehen, weil die Situation für sie nicht mehr fremd ist, könnte man die Verkürzung in Erwägung ziehen.
Die zweite Begründung speist sich aus der Vorstellung, dass Kinder ein „Skript“ lernen. Findet in den ersten zwei Wochen keine Trennung statt, könnten die Kinder folgendes „Skript“ lernen: „Gut, die anderen Kinder sind ohne ihre Eltern da. Aber bei mir ist das anders. Meine Mama, mein Papa bleiben hier.“ Diese Befürchtung hat sich in der Realität nicht bewahrheitet. Einige wenige Kinder brauchen die Begleitung ihrer Eltern zwar länger als zwei oder drei Wochen, aber nicht, weil sie sich an die Anwesenheit der Eltern gewöhnt haben, sondern weil sie sich noch nicht sicher genug fühlen. Dies „sagen“ sie deutlich bei der Verabschiedung in der dritten Woche. Ihre Signale werden gehört, und oft genügen wenige Tage mehr, bis sie sich ohne Probleme verabschieden. Wir interpretieren diese Erfahrung so: Die Kinder erleben, dass sie auch während der Eingewöhnung Subjekt sind, das sie sich äußern dürfen, gehört werden und mitbestimmen können. Dies gibt ihnen Sicherheit.
Im „Münchener Eingewöhnungsmodell“ versuchen wir auch auf andere Weise, das Risiko des „falschen Skripts“ zu minimieren. Emmi Pikler und Maria Aarts zeigten, dass Kinder durch sprachliche Begleitung Sicherheit und Orientierung gewinnen, auch wenn sie die Bedeutung der Worte noch nicht verstehen. Seien sie noch so jung – von Anfang an wird ihnen die Wahrheit gesagt. In der zweiten Woche ziehen sich die Mütter immer mehr zurück und überlassen der Erzieherin oder dem Erzieher die Initiative. Auch dies wird den Kindern sprachlich vermittelt.
Kinder brauchen ein Team
1990 sagte Loris Malaguzzi in einem Gespräch: „Qualität gibt es in der Pädagogik nur, wenn man die Erzieherin aus der Einsamkeit vor der Gruppe befreit.“ Die bestärkte uns Mitarbeiterinnen im „Beller-Projekt“ in unserer Arbeit. Mitte der 1980er Jahre war es in München nämlich häufig noch Praxis, dass eine Kinderpflegerin, Kinderkrankenschwester oder Erzieherin sechs bis acht gleichaltrige Kleinkinder allein in einem kleinen Raum betreute. Wir hingegen öffneten Türen, Wände wurden eingerissen, Räume vergrößert, altersgemischte Gruppen und Mitarbeiterteams gebildet.
In den Teambesprechungen ging es jetzt um pädagogische Themen. Beobachtungen wurden ausgetauscht, die Essenssituation besprochen, die Materialauswahl diskutiert. Es herrschte Aufbruchsstimmung, und wir probiert viel aus: Wickeln im Gruppenraum, ein Frühstücksbuffet, flexible Bring- und Abholzeiten. Immer ging es um die Fragen, wie wir Kleinkindern gute Entwicklungsbedingungen schaffen und Eltern gut unterstützen können. Gerade weil die Erwachsenen so wichtig für das Wohlbefinden und die Sicherheit der Kinder sind, sollte die Aufgabe, dafür zu sorgen, nicht einer Person allein überlassen werden. Das war ja zu Hause auch nicht so.
Die schrittweise Öffnung zeigte, dass Kleinkinder nicht nur den Reichtum der Materialien und Räume, sondern auch den Reichtum an sozialen Beziehungen genossen. Die altersgemischte Gruppe – Kinder von sechs Monaten bis zu drei Jahren – bot vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten. Beiläufig lernten die Kinder voneinander beim Essen, beim Toilettengang und beim Spielen, wenn die Fachkräfte dies ermöglichten. Ebenso beiläufig nahmen sie Kontakt zu den verschiedenen Fachkräften auf: Sabine wartet mit dem Wickeln, wenn man den Zug noch fertig beladen möchte. Mit Petra muss man zwar gleich mitgehen, aber sie kann es besser aushalten, wenn wir mal streiten. Esra kann zugucken, wenn wir die Kletterwand erklimmen. Sonja muss weggucken, aber man kann mit ihr wunderbar im Sand matschen. Und mit dem geduldigen Florian kann man ewig lange Bücher anschauen.
Gute Entwicklung und Bildung zu ermöglichen– das schien uns der Kern der professionellen Rolle einer Fachkraft zu sein. „Früher fragte ich mich, wie ich die Kinder beschäftige. Heute frage ich mich, was die Kinder beschäftigt“, fasste eine Erzieherin das veränderte Rollenverständnis treffend zusammen.
Professionalität, dieses Wort löste anfangs unterschiedliche Reaktionen aus. Einige Kolleginnen assoziierten damit Wickeln am Fließband, emotionale Kälte, Kinder als Erziehungsobjekte. Für uns bedeutete es jedoch etwas Positives: Fachkräfte, die eine fundierte Ausbildung absolvierten, ihr berufliches Handeln reflektieren, im Team arbeiten. Autonomie gewährend und responsiv sollte der Erziehungsstil sein. Wertschätzend, respektvoll, verlässlich und voller Verständnis für alle Kinder – diese Eigenschaften zeichnen eine professionelle Fachkraft aus, der es auch gelingt, bewusst ein gewisses Maß an emotionaler Distanz zu den Kindern zu wahren. Je jünger die von ihr betreuten Kinder sind, umso sorgfältiger muss sie ihre Gefühle reflektieren. Braucht ein Kind ihre Unterstützung, darf es sich nicht zurückgewiesen fühlen. Die Initiative in solchen Situationen muss immer vom Kind ausgehen.
Die Krippe als Bereicherung
Während der Eingewöhnung sollen Kinder und Eltern diese Fachlichkeit kennenlernen. Ziel ist es nicht, dass die Kinder es in der Einrichtung immer länger ohne Mütter „aushalten“, sondern dass sie die Krippe als Bereicherung für ihr Leben entdecken.
Im ersten Schritt geht es deshalb darum, dass Kinder und Eltern sich auf diese neue Situation und die Fachkräfte einlassen. In einigen Eingewöhnungskonzepten wird die Zeit zum Sich-Einlassen jedoch weggelassen, als hätten die Kinder das Konzept gelesen und wüssten bereits, was eine Krippe ist.
Erst im zweiten Schritt geht es darum, dass die Kinder erkennen: Diese Bezugserzieherin erweitert meine Handlungsmöglichkeiten und ist zuverlässig da, wenn ich sie brauche.
Im dritten Schritt geht es darum, dass die Kinder erkennen: Ich kann mich nicht nur auf die Bezugserzieherin verlassen, sondern auf das ganze Team. Denn nicht jeden Morgens gehen die Kinder zu Peter oder Samire. Sie müssen sich auch angenommen und gut aufgehoben fühlen, wenn Peter oder Samire eine Fortbildung besuchen, Spätschicht haben, krank oder im Urlaub sind.
Welche inneren emotionalen Prozesse bei Kleinkindern in diesen Situationen ablaufen, wage ich nicht zu beurteilen. Es ist aber nicht erkennbar, dass sich nur die Kinder in der Krippe wohl und sicher fühlen, die in zwei Wochen eine so tiefe emotionale Bindung zu ihren Bezugserzieherinnen oder -erziehern aufgebaut haben, dass sie unter der Trennung von diesen Fachkräften leiden, die durch niemand anders zu ersetzen sind.
Wenn ich am Ende der Eingewöhnung die Erzieherin-Kind-Beziehung beschreiben sollte, würde ich dem Kind Worte in den Mund legen wie: „Du bist nicht meine Mama, ich habe dich gerade erst kennen gelernt. Aber ich weiß schon, dass ich mich auf dich verlassen kann und dass du mir hilfst, hier gut zurechtzukommen.“ Reicht das nicht?
Literatur
Beller, E. K. (1998): Die Krippe. In: Oerter/Montada: Entwicklungspsychologie. Beltz, Weinheim 1998, S. 915-928
Laewen, H-J./Andres, B./ Hédervári, E.: Ein Modell für die Gestaltung der Eingewöhnungssituation von Kindern in Krippen. FIPP, Berlin 1990
Marte Meo. Die ressourcenorientierte Entwicklungsmethode von Maria Aarts. Ein Film von Kurt Gerwig. AV1 2011. Siehe unter: www.pädagogikfilme.de
Winner, A./Erndt-Doll, E. (2013): Anfang gut? Alles besser! Ein Modell für die Eingewöhnung in Kinderkrippen und anderen Tageseinrichtungen für Kinder. verlag das netz, Weimar/Berlin 2013
Wir übernehmen den Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus Betrifft Kinder 3/2014
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