
Die Zeitvorstellung junger Kinder und das Zeitverständnis unserer Gesellschaft
Wie beeinflusst der allgegenwärtige Zeitdruck das Leben und die Zeitvorstellungen junger Kinder? Die beginnende soziale „Bewegung für Langsamkeit“ kann auf den Umgang mit Zeit ausgedehnt werden. Wir übernehmen den Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von Betrifft Kinder aus dem Beiheft Kinder in Europa, Heft 11/2013.
Brüssel, 19.50 Uhr. Lucas, fast vier Jahre alt, hat eine Gutenachtgeschichte ausgewählt und sitzt neben seinem Vater im Bett. Der fängt an zu lesen, doch schon nach wenigen Sekunden hört er, dass sein Arbeits-Handy im Wohnzimmer klingelt. Er liest weiter, überspringt jedoch hier und da einen Satz. Nun dringt der Ton für eingehende Mails an sein Ohr. Er liest schneller und überspringt kleinere Absätze. Lucas protestiert: „Die Geschichte geht anders! Hier passiert dies und dort das.“ Der Vater wird ungeduldig. Es sei jetzt schon spät, Zeit zum Schlafen. Lucas fragt: „Papa, erzählst du mir an einem anderen Tag eine Geschichte, die 1000 Minuten lang ist?“ Der Vater antwortet: „Ja, ich verspreche, dass ich morgen mehr vorlese.“ Lucas erhält einen Gutenachtkuss, dann springt der Vater auf und läuft den eingegangenen Nachrichten entgegen.
Verfügt ein Kleinkind über ein Bewusstsein vom Vergehen und von der Dauer der Zeit? Wie gewinnen junge Kinder Zeitorientierung und ein Verständnis von Vergangenheit und Zukunft? Wie gehen sie mit Wartezeit um? Welche Basis braucht es, damit kognitives Wissen über den Umgang mit Zeit angewendet wird? Wie wirken die Interaktionen des Kindes mit seiner Umgebung auf seinen Umgang mit Zeit?
Heute ziehen diese grundsätzlichen Fragen weitere nach sich: Wie beeinflussen die Beschleunigung im modernen Leben und die Zeitzwänge die soziale Seite unserer Zeitvorstellungen, einschließlich der Zeit, die wir mit Kindern verbringen?
In der Geschichte von Lucas und seinem Vater wird deutlich, dass ihre unterschiedlichen Zeitvorstellungen und die „der Gesellschaft“ in Form der eingehenden Nachrichten in Konflikt geraten. Zeit wird wie Geld gezählt und gespart. Für Kinder bedeutet der Besuch einer Krippe oder eines Kindergartens, dass sie sich mit einer „vereinbarten Zeit“ auseinander setzen oder sich sogar dem „Diktat der sozialen Uhr“ stellen müssen.
Tatsächlich werden Pflege und Bildung junger Kinder häufig so organisiert, dass Zeit als Dreh- und Angelpunkt alle Erfahrungen und pädagogischen Aktivitäten strukturiert. In vielen Einrichtungen sind strikte Tagesabläufe, Beschäftigungsprogramme, Glöckchen und genaueste Pausenzeiten Beweis genug. Doch Kinder haben lange Schwierigkeiten, sich in die Zeitzwänge einzufügen, selbst wenn sie gern Zeit mit anderen Menschen verbringen.
Die Zeitvorstellung junger Kinder
Zeit kann wie Raum, Ursache und Wirkung, Zahl und Objekt als grundlegende Kategorie des Wissens und des Realitätsverständnisses betrachtet werden. Obwohl Kleinkinder offensichtlich noch nicht das gleiche Zeitverständnis wie ältere Kinder oder gar Erwachsene haben, verfügen sie über ein gewisses Bewusstsein, das wir uns wie ein Mosaik vorstellen können. So ein Mosaik setzt sich aus Erfahrungen, Wahrnehmungen, Verhaltensweisen, Einstellungen und unterschiedlichen Zeitstrukturen zusammen: der physischen, der rhythmisierten, der in Worte gefassten, der individuellen, der familiären und der sozialen Zeit. Junge Kinder unterscheiden sich von älteren Kindern, Teenagern und Erwachsenen am meisten dadurch, dass sie nur ein bruchstückhaftes, nicht strukturiertes Zeitwissen besitzen.
Forschungsergebnisse über die frühkindliche Entwicklung lassen uns annehmen, dass bereits vor der Geburt Zeitstrukturen existieren, um die herum Handlungen und Erfahrungen organisiert werden. Babys scheinen darauf „vorbereitet“ zu sein, ihre Reaktionszeiten zu regulieren, um mit ihrer Umgebung interagieren zu können. Sie reagieren besonders auf Zeitrhythmen. Sehr schnell nehmen sie zyklische Veränderungen in der Umgebung wahr und passen sich zum Beispiel nach und nach dem veränderten 24-Stunden-Rhythmus der Mutter an. Nach der Geburt gestalten sie die – unterschiedlichen – Rhythmen in der Interaktion mit Mutter oder Vater mit. Die ersten Erfahrungen ermöglichen jedem Kind, sich zeitlich an die Welt anzupassen, die ihm während der Pflegeroutinen, im Spiel und im sprachlichen Handeln mit den Eltern begegnet.
Anders als das lineare und logische Bild von der Zeit, über das ältere Kinder und Erwachsene verfügen, setzt sich das Bild der Kleinkinder aus vielfältigen Handlungszeiten und deren jeweiliger Dauer zusammen. Wir nehmen an, dass dieses Zeitgefühl auf Körpererfahrungen beruht. Es wird handlungsbezogen, konkret und emotional verbunden, aber zunächst ohne Zusammenhang erlebt. Zeiterfahrung entwickelt ein Kind durch tägliches Erleben Stück für Stück, zum Beispiel durch regelmäßige Besuche und indirekt auch durch die Abwesenheit der Eltern, die zur Arbeit gehen.
Über das fortschreitende Verstehen von oder Wissen um Rhythmen gewinnt das Zeitverständnis Form. Dabei werden die Rhythmen wesentlich durch Interaktionen mit den das Kind umgebenden Personen repräsentiert.
Das Zeitbewusstsein erwächst aus der Kontinuität bestimmter Handlungsabläufe und Erfahrungen ebenso wie aus dem Wahrnehmen von Diskontinuität und Veränderung. Um Ordnung und Dauer bewusst wahrnehmen zu können, müssen gewohnte Aktivitäten in anderer Reihenfolge erlebt werden. Wie die Wahrnehmung von Zyklen erfordert die gedankliche Einordnung neuer Vorstellungen, dass die gleichen Aktivitäten wiederholt auftreten. Stabilität und Vorhersagbarkeit zum Beispiel bei Pflege- und anderen Handlungen ermöglichen dies. Der Ausgleich zwischen Diskontinuität und Kontinuität erlaubt dem Kind, Ereignisse in ihrer zeitlichen Dimension zu bemerken.
Für die Entwicklung einer Vorstellung von Zeit und des Zeitbewusstseins spielt die sprachliche Begleitung Erwachsener bei gemeinsamen Handlungen eine große Rolle. Erklären die Eltern zum Beispiel, was nach dem Ausziehen folgen wird, bilden sich Handlungsfolgen ab. Bitte Eltern das Kind, kurz zu warten, kündigen sie Gefahren oder etwas Unangenehmes an, vermitteln sie dem Kind nicht nur die jeweilige Tatsache, sondern zugleich ein auf Zeit bezogenes Denken: Wiederholung, Vorwegnahme, Einfluss auf Abläufe.
Am Ende unseres Beitrags wollen wir betonen, wie wichtig Tagträume für Kinder sind. Nicht weniger wichtig ist die Erfahrung von Langeweile. Solchermaßen gefüllte Zeit scheint nicht in unsere Zeit zu passen. Doch schon seit mehreren Jahren finden Initiativen für Langsamkeit, allen voran „Slowfood“, Nachahmer auf anderen Gebieten. Es gibt „slow childhood“, „slow education“ und „slow parenting“ – Initiativen für langsame Kindheit, Bildung und Elternschaft. Dahinter steckt die Idee, Kindern und ihrer Entwicklung Zeit zu geben, der erforderlichen Zeit Zeit zu lassen.[1]
Wir glauben, dass diese Idee auch auf das Verständnis von Zeit an sich angewandt werden kann, weil dieses Verständnis durch die Wahrnehmung von Rhythmen, Interaktionen und sprachlicher Begleitung entwickelt wird. Kontinuität, Wiederholung und Rhythmus bei den Alltagshandlungen unterstützen das Erkennen von Zeitbezügen zwischen von außen kommenden Ereignissen (ihrer gegebenen Reihenfolge) und dem inneren Erleben (der Dauer) dessen, was geschieht. Wird die Entwicklung eines ersten Zeitbewusstseins von Sprachhandlungen Erwachsener begleitet, die wichtig für das Kind sind, fällt es ihm leichter, seine Erfahrungen nach und nach in eigene Worte zu fassen. Es kann seine eigenen Vorstellungen entwickeln, kann Vergangenes gedanklich erfassen und Zukünftiges vorwegnehmen, kann abwarten und die Befriedigung von Bedürfnissen aufschieben.
Am nächsten Tag klettert Lucas ins Bett. Er erinnert seinen Vater an das Versprechen, eine ganz lange Geschichte vorzulesen. Sein Vater setzt sich entspannt zu ihm, liest zwar nur eine kurze Geschichte, würzt sie aber mit Einzelheiten, so dass Lucas' Augen leuchten.
An diesem Abend ist die Geschichte nicht länger als am vorigen, doch Lucas schläft im freudigen Bewusstsein einer „1000-Minuten-Geschichte“ ein.
Lotta De Coster ist Professorin für klinische Psychologie und
Entwicklung. Caroline Blanchard ist pädagogische und klinische Psychologin.
Beide arbeiten im Fachbereich Psychologie der Entwicklung und Familie an der
Freien Universität von Brüssel, Belgien.
Kontakt: lodecost@ulb.ac.be