
Der Situationsansatz und die Bildungspläne
Bildungspläne – bundesweiter Rahmen und landeseigene Profile
Sie tragen verschiedene Titel, wie zum Beispiel: »Bildungsplan für Bildung, Erziehung und Betreuung« (Berlin), »Rahmenplan für Bildung und Erziehung« (Bremen), »Orientierungsplan für Bildung und Erziehung« (Baden-Württemberg), »Bildungsprogramm« (Saarland), »Bildungskonzeption für die 0- bis 10-jährigen Kinder« (Mecklenburg-Vorpommern). Und sie entstanden in einer Kultur des Dialogs in einem Netz der fachlichen Vertretungen auf Länderebene unter Einbezug interessierter Praxisvertreterinnen. In der Regel liegen sie heute in überarbeiteter Fassung oder einer Ergänzung vor. Die zweite veröffentlichte Version hat zwischenzeitliche Erkenntnisse eingearbeitet. Beispielhaft sei hier die Erweiterung auf die Altersgruppen der unter Dreijährigen genannt.
Der Bezugsrahmen auf Bundesebene: Konferenzbeschlüsse, die zwischen 2002 (Jugendministerkonferenz »Bildung fängt im frühen Kindesalter an«) und 2007 (»Ausbau der Tagesbetreuung für unter dreijährige Kinder«, vgl. Hebenstreit, S. 6 ff ) auf Bundesebene verabschiedet wurden, bilden den Bezugsrahmen mit allgemeinverbindlichen Qualitätsaussagen. Dieser gemeinsame Rahmen formuliert ein weit gefasstes Bildungsverständnis, betont die Bedeutung der kindlichen Aktivität im Bildungsgeschehen und die Unterstützung durch das Umfeld. Es geht um den Versuch, Themenfelder von einer Fächerorientierung abzugrenzen, es geht um Querschnittsthemen wie Partizipation, Interkulturalität, geschlechterbewusste Arbeit und um die Förderung von Kindern mit Entwick- lungsrisiken und solchen mit besonderer Begabung. Der gemeinsame Rahmen wird konkretisiert durch einige Prinzipien der pädagogischen Arbeit, wie zum Beispiel die positive Bedeutung der Heterogenität, die Bedeutung der Raumgestaltung und anderes.
Auf dieser Basis haben die Länder ihre eigenen Bildungspläne entworfen, ihre Philosophie zur frü- hen Bildung entfaltet und ausdifferenziert (Länder- profil). Diese bilden die Grundlage für trägerspezifi- sche und/oder einrichtungsspezifische Konzepte und zeigen eigene pädagogische Schwerpunkte, bieten aber genügend pädagogischen Freiraum für trägerspezifische Konzepte.
Ein Blick zurück: Das Fundament für die neuen Bildungsanstrengungen wurde in den 70er Jahren gelegt.
Mit der Verantwortung des Kindergartens für die frühe Bildung formierten sich in den 70er Jahren ältere reformpädagogische Ansätze wie Freinet-Pädagogik, Waldorfpädagogik und Montessori-Pädagogik neu, gleichzeitig entwickelten neue Ansätze wie die Reggio- Pädagogik und der Situationsansatz mit ihren Konzepten Antworten auf die neuen Herausforderungen.
Modellversuche, Projekte und Initiativen zur Qualitätsentwicklung sorgten in der Folge für eine zunehmend fundierte Fachlichkeit, zumindest entstanden viele Inseln überzeugender Fachlichkeit. Und es ging neben den Aussagen zu Bildung, Betreuung und Erzie- hung auch um die Qualifizierung der Erzieherinnen. Auch das wird in den Bildungsplänen aufgegriffen.
Die Basis für ein überzeugendes frühpädagogisches Angebot war also längst gelegt, bevor die Ergebnisse der PISA- und anderer Studien mit dem schlechten Abschneiden Deutschlands den »schwarzen Peter« auch in der frühen Bildung suchten. Die Diskussion in Politik und Medien sowie vor allem neue neurobiologische Erkenntnisse lenkten die Wertschätzung auf den Bereich frühe Bildung. Auch die Tatsache, dass andere europäische Länder bereits ihre frühpädagogische Arbeit an Bildungsplänen orientierten, erzeugte Handlungsbedarf, der gepaart war mit der Überzeugung, Vorhandenes zu zeigen, weiterzuentwickeln und in einen neuen Kontext zu stellen.
Dieser Prozess der Formulierung von Empfehlungen und Vereinbarungen zur frühen Bildung in Kindergärten war gewaltig im Aufwand, erstaunlich schnell in der Entstehung und beeindruckend in der Qualität. Die länderübergreifende Kultur des Dialogs und der Kooperation zwischen Verantwortlichen in Ministerien, Forschungsinstituten und Verbänden sowie Praxisvertreterinnen zeigte Früchte.
»Der Situationsansatz hat über drei Jahrzehnte das konzeptionelle Selbstverständnis des Kindergartens geprägt.« (Sigurd Hebenstreit)
In seiner interessanten Studie über die »Bildungspläne der Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland« (Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, 2008) beschreibt Hebenstreit die Rolle des Situationsansatzes als das Konzept, das seit den 70er Jahren Pate steht für einen Großteil der Erzieherinnen, wenn sie die Bildungsqualität in ihrer Arbeit beschreiben: »Die Konzeption, die den Kindergarten auf die Höhe der Zeit brachte, war der Situationsansatz« (S. 4).
Gleichwohl wissen wir, dass sich unter dem Begriff »Situationsansatz« Unterschiede und Missverständnisse tummelten (vgl. hierzu den Beitrag von Christa Preissing). Er hat in seiner ursprünglichen Verfasstheit bundesweit Fuß gefasst, wurde für viele Träger zur konzeptionellen Grundlage, war für wesentliche Bundesprojekte wie »Orte für Kinder« (Deutsches Jugendinstitut) und »Kindersituationen« (Institut für den Situationsansatz in der Internationalen Akademie an der Freien Universität Berlin) und für viele landeseigene Projekte die pädagogische Grundlage und hat sich sowohl zur Qualifikation der Erzieherinnen als auch der Qualität der Arbeit ausgewiesen.
Der Situationsansatz in den Bildungsplänen
Hier aus Platzgründen ein exemplarischer Blick auf zwei Bundesländer: Berlin und Rheinland-Pfalz.
Berlin beauftragte als erstes Bundesland die Internationale Akademie (INA) gGmbH an der Freien Universität Berlin unter Leitung von Christa Preissing mit der Formulierung des Bildungsplans. Unter Mitarbeit der Gremien und Organisationen der Jugendhilfe, der Elternvertretungen und engagierter Fachkräfte entstand ein konsensfähiger Bildungsplan, der über Berlin hinaus fachliche Zustimmung erhielt.
Hamburg und Saarland beauftragten ebenfalls die INA. In einer vergleichbaren Netzwerkarbeit entstanden auch dort überzeugende Bildungspläne.
In Rheinland-Pfalz schrieben Verbände, Kirchen, Vertreter der Eltern und Fachkräfte unter Federführung des zuständigen Ministeriums den Bildungsplan. Während also in Berlin und Hamburg ein mit dem Situationsansatz ausgewiesenes Institut den Auf- trag übernahm, betont Xenia Roth, die für den Kindergarten verantwortliche Abteilungsleiterin im Kultusministerium in Rheinland-Pfalz, die enge Verflechtung des Bildungsplans mit dem Situationsansatz. Und sie verweist auf die Geburtsstunde dieses Konzepts, das von 1972 bis 1976 gemeinsam mit Erzieherinnen in Rheinland-Pfalz und Hessen in dem Curriculum »Soziales Lernen« konkretisiert wurde. In der Folge wurde in Kooperation mit dem Institut für den Situationsansatz (ISTA) der INA gGmbH eine breite und erfolgreiche Bewegung zur Qualifizierung der Erzieherinnen für die Arbeit mit dem Situationsansatz gefördert. Dieses Konzept kennt eine breite trägerübergreifende Akzeptanz in diesem Bundesland.
Der Bildungsplan, dem ein Zitat von Malaguzzi vorangestellt ist, zeigt in allen wesentlichen Kapiteln die Offenheit für innovative Pädagogik, wie sie in der Reggio-Pädagogik und dem Situationsansatz bekannt sind, und widmet ein eigenes Kapitel dem Lernen nach dem Situationsansatz. Die Materialien zur Qualitätsentwicklung des Situationsansatzes bilden eine hilfreiche Basis für die Umsetzung des Bildungsplans in Rheinland-Pfalz.
Der Berliner Bildungsplan – er steht im Wesentlichen auch beispielhaft für Hamburg und das Saarland – arbeitet vor allem auf den Ebenen der Bildungsdimensionen, der Kompetenzbereiche und der Aufgaben der Erzieherinnen. Diese Ebenen kehren in der Bearbeitung der Bildungsbereiche wieder, in denen das Spiel und das projektorientierte Lernen besonders bedeutsam sind. Jeder Bildungsbereich beginnt mit prägnanten Kurzkapiteln zum Thema, die bereits zur Auseinandersetzung auffordern. Die anschließenden Analysefragen laden Kinder, Eltern und Erzieherin- nen zu Erkundungen ein. Die Zielformulierungen konkretisieren die vier Kompetenzbereiche.
Im Berliner Bildungsprogramm ist der Situationsansatz – ohne genannt zu werden – grundlegendes Konzept, aber er ist ebenso offen für andere Trägerkonzepte, die sich auf den bundesweit vereinbarten Bezugsrahmen beziehen.
Die Konferenzbeschlüsse der Bundesgremien beziehen sich nicht nur auf die Qualität der frühen Bildung, sie formulieren auch den Anspruch auf Qualifizierung (Aus-, Fort- und Weiterbildung). In diesem Verständnis unterliegt die Ausbildung zur Erzieherin einem Wandel, und in den Bundesländern werden Fortbildungen angeboten, die es den Fachkräften erleichtern sollen, die Anforderungen einer an dem jeweiligen Bildungsplan orientierten Arbeit einzulösen.
Dort, wo es eine enge inhaltliche Nähe zum Situationsansatz gibt, ist es plausibel, dass sich beide Fort- und Weiterbildungsangebote ergänzen. Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass beide – sowohl der Bildungsplan als auch der Situationsansatz – davon profitieren.
Rita Haberkorn
Mitbegründerin des Situationsansatzes; 25 Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Jugendinstitut; jetzt hauptberuflich in der Erzieherausbildung tätig; zahlreiche Publikationen.
Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus Heft 2 von Welt des Kindes. Ein weiterer Beitrag aus diesem Heft widmet sich der Kritik am Situationsansatz: http://www.ktk-bundesverband.de/84533.
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