Drei Fragen an den Bildungsforscher Helmut Fend
Helmut Fend ist u.a. bekannt für die „LifE-Studie“, in der er von 1979 bis 1983 die Lebensläufe und die psychosoziale Entwicklung von 1500 Personen vom 12. bis 35. Lebensjahr untersuchte. Große Aufmerksamkeit widmete er dabei den Auswirkungen schulischer und sozialer Erfolge von Jugendlichen auf ihr erwachsenes Leben. Zwanzig Jahre später befragte er die damaligen Jugendlichen erneut. So entstand ein detaillierter Datensatz, wie es ihn bislang noch nicht gegeben hat.
Herr Professor Fend, Sie haben über einen Zeitraum von gut 20 Jahren die Lebensgeschichten von über 1500 Menschen untersucht und nach den Bedingungen geforscht, die zu einem gelungenen Leben führen. Wie stehen Sie heute zu dem Satz „Jeder ist seines Glückes Schmied“?
Pestalozzi hat die wunderbare Formulierung gefunden: Der Mensch ist das Werk der Natur, das Werk der Gesellschaft und das Werk seiner selbst. Das konnte ich in vielen empirischen Studien, auch in unserer Langzeitstudie, bestätigt finden. Inwieweit jemand über das eigene Schicksal bestimmen kann, hängt sehr von den Umständen ab. Noch vor 200 Jahren war es nur einem kleinen Teil der Bevölkerung gegeben, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, Geburt und Stand haben das Leben weitgehend vorbestimmt. Als eine der großen Erfolgsgeschichten der Moderne erleben heute viele die Chance, über schulische Bildungsprozesse das eigene Schicksal in die Hand nehmen zu können.
Die moderne Pädagogik hatte die großartige Vision entwickelt, alle und jede in die Schule einzubeziehen und zu verantwortlichen Gestaltern des eigenen Lebenslaufs zu machen. Alle sollten sich gleichermaßen an den Vorgaben schulischer Lernangebote abarbeiten können. Das wurde auch großenteils realisiert. Ohne die Schule hätten viele weder heute noch früher eine Chance gehabt, das Leben als Werk ihrer selbst zu erleben und zu gestalten. So kamen ca. 30 Prozent der Kinder, die wir mit unserer Forschung begleitet haben, aus nicht-gymnasialen Elternhäusern zum Abitur. Bei solchen, bei denen zumindest ein Elternteil schon ins Gymnasium ging, waren es über 70 Prozent. Damit zeigt sich zweierlei: Chancen und die herkunftsbedingte Abhängigkeiten von Chancen.
Für die seelische Stabilität ist ein zweiter Entwicklungsweg bedeutsam: nicht jener über Bildung, sondern jener über Bindung.
In Hamburg tobt gerade ein „Schulkrieg“ über die Frage, ob Kinder länger gemeinsam lernen sollen oder nicht. Es scheint, als würden diese Debatten von Jahr zu Jahr emotionaler und heftiger geführt, wohl weil Bildung als Schlüssel für eine erfolgreiche Karriere und ein glückliches Leben gilt. Aber stimmt das überhaupt?
Die Eltern, die Bildung als Schlüssel für eine erfolgreiche Lebensbewältigung sehen, liegen durchaus richtig. Deshalb investieren sie auch so viel, für viele gehört die bestmögliche Förderung der wenigen Wunschkinder zum Kern und Beweggrund ihres Lebens. Für die Vereinbarkeit dieses Wunsches mit der eigenen beruflichen Laufbahn nehmen sie viel Mühe in Kauf, in der Regel bekommen sie dafür aber auch viel zurück.
Ein hohes Bildungsniveau und ein guter Bildungsabschluss sind Voraussetzung für eine anspruchsvolle Berufslaufbahn, einen relativ sicheren Arbeitsplatz und ein gutes Einkommen. Selbst das Gesundheitsverhalten (Bewegung, Abstinenz vom Rauchen, ein gesundheitsförderndes Gewicht) hängen mit dem Bildungsniveau zusammen. Im Alter übersetzt sich dies in hohe Lebenserwartung, selbständige Lebensführung und geringe Krankheitsanfälligkeit. Auch die Offenheit der Welt gegenüber, liberale und engagierte politische Einstellungen und kulturelle Interessen hängen mit dem Bildungsniveau zusammen.
Unsere Langzeitstudien haben aber eine wichtige Grenze gezeigt: Mit der Bildungslaufbahn ist nicht die ganze Breite des Lebensglücks bestimmbar. Psychische Gesundheit, seelische Stärke, der Schutz vor Depression sowie die Lebenszufriedenheit sind nicht vom Bildungsniveau abhängig. Man kann auf allen Stufen der Schulabschlüsse glücklich werden. Für die seelische Stabilität ist ein zweiter Entwicklungsweg bedeutsam: nicht jener über Bildung, sondern jener über Bindung. Die sozialen Beziehungen, die jemand gelernt hat aufzubauen und zu pflegen, und die sozialen Beziehungsmuster hängen dicht mit dem „Glück“ der jungen Erwachsenen zusammen.
Kann Schule dazu beitragen, dass alle Kinder die gleichen Startchancen erhalten?
Wie erwähnt, ohne Schulen hätten große Gruppen von Schülern kaum eine Chance des sozialen Aufstiegs. Der Aufstieg führt für viele über diesen Pfad. Er wird aber in Zukunft schwieriger werden, da z.B. in Hamburg heute rund 25 Prozent der Gymnasiasten aus Elternhäusern kommen, die selber kein Gymnasium besucht haben. Schule kann mehr aber eben auch weniger dazu beitragen, dass die Chancen auch dieser Kinder, insbesondere solcher mit Migrationshintergrund, steigen.
Bevor Kinder zur Schule kommen, ist schon viel passiert, sie betreten die Schule mit sehr unterschiedlichen Ressourcen. Oft treffen mehrere Jahrgänge kognitiver Entwicklung in einer Klasse aufeinander. Hier könnte man viel tun und zwar gezielt für solche, die es bildungsmäßig von Haus aus nicht leicht haben.
Die Schule kann auch viel tun, um Sackgassen zu vermeiden. Geschieht dies, entstehen immer erneut Chancen, nach neuen Erfahrungen auch neue Wege einzuschlagen. Unsere 12-Jährigen z.B. haben zu mehr als 30 Prozent andere Bildungswege eingeschlagen als die, die ihnen ursprünglich durch die Eingruppierung in Schulformen vorgegeben wurden. Wenn die Akzeptanz gegeben ist, die lokalen Umstände es nahelegen und die historischen Umstände hilfreich sind, dann ist längeres Lernen durchaus ein Instrument, das in Verbindung mit einer guten Pädagogik hilfreich sein kann. Wenn dem nicht so ist, dann ist die Pflege zweiter Chancen zu anspruchsvollen Bildungswegen eine wichtige Strategie. Schule kann also durchaus etwas tun. In der gegenwärtigen historischen Phase würde ich den Schwerpunkt auf sozialpolitische Maßnahmen legen, die gezielt und mit sichtbaren Investitionen jenen helfen, die es von Geburt und Lebenslage her nicht so leicht haben, das beste aus ihren Möglichkeiten zu machen.
Die Fragen stellte Stefan Ertner
Vita/Publikationen: Helmut Fend. Seit 2006 emeritierter Ordinarius für Pädagogische Psychologie an der Universität Zürich. Mitglied der Schulkommission der Heinrich-Böll-Stiftung. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Entwicklung im Jugendalter, Bildungssysteme und Schulentwicklung. Jüngste Veröffentlichung: Helmut Fend, Fred Berger und Urs Grob (Hrsg.): Lebensverläufe, Lebensbewältigung und Lebensglück. Ergebnisse der LifE-Studie, Verlag für Sozialwissenschaften, 2009.
Diesen Beitrag übernehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von Böll Thema 3 2010, einer Zeitschrift der Heinrich Böll Stiftung. Weitere Beiträge dieses Heftes finden Sie unter http://www.boell.de/publikationen/publikationen-boell-thema-3-2010-sozialer-aufstieg-10199.html

