mehrere Kinder

Der Fachkräftemangel in der Frühpädagogik

Stefan Sell/Hilde von Balluseck

23.12.2011 Kommentare (0)

Schon heute kann man in Deutschland für viele Berufe einen eklatanten Mangel an Fachkräften feststellen. So klagt die Wirtschaft über ein eingeschränktes Angebot an Ingenieuren, bei den Pflegeberufen wird ein schreckliches Szenario bei der zunehmenden Anzahl von Pflegebedürftigen beschworen, und auch bei den frühpädagogischen Fachkräften gibt es heute schon Träger, die händeringend nach qualifizierten ErzieherInnen suchen. Eine Ursache für diese Entwicklung ist der demographische Wandel, also die Tatsache, dass der prozentuale Anteil der jüngeren Bevölkerung gegenüber der älteren abnimmt. Unsere Arbeitswelt sowie unser Steuer- und Rentensystem haben in den letzten Jahrzehnten zu wenige Anreize geboten, Kinder in die Welt zu setzen. Daneben gibt es aber branchenspezifische Ursachen für den Mangel an Fachkräften in den einzelnen Berufssparten. Bei den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ist dies sicher die partiell schlechte Lehre an Schulen und Hochschulen in diesen Fächern, die Kindern und jungen Leuten die Freude daran nimmt. Bei der Altenpflege ist es die Arbeit, deren Bezahlung in keiner Weise der Belastung gerecht wird, und darüber hinaus die exorbitante Zunahme an Pflegebedürftigen. Die wichtigsten Ursachen für den Fachkräftemangel in der Frühpädagogik sind wohl der Ausbau der Kinderbetreuung, inklusive Krippen, sowie die steigenden Anforderungen an bessere Personalschlüssel und Weiterbildung des Personals, die immer auch einen tageweisen Ausfall in den Einrichtungen zur Folge hat.

Was tun? Das Bundesfamilienministerium hat in Zusammenarbeit mit der GEW Ende des letzten Jahres eine Initiative gegen den Fachkräftemangel mit dem Titel „Profis für die Kita“ gestartet. Mit Flyern und Plakaten sollen junge, aber auch ältere Menschen für den Beruf bzw. für den Wiedereinstieg in den Beruf gewonnen werden. Aber reicht das aus? Wird der Fachkräftemangel überhaupt korrekt diagnostiziert? Und welche Maßnahmen erscheinen notwendig, um der Frühpädagogik nicht den Wind aus den frischen Segeln zu nehmen?

Prof. Dr. Stefan Sell Prof. Dr. Stefan Sell

Zu diesen und anderen Fragen haben wir Prof. Dr. Stefan Sell von der FH Koblenz, Campus Remagen für ein schriftliches Interview gewinnen können. Hier sind seine Antworten.

Gibt es einen Fachkräftemangel?

ErzieherIn.de: Gibt es überhaupt einen Mangel an Fachkräften in der Frühpädagogik?

Stefan Sell: Man könnte jetzt im Radio Eriwan-Modus antworten: Im Prinzip ja, aber ..., denn die Beantwortung der Frage hängt davon ab, welche Maßstäbe angelegt werden hinsichtlich des erforderlichen wie auch des zugestandenen Personalvolumens.

Aus einer fachlichen Sicht ist es mittlerweile weitgehend unstrittig, dass wir mit einem (zunehmenden) doppelten Fachkräftemangel konfrontiert sind – also neben einem quantitativen auch ein qualitativer Mangel. Die Diskussion darüber wird leider kaum auf einer systematischen Ebene geführt, sondern primär auf einen bestimmten Ort bezogen (am heftigsten natürlich in den „Mangelgebieten“ wie den Großstädten, man denke hier nur beispielhaft an München oder mittlerweile auch Berlin) bzw. gar auf Träger- bzw. Einrichtungsebene.

Aus einer systematischen Perspektive muss es einen sich verstärkenden quantitativen Personalmangel geben, wenn man die groben Entwicklungslinien des Systems der Kindertagesbetreuung in Rechnung stellt: Zum einen haben wir aufgrund der demografischen Entwicklung zwar rückläufige Kinderzahlen, die aber mehr als kompensiert werden durch die „Öffnung nach unten“, also die Aufnahme immer jüngerer Kinder (mit einem höheren Personalbedarf als bei den älteren Kindern) sowie durch die beobachtbare Verlängerung der Öffnungszeiten und eine verstärkte „Randzeitenbetreuung“. Darüber hinaus ist auch eine längere Inanspruchnahme je Kind festzustellen, was den Personalbedarf weiter nach oben treibt.

Gerade diese substanziellen Verschiebungen der Arbeitsrealität innerhalb der Einrichtungen werden in den wenigen Studien zur Frage eines Fachkräftemangels gar nicht oder nur marginal berücksichtigt. Was zudem oftmals vergessen wird: Im Schulsystem sehen wir eine sukzessive, in vielen Bundesländern sehr holprige, aber letztendlich unaufhaltsame Entwicklung in Richtung mehr Ganztägigkeit, die bei aller Kritik im Detail an der Art und Weise ihrer Umsetzung einen wachsenden und mit den Kindertageseinrichtungen durchaus in Konkurrenz stehenden Personalbedarf für pädagogische Fachkräfte generiert.

Noch gar nicht gesprochen haben wir von dem bereits heute erforderlichen Personalaufstockungsbedarf im System, der sich ergibt, wenn man nur in die Nähe der Standards für die Personalschlüssel in Abhängigkeit von Fachkraft-Kind-Schlüssel und definierten Gruppengrößen kommen will, wie sie in der frühpädagogischen Fachdiskussion gefordert werden – auch und gerade angesichts der zunehmenden Bedeutung der unter dreijährigen Kinder in den Einrichtungen, um dort schlichtweg Kindeswohlgefährdung zu vermeiden.

Wenn man diese Entwicklungslinien verbindet mit dem erwartbaren Nachfrageschub - nach dem Scharfstellen des individuellen (und eben nicht auf irgendwelche Prozentwerte begrenzten) Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr im August 2013 – sieht man deutlich, dass ein massiver zusätzlicher quantitativer Personalbedarf entsteht, der natürlich regional sehr unterschiedlich ausfallen wird. Denn unsere Untersuchungen haben z.B. zeigen können, dass die meisten pädagogischen Fachkräfte regional erheblich gebunden sind und die Wohnorte oftmals abweichen von den Orten mit einem hohen Personalbedarf, so dass es im Ergebnis in der einen Region zu einem erheblichen Personalbedarf kommen kann und gleichzeitig in einer anderen zu arbeitsuchenden oder in nicht-freiwilliger Teilzeit arbeitenden Fachkräften.

Der Fachkräftemangel in Rheinland-Pfalz: Konkret

ErzieherIn.de: Können Sie am Beispiel von Rheinland-Pfalz sagen, wie der Fachkräftemangel zahlenmäßig aussieht?

Stefan Sell: Wir haben 2010 eine Untersuchung für Rheinland-Pfalz veröffentlicht (weitere Informationen unter: www.ibus-verlag.de), die sich dadurch auszeichnete, dass zum einen die Erwerbsbiografien der vorhandenen pädagogischen Fachkräfte über die zurückliegenden bis zu 30 Jahre ausgewertet wurden, zum anderen haben wir mit unterschiedlichen Szenarien gearbeitet, die nicht nur verschiedene Inanspruchnahmequoten seitens der Eltern abbilden, sondern bei denen wir auch geschaut haben, wie sich unterschiedliche Standards der Personalausstattung auf den Personalbedarf auswirken würden. Dieser Punkt ist ganz besonders wichtig, denn hier konnten wir zeigen, wie enorm die Auswirkungen sind, je nachdem, welche Personalausstattung sie den Einrichtungen zugestehen, was letztendlich – sagen wir es offen – eine primär (haushalts)politische Entscheidung ist. Beispiel: Ausgehend von den 24.000 vorhandenen pädagogischen Fachkräften kamen wir unter realistischen Annahmen, was die Inanspruchnahme angeht, bezogen auf das Jahr 2013 auf 2.000 bis 5.000 fehlende Fachkräfte, also bereits nach Berücksichtigung der zu erwartenden Fachkräfte aus dem Ausbildungssystem. Und: Würde man die fachwissenschaftlichen Forderungen nach einer optimalen Personalausstattung erfüllen, würden uns sogar 16.000 Fachkräfte fehlen – wohlgemerkt, bei 24.000 im Jahr 2009 im System insgesamt. Aber: Wir haben zudem auch gerechnet, was passieren würde, wenn man – auf der Basis der heute geltenden gesetzlichen Bestimmungen in Rheinland-Pfalz – alle Gruppen bis zum Anschlag auffüllen würde, also bis zu der Gruppengröße, die zur Zeit gesetzlich zulässig wäre. Hier kann man zeigen, dass man mit dem vorhandenen Personal auskommen würde. Ich will jetzt nicht über die damit verbundenen Arbeitsbedingungen sprechen oder gar über die Gefährdung des Kindeswohls, die sich meiner Meinung nach daraus ergeben würde. Aber dieses Vorgehen kann verdeutlichen, wie breit die Streuung des „Fachkräftebedarfs“ ausfallen kann und muss, je nach Annahmen, die dem ganzen zugrunde gelegt werden. Deshalb wäre es ja auch so wichtig, sich über diese Annahmen möglichst breit zu verständigen und nicht einfach die in den einzelnen Bundesländern derzeit gegebenen, sehr unterschiedlichen und nur historisch zu verstehenden Bedingungen einfach in die Zukunft fortzuschreiben, weil man dann nicht nur die Unterschiede (z.B. zwischen NRW und Rheinland-Pfalz), sondern auch die heute bereits im System angelegten Defizite in die Zukunft verlängern würde.

ErzieherIn.de: Welches sind die Ursachen für den Fachkräftemangel?

Stefan Sell: Neben den bereits beschriebenen großen Entwicklungslinien des Systems der Kindertagesbetreuung wird ein plausibler Fachkräftemangel auch durch das Berufswahlverhalten der jungen Menschen determiniert, die insgesamt deutlich weniger werden und um die sich ein immer stärkerer Konkurrenzkampf entwickelt. Darüber hinaus wird der mögliche Zufluss an neuen Fachkräften auch durch die Möglichkeiten oder eben Restriktionen beeinflusst, zu einem späteren Zeitpunkt in der Biografie beispielsweise durch eine qualifizierte Umschulung oder neue Anrechnungsverfahren für Seiteneinsteiger in das System zu kommen.

Eine eigenständige Bedeutung haben natürlich die Arbeitsbedingungen. Damit sind neben den Vergütungen auch die anderen Arbeitsbedingungen wie z.B. die fehlende Berücksichtigung der Vor- und Nachbereitungszeiten in den Arbeitszeiten gemeint. Was das Vergütungsniveau angeht, so signalisiert es keine große Attraktivität des Berufsfeldes. In Verbindung mit dem hohen Teilzeitanteil erscheinen weite Bereiche des Berufsfeldes heute leider reduziert auf eine - Frauen vorbehaltene – Zuverdiensttätigkeit, die einen entsprechenden Haushaltskontext im Privatleben voraussetzen.

Der Wettbewerb um die Fachkräfte

ErzieherIn.de: Wir erleben ja zur Zeit ein Gerangel um Fachkräfte, wobei sich praktisch die einzelnen Branchen Konkurrenz machen. Ich denke z.B. an die Werbung für Pflegekräfte und für ErzieherInnen. Wie beurteilen Sie diesen latenten Konkurrenzkampf um die personellen Ressourcen, die uns derzeit zur Verfügung stehen?

Stefan Sell: Generell gibt es hier zwei Beurteilungsperspektiven: Zum einen sehe ich das positiv, denn nur über zunehmenden Wettbewerb hat man heute die Chance, die Bedingungen im Feld substanziell zu verbessern. Insofern müsste und sollte der Fachkräftemangel noch stärker und/oder entsprechend kommuniziert werden. Insgesamt sehe ich nicht sofort direkte Konkurrenzen z.B. zwischen Pflege und dem frühpädagogischen Bereich, hier manifestieren sich eher die zunehmenden Personalbeschaffungsprobleme der sozialen und pädagogischen Berufe insgesamt.

Eine andere, etwas pessimistischere Perspektive würde hingegen darauf abstellen, dass die Chancen innerhalb des allgemein zunehmenden Konkurrenzkampfes angesichts der Startvorteile wie aber auch der größeren Freiheitsgrade bei den Angeboten, die wir in der normalen Wirtschaft vorfinden, für den frühpädagogischen wie auch für den pflegerischen Bereich sehr schlecht sind, denn hier sind wir ja konfrontiert mit „administrierten Preisen“, also Preisen, die vom Staat oder der Pflegekasse vorgegeben werden, und die nicht selten eine an sich dringend notwendige Verbesserung der Vergütung oder eine bessere Personalausstattung aus anderen, natürlich zuvörderst haushaltspolitischen Gründen blockieren.

Fachkräftemangel und Zuwanderungsperspektiven

ErzieherIn.de: Häufig wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, ausländischen Fachkräften den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Glauben Sie, dass eine erleichterte Einwanderung aus anderen Ländern das Problem für die Frühpädagogik und andere Berufssparten lösen könnte?

Stefan Sell: Grundsätzlich gilt in diesem, derzeit an Aktualität wie Sprengkraft gewinnenden Themenfeld: Es gelten immer die Gesetze der Ökonomie, auch auf dem Arbeitsmarkt, also alles ist eine Frage von Angebot und Nachfrage. Warum fokussieren die Arbeitgeber derzeit so stark auf Zuwanderung? Weil sie im Kontext des demografischen Wandels wissen, dass das Arbeitsangebot sinken wird, bei einer Nachfrage auf gleichem, partiell sogar wachsenden Niveau. Dann müsste nach allem, was der Ökonom im ersten Semester lernt, der Preismechanismus einen neuen Ausgleich herzustellen versuchen, konkret: Der Preis für die knapper werdenden Arbeitskräfte müsste steigen. Das ist sicher nicht im Interesse der meisten Arbeitgeber, deshalb suchen viele Funktionäre dieser Seite ihr Heil in einer über Zuwanderung herzustellenden Erhöhung des Arbeitsangebots.

Aber konkret zu unserem hier interessierenden Handlungsfeld: Ich sehe darin einige Chancen, bin mir aber der begrenzten Reichweite bewusst. Wir sollten die oftmals geforderte Willkommenskultur auch in diesem Bereich entwickeln und durch eine flexible, positive Anerkennungskultur gegenüber ausländischen Berufsqualifikationen Zugangswege in unser System eröffnen. Aber wir sollten zugleich realistisch bleiben und die vielfältigen praktischen Hürden sehen, wie beispielsweise die sprachlichen Hürden. Von den Differenzen hinsichtlich der mentalen Grundlagen oder der Erziehungs- und Bildungskonzepte ganz zu schweigen. Wichtiger wäre es in diesem Spannungsfeld, den individuellen Zugang zu unseren Systemen, wenn es denn passt, flexibler gestalten zu können, um Menschen einen Weg in dieses Berufsfeld zu eröffnen, die ansonsten an formalen Hürden gescheitert wären.

ErzieherIn.de: Viele junge Menschen stehen vor der Tür Europas und setzen teilweise ihr Leben ein, um durch eine Flucht aus Afrika oder Asien neue Lebenschancen zu erhalten. Sehen Sie eine Chance darin, vermehrt jungen Flüchtlingen den Zugang nach Deutschland zu ermöglichen und ihnen eine qualifizierte Ausbildung, z.B. auch für den frühpädagogischen Bereich zu ermöglichen?

Stefan Sell: Ein spannendes, aber höchst ambivalentes Thema, das so gut wie gar nicht offen andiskutiert wird. Ein Hinweis: Schon vor Jahren hat man sich in Brüssel in einer „Task Force“ mit der Frage beschäftigt, wo denn angesichts der demografischen Entwicklung nicht nur in der EU, sondern übrigens auch und gerade in Osteuropa, in den nächsten 20 oder 30 Jahren die zukünftigen Arbeitskräfte herkommen können. Ein Ergebnis war die Empfehlung, den maghrebinischen Raum, also die Staaten Nordafrikas, in die EU aufzunehmen, denn deren Gesellschaften zeichnen sich aus durch eine extrem junge Altersstruktur der Bevölkerung, mehr als 70% sind dort jünger als 30 Jahre. Aber seien wir ehrlich: Mit einer entsprechend auf diese Gesellschaften ausgerichteten Zuwanderungspolitik könnte man quantitativ sicher einiges erreichen. Jedoch können wir uns die massiven gesellschaftlichen Herausforderungen vorstellen, denn es würde sich um eine Zuwanderung von Menschen aus einem ganz anderen mental-religös-geschlechterbezogenen Kulturkreis handeln, was in Einrichtungen wie der Kindertagespflege besonders aufschlagen würde. Andererseits müssten wir erstens überhaupt einmal offen darüber diskutieren und Anforderungen definieren und zweitens sollten wir als Grundlinie immer den Einzelfall offen halten, also da, wo es zu passen scheint, auch schnell und flexibel eine Integration zu ermöglichen.

„Wir brauchen einen nationalen Plan zum Ausbau des Systems der Kinderbetreuung!“

ErzieherIn.de: Wenn wir uns die heutige Situation in Deutschland nochmal vor Augen halten: Es gibt ja sehr unterschiedliche Akteure, die auf verschiedene Weise, entsprechend ihren Kompetenzen und Einflussbefugnissen, die Situation ändern könnten. Fangen wir mit den staatlichen Instanzen an. Was könnte die Bundesregierung, was könnten die Länder, und was könnten die Kommunen tun, um dem Fachkräftemangel in der Frühpädagogik entgegenzuwirken?

Stefan Sell: Die wichtigste Forderung wäre: Wir brauchen einen nationalen, also alle drei Ebenen unseres föderalen Systems umfassenden Plan zum Ausbau des Systems der Kindertagesbetreuung – allein schon, um die „föderale Finanzierungsverflechtungsfalle“ zu lösen, die maßgeblich den Ausbau derzeit abbremst, aber darüber hinaus auch, um wenigstens Minimalstandards einer akzeptablen Qualität in der Kindertagesbetreuung durchsetzen zu können. Hinsichtlich der Frage nach einem Fachkräftemangel: Es ist doch bezeichnend, dass die Bundesregierung bis heute keine nationale und differenziert vorgehende Untersuchung in Auftrag gegeben hat und auch die Bundesländer haben bis auf wenige Ausnahmen wie Rheinland-Pfalz den Kopf bislang in den Sand gesteckt. Wir wissen also zugespitzt formuliert außer anekdotischer Evidenz nicht wirklich viel über den notwendigen Personalbedarf.

Was können die Träger tun?

ErzieherIn.de: Sicher sind auch die Arbeitsbedingungen in der Frühpädagogik für den Fachkräftemangel verantwortlich. Was könnten die Träger tun, um die Anziehungskraft des Arbeitsplatzes „Kita“ zu erhöhen?

Stefan Sell: Hierzu nur ein Beispiel: Unsere Untersuchung in Rheinland-Pfalz hat auf der Basis der ausgewerteten Erwerbsbiografien beispielsweise ergeben, dass das Kinderbetreuungssystem in den ersten drei Jahren nach der Ausbildung der neu hinzukommenden Fachkräfte bis zu 20% des Personals verliert, ein gewaltiger Aderlass. Und wir haben zeigen können, dass viele derjenigen, die dem System verlustig gegangen sind, in befristeten Verträgen und häufig auf Zwangsteilzeitstellen arbeiten mussten. Einen wie auch immer großen Anteil dieser Menschen hätte man halten können, wenn gerade am Anfang der Berufsbiografie attraktivere Arbeitsbedingungen ermöglicht werden. Hier sind die Träger in der Pflicht und auf der Grundlage solcher empirischer Erkenntnisse müssten dann spezielle Vereinbarungen mit den zuständigen Ländern getroffen werden, um dies zu ermöglichen. Eine zweite große Herausforderung für die Träger der Einrichtungen: Die innerbetriebliche Bewältigung des demografischen Wandels, also die flächendeckende Entwicklung und Implementierung eines alter(n)sgerechten Personalmanagements.

ErzieherIn.de: Welche Kompetenzen und Arbeitsbedingungen brauchen Leitungskräfte in der Kita, um ihr Personal zu halten?

Stefan Sell: Ich glaube, man muss die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen, die sich für Leitungskräfte ergeben, realistisch sehen. Leitungskräfte sind ja schon per se in einer oftmals schwierigen Sandwichposition zwischen „ihrem“ Team und „ihrem“ Träger, aus denen vielfältige Spannungslinien resultieren. Eine Minimalantwort auf ihre Frage könnte lauten: Die Leitung muss angesichts der sehr hohen Bedeutung, die das Teamklima für viele pädagogischen Fachkräfte hat, hier einen besonderen Schwerpunkt setzen. Ein sicher zunehmender Aufgabenbereich wird in Zukunft die nicht-triviale Frage darstellen, wie man in einer konkreten Einrichtung arbeiten kann, auch wenn der Altersdurchschnitt des Teams deutlich über den heutigen Werten liegen wird.

Das Ausbildungssystem: „Die zentrale strategische Zielgröße muss Durchlässigkeit heißen!“

ErzieherIn.de: Meine nächste Frage bezieht sich auf die Ausbildungssysteme. Allmählich haben sogar die Bildungsministerien und die Hochschulen begriffen, dass eine größere Durchlässigkeit von Vorteil ist – sowohl für die Anstellungsträger wie für die an der Frühpädagogik interessierten Stellensuchenden. Hier gibt es ja immer noch diverse Hemmnisse, die sehr langsam abgebaut werden. Welche Forderungen müssen Ihrer Meinung nach die Ausbildungsinstanzen erfüllen, um ihren Beitrag zu einer Verringerung des Fachkräftemangels zu leisten?

Stefan Sell: In der Tat muss die zentrale strategische Zielgröße Durchlässigkeit heißen – und zwar Durchlässigkeit in jeder Hinsicht, also von unten nach oben und von außen nach innen. Das bedeutet eine deutliche Flexibilisierung bei der Anerkennung von anderen Berufsabschlüssen, eine größere Offenheit für einen qualifizierten Seiteneinstieg, die Zulassung auch von Einstiegsqualifikationen in den Belegschaften, wenn es eine Aufstiegs- und Entwicklungsperspektive gibt.

Unsicher bin ich ehrlich gesagt mit Blick auf die weitere Akademisierung des Feldes. Hierzu nur ein Hinweis: Wir sind – aus historisch und situativ gut zu verstehenden Gründen – den Weg einer (zuspitzend formuliert) „Hyperspezialisierung“ gegangen, in dem Studiengänge mit teilweise sehr eingegrenzten fachlichen Zuschnitten im Feld der Frühpädagogik (oder „Kindheitspädagogik“, wie es wohl zukünftig heißen soll) generiert worden sind. Im Feld der Pflege übrigens, wo wir bisher eine versäulte Pflegeausbildung hatten, diskutiert man derzeit den Systemwechsel hin zu einer generalistisch ausgerichteten Pflegeausbildung, alle Spezialisierungen würden dann später und auf diese Basisausbildung aufsetzend stattfinden. Ich sehe das frühpädagogische Feld vor einer vergleichbaren Diskussion, die aber meines Wissens noch nicht so geführt wird.

„Systementwicklung der Kindertagespflege“

ErzieherIn.de: Der Ausbau der Kindertagespflege soll einen Teil der erforderlichen Betreuungskapazitäten liefern. Hier sind alle Beteiligten ja in einem Dilemma: Auf der einen Seite werden Tagesmütter/-väter gebraucht, um den steigenden Bedarf zu decken. Auf der anderen Seite werden die Qualifkationsanforderungen in der Kindertagespflege den Anforderungen an die staatlich anerkannten ErzieherInnen und KindheitspädagogInnen in keiner Weise gerecht. Wie sollte man mit diesem Dilemma umgehen?

Stefan Sell: Die Kindertagespflege hat es wirklich schwer – sie wird gerne von außen in Anspruch genommen (also als Lückenfüller, wenn wir an die Ausbaupläne denken oder als vermeintliche „Billiglösung“, wenn es klemmt) und von außen bewertet (und hierbei bekommt sie dann oftmals das Etikett des ungeliebten „Schmuddelkindes“ angeheftet, das sich der ganzen Professionalisierungsdiskussion irgendwie entzieht). Ich sehe das unaufgeregt: Die Tagespflege ist für mich ein notwendiger und gerade bei den Kleinsten ein nicht verzichtbarer Teil der Bildung, Betreuung und Erziehung. Man kann das jetzt so laufen lassen, dann allerdings besteht die Gefahr, dass hier die teilweise nicht akzeptablen Arbeitsbedingungen für die Tagespflegepersonen und die möglichen Qualitätsprobleme für die Kinder fortgeschrieben und sogar noch verschärft werden. Oder aber man geht hin und betreibt eine Systementwicklung, die ja mit der Gleichstellung von Tagespflege und Einrichtungen im SGB VIII auch schon angelegt ist: Das würde bedeuten, dass man das Tätigkeitsprofil klarer definiert und entsprechend unterlegt, also als eindeutige selbständige Tätigkeit mit dafür auskömmlichen Vergütungsstrukturen und parallel auch die Angestelltenlösung bei kommunalen oder freien Träger vorantreibt, um nur mal zwei Schneisen in den Debattenwald zu schlagen. Zentraler Dreh- und Angelpunkt hierfür wird die Diskussion sein über die Frage, was denn eine „leistungsgerechte Vergütung“ der Tagespflege sein und wie man die operationalisieren kann. Daran arbeitet mein Institut derzeit im Rahmen einer großen Studie. Allerdings wie vieles in dem Bereich, über den wir gesprochen haben, ein „klebriges“ Thema.

ErzieherIn.de: Herzlichen Dank für dieses Interview!

Das Gespräch führte Hilde von Balluseck

Prof. Dr. Stefan Sell: Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der FH Koblenz (ibus) und Professor für VWL, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften am Campus Remagen der Fachhochschule Koblenz. Herausgeber des sozialpolitischen Informationsportals „Aktuelle Sozialpolitik“ (www.aktuelle-sozialpolitik.de).

Nach einer Ausbildung zum Krankenpfleger Abitur auf dem zweiten Bildungsweg Studium der Sozialwissenschaften (Studiengang Wirtschaft) an der Ruhr-Universität Bochum. Danach Tätigkeiten auf unterschiedlichen Dienstposten bei der Bundesanstalt für Arbeit, Referent für Arbeitsmarktpolitik im Bundeskanzleramt in Bonn und Promotion an der Ruhr-Universität Bochum. Professor für Wirtschaftswissenschaften an der FH des Bundes für öffentliche Verwaltung in Mannheim und seit 1999 an der FH Koblenz.

Internet: www.stefan-sell.de
E-Mail: sell@rheinahrcampus.de

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