mehrere Kinder

Der Runde Tisch Heimerziehung - Ergebnisse

Ingo J. Skoneczny

31.07.2011 Kommentare (2)

Als ich vor einiger Zeit aufgefordert wurde, mich an der Debatte zum Thema „Heimerziehung in den 50er bis 70er Jahren“ zu beteiligen, da ich in diesen Jahren in Berlin einen persönlichen und beruflichen Einblick in das System Heimerziehung hatte, habe ich nicht sofort zugestimmt, da mir die politische Aktualität des erlebten Unrechts aus der Sicht der Betroffenen nicht klar war. Umgestimmt hat mich ein ehemaliges Heimkind mit ihrem erschütternden und aufwühlenden Bericht zu ihrem Leben in verschiedenen Heimen und ihrem Appell, dafür Sorge zu tragen, dass sie nie wieder in einem Heim untergebracht werden müsse. Denn nun stünde sie mit 75 Jahren möglicherweise vor einer neuen Heimunterbringung, diesmal in ein Altenheim. Die Zustände seien dort erwartbar nicht besser als früher im Kinderheim.

Dieser Gedanke und das damit verbundene Gefühl der Ohnmacht, der Angst und dennoch auch der Hoffnung auf Veränderungen und humane Entwicklungen, haben mich veranlasst mich einzumischen, wo auch immer ich das konnte.

Deshalb hier mein Bericht zum Stand der Dinge zur Arbeit des Runden Tisches Heimerziehung (RTH) im Sommer 2011.

Der Runde Tisch Heimerziehung ist im Wesentlichen das Ergebnis einer Initiative von ehemaligen Heimkindern, politischen Repräsentanten des Deutschen Bundestages und engagierten Wissenschaftlern, die sich seit Jahrzehnten mit dieser Thematik beschäftigen.

Im Jahr 2006 hat der Verein ehemaliger Heimkinder im Deutschen Bundestag eine Petition eingebracht, in der das Recht auf Einsichtnahme in die Heimakten gefordert wurde. Aus dieser Petition ging dann in Kooperation mit politischen Vertretern verschiedener Parteien nach langem Ringen der RTH hervor, der im Januar 2011 nach zweijähriger Arbeit seinen Abschlussbericht zu dem in der BRD zwischen den späten 40er und 70er Jahren an Heimkindern begangenen Unrechts vorgelegt hat.

Es gab im Deutschland der 50er bis 70er Jahre ein System der Heimunterbringung, welches nach unseren heutigen rechtsstaatlichen und pädagogischen Prinzipien als Unrechtssystem und als sozial-politischer Skandal bezeichnet werden würde.

Die Hintergründe der Heimunterbringung blieben für die Betroffenen im Dunkeln. Den Kindern und Jugendlichen wurde nichts erklärt. Die Rollen der Eltern, der Jugendämter, der Gerichte und der Pädagogen blieben für gewöhnlich verschattet von den realen Eindrücken einer Heimunterbringung, die brutal das neue Leben bestimmten.

In den Heimen der Bundesrepublik Deutschland wurden Jahrzehntelang grundlegende Menschenrechte verletzt, ja missachtet. Diese menschenverachtende, pädagogische Realität betraf in Deutschland in den 50er bis 70er Jahren etwa 800 000 Kinder und/oder Jugendliche.

Die dazu gehörende Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang und liest sich wie ein Auszug aus einem Horrorhandbuch der Schwarzen Pädagogik. Die Rede ist von:

  • Körperlicher Züchtigung
  • Arreststrafen
  • Essensentzug
  • Kollektivstrafen
  • Kontaktsprerren
  • Briefzenzur
  • Sexueller Gewalt
  • Religiösem Zwang
  • Zwangsmedikation
  • Arbeitszwang
  • Unzureichender bzw. fehlender Schulbildung

So verbirgt sich hinter dem Begriff „Arreststrafe“ zum Beispiel die Situation eines Heimkindes, welches seinen Schrank nicht richtig aufgeräumt hatte und noch bis in 70er Jahre damit rechnen konnte, sich für ein ganzes Wochenende in einem dunklen, sozial abgekapselten Raum wiederzufinden und- je nach Heim- auch mit Essenentzug oder anderen aggressiven Formen des Strafens konfrontiert wurde.

Gesprochen wurde nicht, erklärt wurde nichts.

Davon berichtet der Abschlussbericht zum Runden Tisch Heimerziehung (http://www.rundertisch-heimerziehung.de/aktuelles.htm).

Die zentrale Aufgabe des RTH bestand darin, Handlungsempfehlungen für den Bundestag zur Wiedergutmachung des verursachten Leids an ehemaligen Heimkindern vorzustellen.

Als erstes Ergebnis dieser Arbeit wurde nun im Mai 2011 ein Entschädigungsfonds (http://www.berlin.de/sen/bwf/presse/archiv/20110531.0850.346124.html) eingerichtet, an dem sich auch das Land Berlin beteiligt. Dieser Fonds ist für Opfer der westdeutschen Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren gedacht. Der Fonds hat ein Gesamtvolumen von 120 Mio €, an dem sich der Bund, die Kirchen mit je einem Drittel beteiligen. Der Rest wird von den alten Bundesländern und dem Land Berlin getragen.

Die neuen Bundesländer wollen, so ist zu erfahren, eine vergleichbare „Lösung für die Opfer des Unrechts, das Kindern und Jugendlichen in ehemaligen Heimen der DDR widerfahren“ (http://www.berlin.de/sen/bwf/presse/archiv/20110531.0850.346124.html) ist, herbeiführen.

Als zweites, vorläufiges Ergebnis wurde im März 2011 eine „ Anlaufstelle Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren" geschaffen, sodass alle Betroffenen künftig kompetente Ansprechpartner/innen haben (www.anlaufstelle-heimerziehung.de). Wobei der Begriff „Anlaufstelle“ von den betroffenen ehemaligen Heimkindern vehement wegen seiner Nähe zur Begrifflichkeit der damaligen Behörden abgelehnt wird. Auch hier dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.

Diese „Anlaufstelle“ soll bis zur Umsetzung der Lösungsvorschläge des Runden Tisches zur Verfügung stehen.

In diesem Zusammenhang sind noch sehr viele Fragen ungeklärt, denn gegenwärtig ist weder die „Schuldfrage“ noch die Frage nach den Gründen und Hintergründen der Heimunterbringung abschließend geklärt. Zu dieser Tatsache haben gelegentlich zuständige Akten führenden Behörden leider beigetragen, sodass die historische und persönliche Aufarbeitung der Heimunterbringung nicht immer möglich gemacht worden ist. Vor allem die Situation der Kinder und Jugendlichen innerhalb der Heimunterbringung ist nur annähernd bekannt und bedarf weiterer systematischer Aufarbeitung durch alle Beteiligten. Unstrittig scheint mir aber zu sein, dass die Aussage einer Betroffenen auf einem Treffen der Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder in Berlin, wonach die Heimunterbringung:

„(…)eine prägende Erfahrung mit schweren Belastungen für das ganze Leben war (…)“ im Wesentlichen auf alle Heimkinder übertragbar sein dürfte.

Aus diesem Grunde bin ich mit dem Stand der Dinge, wenn nicht froh, so doch in großer Anerkennung für das bisher Erreichte, denn das erlittene Unrecht wird nunmehr als solches anerkannt und es wird weiter nach Möglichkeiten der Rehabilitierung und/oder Wiedergutmachung gesucht werden.

Das Kapitel „Heimerziehung“ ist damit für die ehemaligen Heimkinder und für die Öffentlichkeit in Deutschland wieder geöffnet und ins Leben zurückgeholt worden und wir werden sehen, in welcher Weise sich der Prozess der Aufarbeitung für alle Beteiligten entwickeln wird.

Für alle am Thema „Heimerziehung“ Interessierten gibt es weiterführende Literaturtipps und demnächst – im August 2011- auch ein neues Fachbuch zu diesem Themenkomplex. Genauere und nähere Hinweise finden Sie dann via Suchmaschine im Internet.

Ich hoffe, dass ich einen kleinen Überblick zum Thema für alle Interessierten geben konnte und wünsche uns allen eine rege öffentliche Beteiligung und Diskussion über den Tag hinaus, denn, wie heißt es so schön in einem Leitgedanken von Hölderlin:

„Viel hat erfahren der Mensch, seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander.“

Literatur

Kappeler, Manfred: Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1980) und der Deutschen Demokratischen Republik. In: Forum Erziehungswissenschaften 2/2008, sowie die Seite: http://www.veh-ev.info/download/kappeler%20zum%20ab.pdf 

Döring, Marianne: Winter im Herzen -Meine Kindheit zwischen Hoffnung und Heim, Augsburg 2010

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Kommentare (2)

Hilde von Balluseck 22 Februar 2012, 07:33

Hallo,
ich hoffe nicht. Aber bitte erkundigen Sie sich dazu bei Ihrem Insolvenzverwalter, oder auch bei der Stelle, die die Leistungen auszahlt.

Mit freundlichen Grüßen
Hilde von Balluseck

Karin Bäcker 21 Februar 2012, 15:01

Wenn Leistungen gezahlt werden,sind diese nicht anzurechnen auf Transfairleistungen und Rente .Hat die Insolvens einen Aspruch auf dieses Geld ?

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