zwei U3 Kinder

"Das System muss den Kindern gerecht werden und nicht umgekehrt"

12.02.2015 Kommentare (1)

Drei Fragen an Gaby Rijntjes

Alle Kinder sollen gemeinsam lernen, unabhängig von individuellen Fähigkeiten, von sozialer oder kultureller Zugehörigkeit. So sieht es die UN-Behindertenrechtskonvention vor. Ein Anspruch, der in der Kita noch am ehesten erfüllt wird. Denn in dieser Institution werden die großen Entwicklungsunterschiede der Kinder als selbstverständlich gesehen. Hier gibt es keine Noten, keine Zeugnisse und keine Abschulung. Das schlägt sich auch in den Zahlen nieder: So besuchen etwa drei Viertel aller Kinder mit besonderem Förderbedarf in Deutschland eine reguläre Kita. Das heißt auch: Die Fachkräfte müssen auf die Heterogenität in den Gruppen vorbereitet sein und jedes Kind individuell fördern. In der Kindergemeinschaft Sülztal gelingt dies seit Jahren. Wie, das erklärt die Leiterin der dortigen Kindertagesstätte, Gaby Rijntjes im Gespräch mit dem Themendienst didacta 2015.

Frau Rijntjes, was ist das Besondere an der Kindergemeinschaft Sülztal?

Gaby Rijntjes: In der Kindergemeinschaft ist das Konzept der Inklusion über viele Jahre gewachsen. Gegründet 1989, waren von Anfang an Kinder in der Kita, die in Form der "Integration" betreut wurden. Inzwischen besuchen über 180 Kinder die Kita und die Offene Ganztagsschule, deren Träger wir ebenfalls sind. Mehr als 25 von ihnen haben einen sog. "attestierten, besonderen Förderbedarf". Der Stadtteil Overath-Steinenbrück ist außerdem geprägt durch Zuwanderungsfamilien. Es war schon immer unsere Aufgabe, deren Kinder und Eltern mit ihren Bedürfnissen und Kompetenzen in unserem Alltag mit zu berücksichtigen.

Wie sieht Inklusion im Kita-Alltag aus?

Gaby Rijntjes: Wir verstehen uns als "lernende Organisation". Inklusion bedeutet, das System immer wieder so zu verändern, dass es den Kindern gerecht wird und nicht umgekehrt. Unsere These: Wir können mit und von Kindern lernen. Inklusion besteht aus einem Umdenken und einer geänderten, verstehenden Haltung dem Kind gegenüber. Immer begleitent uns die Fragen: In welchem System lebt das Kind und was braucht es, um für sich erfolgreich zu werden? Und: Wie kann ich den Alltag so gestalten, dass das Kind seinen Platz findet und seine Kompetenzen erweitern kann? Wie gestalte ich seine Umgebung, welchen Tagesablauf braucht es, wie viel Bindung und Begleitung und so weiter? Nur ein Beispiel: Ein Kind, das in einem anderen Kindergarten auffällt, weil es "verhaltensgestört" ist, wird bei uns erst einmal mit seinen Interessen, seinen Kommunikationsmöglichkeiten, seinem Bewegungsbedarf und seinen Handlungskompetenzen entdeckt und verstanden. Daraus ergeben sich erste Förderansätze.

Neben festen Stammgruppen gibt es das besondere Konzept der "Offenen Arbeit". Viele kleine Themengrüppchen am Tag bieten differenzierte Angebote. Einfache Ordnungsprinzipien, einfache Strukturen, eine bewegungsorientierte Umgebung und viele Visualisierungen sind nur ein paar der methodischen Umsetzungshilfen. Alle: Erzieherin, Sprachtherapeutin, Bewegungstherapeutin, Heilpädagogin, arbeiten interdisziplinär zusammen, erstellen Förderpläne und begleiten gemeinsam das Kind auf seinem Weg im Alltag.

Was würden Sie anderen Kitas, die sich erst jetzt auf den Weg zur Inklusion machen, empfehlen?

Gaby Rijntjes: Auf jeden Fall: Vernetzung vor Ort, "Vorläuferfähigkeiten" erwerben und einen Start mit Bedacht. 2013 haben wir mit den anderen Einrichtungen in Overath und dem Jugendamt ein Netzwerk gegründet "Ov.kids – auf dem Weg in die Inklusion". Die Idee ist es, dass alle Kinder an ihrem Lebensort die nötigen Voraussetzungen finden, um die entsprechende Förderung zu erhalten, also auch in der benachbarten Kita. Wir geben unser Wissen aus den Jahren der "Integration" an andere Einrichtungen weiter, entwickeln gemeinsame Verfahren, Beratungsformen und –-abläufe und hoffen so, eine gute Qualität für Overath für möglichst jedes Kind entwickeln zu können. Unter anderem gestalten und bezahlen wir auf diesem Weg eine gemeinsame Fortbildungsreihe vor Ort zum Thema Inklusion.

Übrigens: Geld fehlt immer! Meine berufliche Karriere startete in den 70er Jahren in einem "Sonderkindergarten für Körperbehinderte". Da kommen viele Erinnerungen auf, denn als damals das Thema "Integration" Einzug in die Einrichtungen hielt, gingen ein Aufschrei und anschließend viele "Ja, aber..." durch die Pädagogenwelt. Vor allem wurde - - wie heute - -beklagt, dass die Kindergärten für diese Themen finanziell nicht aufgestellt seien. Durchgesetzt hat sich das Konzept trotzdem!

Dazu auf der didacta 2015 in Hannover

Dienstag, 24.02. 2015
Auf dem Weg zur Inklusiven Bildung: Grundlagen, Widersprüche und Perspektiven
Seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 ist hierzulande Inklusion im Bildungsbereich wieder in aller Munde. Die Idee einer Schule für alle wird international wie national diskutiert und führt zu vielfältigen Kontroversen. In diesem Vortrag sollen internationale wie nationale Herausforderungen an eine inklusive schulische Bildung auf der Grundlage relevanter Forschungsergebnisse aufgezeigt werden. Gleichzeitig sollen aber auch die Widersprüche und Schwierigkeiten thematisiert werden, um abschließend Perspektiven für eine inklusive Schulentwicklung vorzustellen. Forum Unterrichtspraxis, Halle 16, Stand E36, 14.00 bis 15.00 Uhr

Referent: Prof. Dr. phil. Rolf Werning, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, Institut für Sonderpädagogik.

Inklusion an den Gymnasien: Was nutzt dem Kind?
Inklusion: Der Begriff meint mehr als die gemeinsame Beschulung behinderter und nichtbehinderter Kinder. Unter Inklusion wird auch verstanden, die individuellen Unterschiede zwischen Menschen zu akzeptieren und ihre pädagogische Bedeutung zu erkennen. Ist das auch in der "Leistungsschule Gymnasium" umsetzbar? Wie sind der gymnasiale Anspruch und der Inklusionsgedanke miteinander vereinbar? Wie können Lehrkräfte diesen anspruchsvollen Spagat meistern?

Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Andreas Hinz, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender Deutscher Philologenverband Michael Töpler, Vorsitzender Bundeselternrat. Moderation: Katja Irle, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin sowie Autorin. Forum Bildung, Halle 16, Stand E20, 15:30 bis 16:45 Uhr.

Mittwoch, 25. Februar 2015
Thementag Inklusion: Inklusion als Leitbild für Bildungspraxis im Forum didacta aktuell, Halle 23, Stand E41
14:00 Uhr bis 14:45 Uhr
Inklusion als Leitbild für Bildungspraxis – was bedeutet inklusive Bildung und Betreuung von Kindern in Kitas?

Etwa drei Viertel aller Kinder mit besonderem Förderbedarf besuchen in Deutschland eine reguläre Kita. Jedes dritte Kind unter sechs Jahren hat einen Migrationshintergrund und etwa jedes fünfte ist von Armut betroffen oder armutsgefährdet. Aber inklusive Bildung geht vom Grundsatz der uneingeschränkten Teilhabe aller Kinder aus. Lässt sich dieser Anspruch unter heutigen Rahmenbedingungen wirklich realisieren und was heißt das für die Entwicklung der Bildungspraxis in der Kita?

Podiumsdiskussion mit Ute Erdsiek-Rave, Expertenkreis Inklusive Bildung, Deutsche UNESCO-Kommission e. V., Prof. Dr. mult. Wassilios E. Fthenakis, Didacta Verband der Bildungswirtschaft, Gaby Rijntjes, Kindergemeinschaft Sülztal e. V., Petra Wagner, Fachstelle Kinderwelten im Forum didacta aktuell. Moderation: Prof. Dr. Matthias Degen, WDR

15:00 - 15:45 Uhr
"Willkommen Vielfalt!" oder "Wie viel Vielfalt wollen, können und müssen wir uns leisten?"

Die Schülerschaft an deutschen Schulen ist bunt und vielfältig. Jede Schülerin und jeder Schüler hat eigene Begabungen, doch längst nicht alle haben die gleichen Chancen auf ihrem Bildungsweg. Bei zielgleicher Förderung fallen zahlreiche junge Menschen sogar ganz durchs Raster. Neben den individuellen Herausforderungen, die solche Brüche bedeuten, stellt sich die Frage, wie eine offene Gesellschaft und eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften mit ihren vielfältigen Talenten umgehen sollte und wie viel Vielfalt sie sich leisten will, kann und muss.

Darüber diskutieren Stefan Bredehöft, Landeselternrat Niedersachsen, Graf Fidi – "er macht es mit links", Rapper, Elisabeth Krüger, RegionalVerbund für Ausbildung e. V., Wolfsburg und Prof. Dr. Gabriele Weigand, Pädagogische Hochschule Karlsruhe. Moderation: Jan Hofer, WDR.

16:00 - 16:30 Uhr
Bildung persönlich: Im Gespräch mit Rapper Graf Fidi

"Wie machst du das alles bloß?" "Ich mach das mit links." Wer Fidi fragt, wie der Rollstuhlfahrer im Alltag mit allem so klarkommt, kriegt eine klare Ansage. Als feste Größe im Berliner Rap-Leben trifft man Fidi bei Club-Auftritten genauso wie bei politischen Veranstaltungen rund um das Thema Inklusion. Genau diese Mischung aus gelebtem Hip Hop und Engagement für eine Herzensangelegenheit macht Fidi einzigartig und besonders interessant für viele verschiedene Menschen. Neben der Musik studierte er Soziale Arbeit. Seit 2014 ist er bei einer Kinder- und Jugendeinrichtung beschäftigt. Graf Fidi im Gespräch mit Jan Hofer, WDR.

Inklusion in Niedersachsen: Auf dem richtigen Weg?
Niedersachsen hat die Inklusion im Schulgesetz verankert und sich auf die schrittweise Umsetzung festgelegt. Zusätzliche Gelder stehen auch bereit. Die Eltern haben die Wahl. Doch die Lehrerverbände kritisieren die Pläne als unter anderem zu zögerlich, zu ängstlich und als Belastung der Lehrkräfte. Ist die Kritik berechtigt? Wo sollte und wo wird die Landesregierung nachsteuern? Wie kann Inklusion in Niedersachsen gelingen?

Podiumsdiskussion mit Gitta Franke-Zöllmer, VBE-Landesvorsitzende Niedersachsen; Franz-Josef Meyer, Schulleiter Alexanderschule Vechta; Jan ter Horst, Abteilungsleiter Niedersächsisches Kultusministerium; Prof. Dr. André Frank Zimpel, Universität Hamburg; Moderation: Lothar Guckeisen, Journalist. Forum Bildung, Halle 16, Stand E20, 15:15 bis 16:30 Uhr.

Donnerstag, 26.02. 2015
Lehrerhandeln in inklusiven Kontexten
Das Unterrichten in heterogenen Lerngruppen erfordert ein verändertes Rollenverständnis aller pädagogischen Fachkräfte. In dem Vortrag werden Kommunikationsfallen, mögliche Konfliktherde und präventive Ansätze zur Weiterentwicklung einer Teamteaching-Kultur in der inklusiven Schule thematisiert.

Referent: Dr. Daniel Mays, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Entwicklungswissenschaft und Förderpädagogik (Inklusion) an der Universität Siegen, Förderschullehrer für Erziehungshilfe. Forum Unterrichtspraxis, Halle 16, Stand E36, 13.00 bis 14.00 Uhr

Freitag, 27.02. 2015
Chancen und Grenzen eines inklusiven Mathematikunterrichts
Der Vortrag berichtet über Erfahrungen eines aktuell laufenden Entwicklungsprojekts im gemeinsamen Unterricht in einer ersten Klasse. Dargestellt und anhand von Unterrichtsbeispielen konkretisiert wird die Gestaltung des individuellen wie gemeinsamen Lernens ausgehend von den Ergebnissen einer umfassenden Eingangsdiagnostik mit allen Schülerinnen und Schülern der Klasse. Dabei werden fachdidaktische Entscheidungen in Bezug auf Unterrichtsinhalte, ihre Veranschaulichungen und geeignete Arbeitsformen kritisch reflektiert und die besonderen Lernchancen, aber auch die Schwierigkeiten, die sich aus dem inklusiven Setting ergeben, herausgearbeitet.

Prof. Dr. Andrea Peter-Koop, Universität Bielefeld, Didaktik der Mathematik. Forum Unterrichtspraxis, Halle 16, Stand E36, 15.00 bis 16.00 Uhr

Gelingende Inklusion: Was sind erfolgreiche Konzepte?
Über die Bedeutung inklusiven Unterrichts gibt es keinen Zweifel. Die Inklusion ist erklärtes Ziel von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft – zum Wohle des einzelnen Kindes. Die Schule soll es vornehmlich richten. Was aber sind grundlegende Bedingungen für eine gelingende Inklusion in der Schule? Welche Antworten gibt es auf diese Fragen: Wie steht es um die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte? Wie steuert wer den Einsatz von Therapeuten und Sonderpädagogen? Wie werden die Eltern einbezogen? Welche Konzepte haben sich bewährt?

Podiumsdiskussion mit Eberhard Brandt, Landesvorsitzender GEW Niedersachsen, Reinhard Fricke, Vorsitzender des Verband Sonderpädagogik Landesverband Niedersachsen e. V. Brigitte Naber, Vorsitzende des Schulleitungsverbandes Niedersachsen e. V. (SLVN) und Schulleiterin der IGS Roderbruch in Hannover. Moderation: Lothar Guckeisen, Journalist. Forum Bildung, Halle 16, Stand E20, 15:15 bis 16:30 Uhr.

Quelle: bildungsklick

Ihre Meinung ist gefragt!

Diskutieren Sie über diesen Beitrag.

Kommentare (1)

Büsra 28 Oktober 2024, 10:50

Hallo,

wäre es möglich, dass Sie mir schreiben, wer diesen Fachartikel geschrieben hat? Ich habe es für meine Thesis benutzt und muss es zitieren.
Vielen Dank und freundliche Grüße

Redaktion ErzieherIn.de : Guten Tag,
wir haben die Meldung von Bildungsklick übernommen. Hier finden Sie den Originaltext: https://bildungsklick.de/fruehe-bildung/detail/das-system-muss-den-kindern-gerecht-werden-und-nicht-umgekehrt

Kommentar schreiben




Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.


Bitte schreiben Sie freundlich und sachlich. Ihr Kommentar wird erst nach redaktioneller Prüfung freigeschaltet.





Ihre Angaben werden nicht an Dritte weitergegeben. Weitere Hinweise zum Datenschutz finden Sie im Impressum.