
Editorial Juni/Juli 2012: Die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) in der Frühpädagogik
Lange hat die Frühpädagogik Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – die sogenannten MINT-Fächer - vernachlässigt. Die Erkenntnis, dass auch junge Kinder Freude am Entdecken und Erforschen von Physik, Chemie, Technik und Mathematik haben, ist für die Bildungsforschung und die Kindheitspädagogik relativ neu. Heute finden sich diese Inhalte in den Studiengängen zur Frühen Bildung und Erziehung bzw. Kindheitspädagogik, und auch die Fachschulen bemühen sich, dem Anspruch auf Bildung in diesen Bereichen gerecht zu werden.
ErzieherIn.de hat sich im Zusammenhang mit diesem Thema einigen Fragen zugewandt, die zwar in der fachlichen Diskussion auftauchen, aber kaum je gemeinsam reflektiert werden. Zum einen stellen sich pädagogische Fragen im Zusammenhang mit den Kindern: Ab wann können wir Kindern eine naturwissenschaftliche Bildung zumuten, ohne sie zu überfordern? Sollten Kleinstkinder schon mit Technik und Informatik in Berührung kommen? Weitere pädagogische Fragen stellen sich im Zusammenhang mit der Ausbildung von ErzieherInnen und GrundschullehrerInnen: Welche Aufgaben haben die verschiedenen Ausbildungsinstanzen – Fachschule, Fachhochschule, Universität - bei der Ausbildung zu übernehmen? Welche Folgerungen ergeben sich aus der inhaltlichen Nähe der Kompetenzen von ErzieherInnen und GrundschullehrerInnen für die Ausbildung? Wie gehen wir mit Erzieherinnen um, die durch die Schule einen Widerstand gegen naturwissenschaftliche Kenntnisse aufgebaut haben und jetzt die Bildungspläne umsetzen sollen? Werden die Bildungspläne den kindlichen Bedürfnissen überhaupt gerecht? Und schließlich die Frage: Fließt das Geld für die Förderung der MINT-Fächer in die richtigen Kanäle?
Prof. Dr. Hilde Köster
Ich freue mich, dass wir eine Expertin der ersten Stunde für dieses schriftliche Interview gewinnen konnten: Prof. Dr. Hilde Köster, die 2007 auf den ersten Lehrstuhl für diese Fächer an die Alice Salomon Hochschule Berlin berufen wurde und inzwischen an der Freien Universität Berlin lehrt und forscht. Sie gibt zu den gestellten Fragen fundierte Antworten und Anregungen. Ihnen, den NutzerInnen des Portals www.ErzieherIn.de, wünsche ich einige Aha-Erlebnisse beim Lesen dieses Interviews.
Ihre
Hilde von Balluseck
Das Interview
Der Werdegang zur Professorin für die MINT-Fächer
ErzieherIn.de: Als Sie auf den ersten Lehrstuhl für MINT-Fächer in der Frühpädagogik berufen wurden, waren die Universitäten noch sehr zurückhaltend, was die frühkindliche Bildung betraf. Wie kam es, dass Sie sich in diesem Bereich qualifiziert haben – was hat Sie persönlich motiviert, diese neuen – und zunächst nicht mit akademischem Glanz versehenen – Wege zu gehen?
Hilde Köster: Für mich war es damals eine außerordentlich interessante Herausforderung als Professorin für Naturwissenschaft, Mathematik und Technik in einem noch jungen und äußerst innovativen Studiengang tätig werden zu können. Aus der Grundschullehrerbildung kommend konnte ich auf acht Jahre an Erfahrungen mit – überwiegend weiblichen – Studierenden zurückblicken, die sich zunächst in der Regel nicht besonders für die Naturwissenschaften oder die Technik interessierten. Diese angehenden Grundschullehrer/innen neu für Phänomene und Experimente, für das Konstruieren und Bauen zu interessieren, war für mich zu einer überaus spannenden Aufgabe geworden.
Schon während meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Physik an der Universität Essen stellte ich 2003 fest, dass weder die Studierenden noch die Lehrerinnen und Lehrer, mit denen wir damals zusammen arbeiteten, im Unterricht adäquat auf die vielfältigen außerschulisch erworbenen naturwissenschafts- oder technikbezogenen Erfahrungen der Kinder eingingen. Kinder im ersten Schuljahr wurden nicht selten, wohl zumeist eher unbewusst, als ‚unbeschriebene Blätter’ angesehen, die erst mit dem Beginn der Schule mit dem ‚richtigen’ Lernen begannen. (Noch heute spricht man in der Mathematikdidaktik oft von ‚Vorläuferfähigkeiten’, wenn man die Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen von Vorschulkindern im Bereich der Mathematik beschreiben möchte).
Damals begann ich gemeinsam mit einigen interessierten Studierenden Kooperationen mit Kindergärten in der Region aufzubauen, um einerseits die Interessen dieser Kinder auf dem Gebiet der Naturwissenschaften zu erforschen und andererseits die Fortbildungsbedürfnisse bei Erzieherinnen und Erziehern zu erheben. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden damals zwei Bücher, eines zum Experimentieren und eines zum Thema Technik in der Kita (Köster 2005 a,b).
Während meiner Tätigkeit an der Universität Münster in der Didaktik der Physik konnte ich diese Arbeit fortsetzen und vertiefen, sodass in Zusammenarbeit mit einem Kollegen aus der Technikdidaktik eine Lernwerkstatt, das KiLa (Kinderlabor, http://www.uni-muenster.de/Physik.DP/projekt_kila.html) entstand, in der wir vielfältige Angebote für Kindergartenkinder realisieren sowie eine umfassende Weiterbildungsreihe für Erzieher/innen aus der Region entwickeln und durchführen konnten. Dieses neue Angebot rief ein großes und sehr positives Echo in Presse und Öffentlichkeit hervor.
Mit diesen interessanten Erfahrungen im Gepäck, aber auch mit vielen Fragen und neuen Ideen kam der Ruf an die Alice Salomon Hochschule in Berlin für mich damals gerade zum rechten Zeitpunkt. Meine Arbeit im damals noch sehr jungen, aber dennoch bis heute vorbildlichen Studiengang ‚Erziehung und Bildung im Kindesalter’, der durch Sie, Frau von Balluseck, ins Leben gerufen worden war, wurde durch die hervorragende Unterstützung seitens der Hochschulleitung, vielen überaus engagierte Mitarbeiter/innen und Kolleg/innen sehr gefördert. Innerhalb sehr kurzer Zeit konnten wir so insbesondere für den MINT-Bereich eine aktivierende Lernumgebung für die Studierenden einrichten, die eine optimale Theorie-Praxis-Vernetzung ermöglichte.
Die sehr positiven Erfahrungen mit den in aller Regel intrinsisch (!) motivierten Studierenden im grundständigen und im berufsintegrierenden Studiengang der ASH sowie später auch an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd im Studiengang ‚Frühe Bildung’ (vgl. Albrecht/Köster 2012) haben mir gezeigt, dass wir genau hier ansetzen müssen, wenn wir die umfangreichen frühen Erfahrungen von Kindern mit Phänomenen (die wir den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Technik zuordnen würden) aufgreifen und sie beim Sammeln neuer Erfahrungen in angemessener Weise unterstützen wollen.
Meine Erfahrung ist, dass das breit angelegte, fachlich, didaktisch, methodisch und pädagogisch überaus fundierte und auf vertiefte Reflexion ausgerichtete Studium die Studierenden zu Pädagoginnen und Pädagogen werden lässt, die das Kind und seine Entwicklung ganzheitlich betrachten. Es geht hier noch nicht um das Vermitteln von Inhalten oder um Leistungsbeurteilung, sondern darum, den Lernpotentialen von Kindern in diesem Alter möglichst optimal zu begegnen. Kindheitspädagoginnen und -pädagogen und Erzieherinnen und Erzieher erwerben in ihrer Ausbildung Kompetenzen, die es ihnen ermöglichen, sensible Lernbegleiter zu sein, den Kindern Aufmerksamkeit und Zeit zu widmen und eine Spiel- und Lernumgebung zur Verfügung zu stellen, die neben anderen Bereichen auch naturwissenschafts-, mathematik- und technikbezogene Erfahrungsräume eröffnet, in denen Bildung stattfinden kann.
ErzieherIn.de: Haben Sie selbst als Kind positive Erfahrungen mit dem Entdecken und Forschen in den MINT-Bereichen gemacht?
Hilde Köster: Meine Kindheit war geprägt durch eine äußerst anregungsreiche Umgebung. Wir machten praktisch jeden Tag neue Entdeckungen und eigentlich war fast jedes Spiel mit dem Erforschen von Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen verbunden. Ich erinnere mich aber noch besonders an die faszinierenden Magnete, die wir von meinem Vater bekamen. Mehrere Tage lang überprüften wir alle möglichen Materialien daraufhin, ob sie durch die Magnete angezogen wurden. Das war eine völlig neue Erfahrung – ein Ding, das von sich aus eine Kraft entfalten kann, aber nur dann, wenn der richtige Partner gefunden wird. Sonst verrieten sie ja nichts von ihrer inneren Fähigkeit! Ich sehe die Magnete, ihre Rillen und den Eisenstab, an dem sie befestigt waren noch heute deutlich vor mir, ich kann diese Kraft noch in den Fingern ‚spüren’, das Klacken ‚hören’ – und sogar die Freude nachempfinden, die hochsprudelte, wenn wieder eine Schraube, ein Löffel oder sogar ein ganzes Fahrrad haften blieb.
Geht es um die Wettbewerbsfähigkeit oder geht es um die Kinder?
ErzieherIn.de: Manchmal hat man den Eindruck, dass die vielen Gelder, die jetzt in diesen Bildungsbereich fließen (u.a. durch die Telekom-Stiftung) in erster Linie der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands dienen sollen, nicht aber dem Wohlergehen der Kinder. Was bedeutet ein solcher Verdacht für Ihre Arbeit?
Hilde Köster: Dieser Verdacht ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Natürlich interessieren sich Stiftungen, aber auch die Politik dafür, den prognostizierten Fachkräftemangel vorzubeugen, der durch den demografischen Wandel, aber auch dadurch zu befürchten ist, dass viele junge Menschen, die die Potentiale dafür und ein Interesse an den MINT-Fächern haben, dennoch kein Studium im MINT-Bereich aufnehmen (vgl. acaTec 2009, S. 10). Es gibt auch an der Freien Universität (FU) Berlin interessante Forschungsprojekte und -ergebnisse dazu, weshalb dies nicht geschieht (vgl. Kessels et al. 2008). So fühlen sich zum Beispiel Mädchen oft nicht wohl damit, wenn sie als MINT-Interessierte geoutet werden. Da Physik und Technik noch immer als männerdominiert wahrgenommen werden, passt die Vorstellung, sich für diese Fächer zu begeistern, nicht in das Bild, das die jungen Frauen von sich selbst haben. Es gehört offenbar eine große Portion Selbstbewusstsein dazu, in die MINT-Bereiche zu gehen. Wer es dann wirklich wagt, beispielsweise ein Physikstudium zu beginnen – auch das wissen wir durch neue Forschungsergebnisse an der FU – bricht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit sein Studium wieder ab oder wechselt in ein anderes Studienfach. Bis zu 60% der Physikstudierenden beenden das Studium nicht (Albrecht, Nordmeier 2011).
Die Telekom-Stiftung fördert nun im Projekt ‚Lehrerbildung neu denken’ an der FU (www.fu-berlin.de/mint-lehrerbildung) sowohl die Forschung dazu, wie es zu diesen Prozessen kommen kann als auch Bemühungen, sich der Lösung dieser Probleme kurzfristig, intensiv und praxisnah zu widmen. Auf diese Weise konnte nun bereits das Lehramtsstudium Physik so verbessert werden, dass die Studienzufriedenheit heute im Vergleich zum Vorjahr schon signifikant höher liegt. Außerdem wurde im Wintersemester 2011/12 das neue Studienfach ‚Integrierte Naturwissenschaften’ eingerichtet, das im Bereich der Grundschulpädagogik angesiedelt ist. Dieses Fach – und hier (das ist durch die Evaluation bestätigt) erfreulicherweise vor allem das Teilgebiet Physik – spricht insbesondere auch die weiblichen Studierenden sehr positiv an.
Insofern kann man sagen, dass das berechtigte Interesse der Wirtschaft, der Politik und der Stiftungen, den Nachwuchs in den MINT-Fächern zu sichern, immer auch den Effekt hat, dass alle Beteiligten letztlich ganz persönlich davon profitieren. Wenn wir es schaffen, die Lehrerinnen und Lehrer für MINT zu begeistern, werden diese auch viel eher dazu motiviert und in der Lage sein, Kindern Erfahrungsräume und interessante Lerngelegenheiten zu bieten.
Frühe Förderung - auch in den Bereichen Informatik und Technik?
ErzieherIn.de: Kinder freuen sich am kindgerechten Entdecken und Erforschen. Aber besteht nicht die Gefahr, dass ihnen die Erwachsenen viel zu früh ihre eigenen Vorstellungen von Naturwissenschaft und Mathematik aufdrängen?
Hilde Köster: Diese Gefahr besteht durchaus. Schon Martin Wagenschein warnte vor einer zu frühen Abstraktion und vor zu früher ‚Förderung’: „Wenn wir dieses Ziehen an den Halmen unterlassen könnten, so würden wir, ich bin sicher, Anzahl und Qualität unserer Abiturienten merklich erhöhen.“ (Wagenschein 1999, S. 99) Das Kind hat für Wagenschein „nicht ein beschränktes Bild der Natur, es bringt im Gegenteil ein anderes und reicheres mit, als das naturwissenschaftliche ist, zu dem wir es beschränken!“ (Wagenschein 1971, S. 60).
Zur Beurteilung von ‚Fördersituationen’ eignet sich m.E. immer noch sehr gut eine Art Schablone, die Wagenschein schuf. Wenn man, wie er sagte, ‚Mit dem Kind von der Sache aus, die für das Kind die Sache ist’ handelt, besteht keine große Gefahr für Verfrühung oder Überforderung.
Wenn allerdings, wie leider in Bildungsplänen nicht selten der Fall, Inhalte der Sekundarstufenphysik für die Arbeit in Kindergärten vorgeschlagen werden, dann ist das schon sehr kritisch zu bewerten. Hier muss noch viel nachgebessert werden.
ErzieherIn.de: Zu den MINT-Fächern gehört auch die Informatik. Dass Kinder Phänomene in der Natur begreifen, dass sie Freude auch am Entdecken der Zahlenwelten haben, leuchtet ein. Aber müssen Kinder im Vorschulalter schon an den Computer herangeführt werden? Besteht da nicht die Gefahr, dass die seelische Entwicklung hintangestellt wird?
Hilde Köster: Kinder wachsen heute mit Computern aller Art auf. Sie müssen deshalb gar nicht herangeführt werden, sondern erleben Computer in vielfältiger Weise in ihrer Lebenswelt: Vom Wecker über die Kaffee- und die Waschmaschine bis zum selbstständig arbeitenden Staubsauger, der Spielconsole, dem Handy, dem Auto und dem ‚richtigen’ Computer als Pad, Laptop oder Personal-Computer spielen alle Arten von Computern eine Rolle im Leben von Kindern. Meiner Meinung nach können wir sie heute nicht mehr aufwachsen lassen, ohne sie mit Computern und ihren Funktionen vertraut zu machen.
In welcher Form dies geschehen sollte, wird seit langem diskutiert. Dass ein Zuviel den Kindern schadet, hat Manfred Spitzer stets hervorgehoben (vgl. Spitzer 2011). Wir können aber die Kinder nicht von allem abschotten, was ihnen schaden könnte. Ich halte sehr viel davon, Kinder dabei zu unterstützen, den sinnvollen Umgang mit Computern zu erlernen – ebenso, wie sie besser den sicheren Umgang mit dem Feuer erlernen als durch Verbote zu gefährlichen Handlungen animiert zu werden. Denn gefährlich ist das Medium Computer durchaus – vor allem durch den Zugang zum Internet.
Die Informatik bezieht sich aber eigentlich auf einen anderen Bereich. Das Programmieren zu erlernen, ist heute durch einfache Tools schon Kindern möglich. Es macht Spaß und fördert die Kreativität. So kann z.B. ein Spiel-Roboter durch einfache Befehle dazu gebracht werden, sich zu bewegen. Dieser Umgang mit dem Computer ist jedoch leider auch den meisten Pädagog/inn/en fremd. Aus diesem Grund findet man die Informatik im eigentlichen Sinne in der Kita, aber auch in der Grundschule bisher noch kaum. Momentan arbeite ich mit Kolleg/inn/en aus dem Fachbereich Informatik an einem neuen Konzept dazu.
ErzieherIn.de: Macht es Sinn, für Vorschulkinder, auch schon in der Krippe, den Bildungsbereich Technik zu etablieren? Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Hilde Köster: Sowohl im Nachwuchsbarometer Technikwissenschaften (Acatech; VDI 2009) als auch im Monitoring von Motivationskonzepten für den Techniknachwuchs (Acatech 2010) finden sich sehr deutliche Hinweise darauf, dass eine frühe, intrinsisch motivierte Techniksozialisation deutliche Effekte auf spätere Interessen und Zugangsweisen hat.
Leider ist dieser Bereich heute sowohl in der Kita als auch in der Grundschule noch völlig randständig. Früher gab es in der Grundschule das Fach Werken und es gab das Textile Gestalten. Beide Fächer vermittelten technik- und techniken-bezogenes Wissen, handwerkliche Fertigkeiten (dieses Wort ist heute fast schon verpönt) und vielfältige Umgangserfahrungen mit Materialien, Werkzeugen und Geräten. Daneben eröffneten sie aber auch Möglichkeiten zur kreativen Ideenentwicklung, zur Improvisation und zum Erfinden.
Ganz nebenbei entdeckten die Kinder eigene Fähigkeiten, Talente, Interessen. Nicht selten hatten sie Schlüsselerlebnisse, von denen die heute Erwachsenen immer noch erzählen können, weil sie ihnen bildlich im Gedächtnis haften geblieben sind.
Heute werden solche Chancen für eine frühe Interessenbildung, den Erwerb eines Vertrauens in eigene Fähigkeiten, die über das Kognitive hinausgehen und dem Denken nicht selten als Grundlage dienen, leider allzu oft vertan, weil es keine entsprechenden Angebote gibt.
Schon in der Krippe macht Technik sehr viel Sinn: Sie sollte sich wiederum verstehen, wie oben bereits gesagt: ‚Mit dem Kind von der Sache aus, die für das Kind die Sache ist’.
Gemeinsame Ausbildung von ErzieherInnen und GrundschullehrerInnen?
ErzieherIn.de: Sie bilden an der FU Berlin zukünftige GrundschullehrerInnen aus, haben aber vorher an der Alice Salomon Hochschule auch für die Kita ausgebildet. In welcher Hinsicht sind die Anforderungen an frühpädagogische Fachkräfte in der Kita mit denen in der Grundschule vergleichbar, und wo gibt es Unterschiede?
Hilde Köster: Grundschulpädagog/inn/en und Kindheitspädagog/inn/en wurden und werden in Deutschland bisher noch recht stark fokussiert auf eine spezielle Berufssparte hin ausgebildet. Alle Ausbildungszweige im pädagogischen Bereich zeichnen sich jedoch durch einen ähnlichen Kern an Inhalten und Methoden aus. Ausgebildete Pädagog/inn/en weisen daher eine gemeinsame Basis auf, die durch spezifizierte Kompetenzen für die jeweiligen Arbeitsbereiche ergänzt wird. Diese Basis und die Sozialisation aller Studierenden als Pädagog/inn/en wäre m.E. eine hervorragende Grundlage für ein gemeinsames Studium, das auf einem höheren Bildungsniveau ansetzt – vielleicht in einem Masterstudiengang.
Den hochschuldidaktisch innovativen ‚Kern’ eines solchen Studiengangs würden die bereits vorhandenen Kompetenzen sowie das durchaus unterschiedliche, durch das Bachelorstudium erworbene professionsbezogene Wissen der Studierenden bilden. Dieses könnte als wertvolle Ressource aus den beiden Bachelorstudienrichtungen Grundschulpädagogik und Kindheitspädagogik einfließen und zu interessantem gegenseitigem Austausch unter den Studierenden führen. Auf diese Weise könnte vielleicht auch endlich die Kluft zwischen Kita und Grundschule oder die immer noch vorhandene Grenze zwischen Unterricht und Nachmittagsbetreuung im Hort aufgebrochen werden. Wir haben gerade damit begonnen, Studierendengruppen des PFH und der FU zusammenzubringen, um einen Austausch anzuregen. Die ersten Erfahrungen damit sind überaus positiv und erfreulich. Die Ideen für eine bessere gemeinsame Berufspraxis sind sehr konstruktiv, kreativ und vielfältig. Als Voraussetzung für ein kollegiales Arbeiten sehen beide Gruppen einen vertrauensvollen Austausch, die Kenntnis und Anerkennung der durchaus unterschiedlichen, aber gleich wichtigen Kompetenzen und Perspektiven sowie eine beiderseitige persönliche Wertschätzung an.
Die Weiterbildung der Lehrkräfte
ErzieherIn.de: Wo sollen FachschullehrerInnen, die in ihrer eigenen Ausbildung nicht auf diese Fächer vorbereitet wurden, die Kompetenz hernehmen, um die MINT-Fächer im Unterricht adäquat zu berücksichtigen? Kann die Universität dabei unterstützen?
Hilde Köster: Die COACTIV-Studie (Kunter et al. 2011) zeigt (für den Bereich der Mathematik) deutlich, dass gute Lehre durch eine Kombination aus fachlichem und fachdidaktischem Wissen gelingt. Krauss et al. weisen darauf hin, dass Lehrkräfte offenbar nur dann gut fachbezogene Lernprozesse steuern können, wenn sie sich selbst in ihrem Fach sicher fühlen (Krauss et al. 2008): „Fachwissen ist die Grundlage, auf der fachdidaktische Beweglichkeit entstehen kann.“ (Baumert/Kunter 2006, S. 27).
Das fachdidaktische Wissen muss in diesem Fall – an Fachschulen übrigens ebenso wie an Hochschulen – ein ganz besonderes sein, da es hier darauf ankommt, Zugänge, Erfahrungen und fachliches Wissen so anzubieten, dass es sowohl den Lernbedürfnissen der Studierenden gerecht wird als auch geeignet ist, ihnen den Erwerb fachdidaktischer Handlungskompetenzen zu ermöglichen, die auf naturwissenschaftliches Lernen im frühen Kindesalter zielen. Diese Art von Kompetenzen sind typisch für Lehrende in den Lehramtsstudiengängen. Hier gibt es eine lange Tradition der Berücksichtigung zweier Stufen von Fachdidaktik – der hochschulischen und der schulbezogenen. An den Universitäten gibt es darüber hinaus auch das benötigte Equipment an Experimentiermaterialien etc. Auch aus diesem Grund könnten sich Kooperationen zwischen Fachhochschulen, Hochschulen, Fachschulen und Universitäten dort, wo keine Expert/inn/en für die Studiengänge gefunden werden, vielleicht als fruchtbar erweisen.
Die Weiterbildung der ErzieherInnen
ErzieherIn.de: Frühpädagogische Fachkräfte, die ihre Ausbildung vor Erscheinen der Bildungsprogramme abgeschlossen haben, sind für die MINT-Fächer in der Kleinkindpädagogik zumeist nicht gut vorbereitet. Häufig handelt es sich um Frauen – dies gilt besonders für die alte BRD – die damit aufgewachsen sind, dass Naturwissenschaften etc. nicht so wichtig seien. Von daher gibt es bei vielen Erzieherinnen Unsicherheiten und, daraus resultierend, Widerstände gegen die Einführung dieser Bildungsbereiche. Wie kann man diese Fachkräfte in der Weiterbildung erreichen und ihnen neue Horizonte eröffnen?
Hilde Köster: Es gibt bereits eine Reihe von Weiterbildungen auf diesem Gebiet, die zum Teil durch die Träger selbst oder durch Weiterbildungsinstitute oder Hochschulen angeboten werden. Der Zuspruch zu Weiterbildungen im Bereich der Naturwissenschaften, der Technik und der Mathematik, die ich selbst schon oft angeboten habe, ist immer sehr groß. Obwohl Hemmschwellen gegenüber den Fächern und Inhalten, Ängste, Erinnerungen an Frustrationen aus der eigenen Schulzeit und oft auch das Gefühl mangelnder Kompetenz leider recht weit verbreitet sind, kann ich immer wieder feststellen, dass Erzieher/innen sich den Herausforderungen stellen. Sie kommen in die Weiterbildungen, sind in der Regel offen und neugierig und genießen es dann sehr schnell, sich auf spannende Phänomene, interessante Experimente und kniffelige Aufgaben einzulassen. Die professionelle Kompetenz, auf Fragen, Ideen und Probleme der Kinder zu reagieren, kann hier genutzt werden, um einmal eigenen Fragen, Ideen und neuen Problemstellungen nachzugehen. Das macht dann Spaß, bringt Erfolgserlebnisse, und die Stimmung in solchen Veranstaltungen ist entsprechend gut. Das halte ich für die wichtigste Bedingung um Kindern den Kontakt zu naturwissenschaftsbezogenen Phänomene zu ermöglichen – selbst Freude am forschenden Lernen zu haben. Die zweitwichtigste Voraussetzung ist meiner Meinung nach, dass man erkennen kann, womit sich ein Kind gerade beschäftigt - einerseits um es dann in seinem Bemühen um neues Wissen über die Welt zu unterstützen oder auch einfach mal in Ruhe seine Erfahrungen machen zu lassen. Andererseits aber auch, um für sich selbst die Erkenntnis zu gewinnen, aha, Benjamin bringt nicht wieder mal alles durcheinander, sondern er vermisst gerade mit Hilfe von Bausteinen den Raum – betreibt also Geometrie. Oder: Jana und Max matschen nicht herum, sondern testen die Löslichkeit verschiedener Stoffe in Wasser – sammeln also wertvolle Erfahrungen, die wir dem Bereich der Chemie zuschreiben würden. Solche Erkenntnisse sind auch bedeutsam, weil man sich des Ausmaßes an Bildung bewusst wird, die sich an einem ganz normalen Kita-Tag ereignet - und damit nicht nur mehr Selbstbewusstsein hinsichtlich des Bildungsauftrags gewinnt, sondern interessierten Eltern auch viel differenzierter darüber berichten kann, womit sich das Kind gerade befasst. Vielleicht könnte man das eine bildungsbereichsspezifische Diagnosekompetenz nennen.
ErzieherIn.de: Um ErzieherInnen in der Praxis weiterzubilden, gibt es verschiedene Initiativen, u.a. das Haus der Kleinen Forscher. Wie schätzen Sie diese Initiative ein?
Hilde Köster: Am Anfang war ich sehr skeptisch, denn das ‚Experimentieren’ relativ unreflektiert in den Kindergarten zu bringen, ist durchaus problematisch. Wir haben das ‚Heruntertransformieren’ naturwissenschaftlicher Inhalte auch im Sachunterricht der Grundschule erlebt – mit vielen unerfreulichen Folgen, auf die ich hier nicht näher eingehen will. Meine Skepsis ist auch heute noch nicht verschwunden, aber die Akteure hinter den Konzepten sammeln ja auch viele Erfahrungen und verbessern die Angebote ständig. Ich kenne eine Reihe dieser sehr motivierten und kompetenten Menschen, die mit viel Herz an die Sache heran gehen und Großartiges leisten. Wenn man dann die Kinder bei jeder Gelegenheit mit viel Freude ‚forschen’ sieht, weil sie gelernt haben, alles genau zu untersuchen, dann ist das schon ein schöner Erfolg.
Dennoch halte ich nicht viel davon, diese Ideen in den Grundschulbereich auszuweiten ohne sich mit dem Sachunterricht und den weiterführenden Fächern zu befassen. Hier gibt es eine lange Tradition, gründliche Diskussionen zu bestimmten Inhalten, Konsensbildungen, die durch empirische Forschung und didaktische Entwicklungen entstanden sind. Man darf nicht so tun als erobere man da gerade ein völlig neues Feld, das es bisher noch nicht gab. Hier ist Gründlichkeit und Sorgfalt gefragt und vor allem Kommunikation mit den Experten/-innen für die Grundschule.
Wünsche an die Politik
ErzieherIn.de: Welche Wünsche haben Sie an die Bildungsinstitutionen und die Politik, um die kindliche Bildung in den MINT-Fächern zu fördern?
Hilde Köster: Eine wichtige Aufgabe, die erst wenige Bundesländer geleistet haben, ist die Überarbeitung der in den Bildungsplänen aufgeführten Inhalte aus den Naturwissenschaften und der Technik. Vergleicht man die genannten Inhalte mit den Lehrplänen der Schule, so kann man ein Spektrum feststellen, dass von Lerninhalten der Grundschule bis hin zum neunten (!) Schuljahr reicht. Das verwirrt nicht nur die Erzieher/innen, sondern sorgt selbst bei Physiker/innen für ungläubiges Kopfschütteln.
Wünschen würde ich mir außerdem, dass es eine zumindest zeitweise gemeinsame Ausbildung von Erzieher/innen und Grundschullehrkräften gäbe. Bremen hat vorgemacht, dass das funktioniert und Früchte trägt – unverständlich, dass es offenbar nun aber keinen gemeinsamen Master geben soll. Für Berlin, wo ja die Pädagogen/-innen in Schulen auch gemeinsam arbeiten, wäre ein gemeinsames wissenschaftliches Studium auch im Hinblick auf eine bessere Basis für die Zusammenarbeit sicher sehr wertvoll. Ich könnte mir eine Zusammenarbeit mit einer Hochschule, die Kindheitspädagog/innen ausbildet, und mit einer Fachschule sehr gut vorstellen.
ErzieherIn.de: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Hilde von Balluseck
Unsere Interviewpartnerin:
Hilde Köster ist Professorin für Grundschulpädagogik und Sachunterricht (mit den Schwerpunkten Naturwissenschaften und Technik) an der Freien Universität Berlin.
Im Anschluss an ihr Lehramtsstudium in Osnabrück war Prof. Dr. Hilde Köster zunächst als Grundschullehrerin in Mülheim an der Ruhr tätig, arbeitete dann als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Physik an der Universität Essen, promovierte an der Universität Hildesheim im Institut für Grundschuldidaktik und Sachunterricht und wechselte schließlich an die Universität Münster an das Institut für die Didaktik der Physik. Im April 2007 wurde sie an die Alice Salomon Hochschule als Professorin für Naturwissenschaften, Mathematik und Technik berufen und arbeitete dort zwei Jahre lang im Studiengang Erziehung und Bildung im Kindesalter. 2009 wechselte sie an die Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd und war dort als Institutsleiterin im Studiengang Frühe Bildung tätig, bis sie 2011 an die FU Berlin berufen wurde. Zentrale Themen ihrer Arbeit sind heute die Entwicklung von Konzeptionen im Bereich der Grundschuldidaktik, der Elementarpädagogik und -didaktik sowie der Weiterbildung in diesen Bereichen. Ihre Forschungsinteressen betreffen schwerpunktmäßig Bildungsprozesse im Rahmen des selbstbestimmten und selbstorganisierten Lernens von Kindern im naturwissenschaftlichen Bereich.
Literatur:
Albrecht, A., Nordmeier, V. (2011): Ursachen des Studienabbruchs in Physik. Eine explorative Studie. In: Die Hochschule, 2, S. 131-145
Albrecht, A., Köster, H.(2012) „Frühe Bildung“ – Ergebnisse einer längsschnittlichen Befragung. In: (im Erscheinen)
Acatech / VDI (2009) (Hrsg.: Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und Verein Deutscher Ingenieure e.V.): Nachwuchsbarometer Technikwissenschaften. Wuppertal: Druckhaus Ley + Wiegandt (weblink: http://www.acatech.de/de/publikationen/empfehlungen/kooperationen/detail/artikel/ergebnisbericht-nachwuchsbarometer-technikwissenschaften.html)
Acatech (2011) (Hrsg: Deutsche Akademie der Technikwissenschaften): Monitoring von Motivationskonzepten für den Techniknachwuchs (MoMoTech): Best-Practice Empfehlungen. Heidelberg u.a.: Springer ?(weblink: http://www.acatech.de/fileadmin/user_upload/Baumstruktur_nach_Website/Acatech/root/de/Publikationen/Projektberichte/acatech_Berichtet-und-Empfiehlt_MoMoTech_WEB.pdf)
Baumert, J. & Kunter, M. (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (4), S. 469-520
Kessels, U., Warner, L.M., Holle, J., Hannover, B. (2008): Identitätsbedrohung durch positives schulisches Leistungsfeedback Die Erledigung von Entwicklungsaufgaben im Konflikt
mit schulischem Engagement. In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 40 (1), S. 22-31
Köster, H. (2005a): FantasieWerkstatt Technik – Leichte technische Experimente für Kinder. Freiburg im Breisgau, Christophorus im Verlag Herder
Köster, H. (2005b): FantasieWerkstatt Experimente – Spannende, einfache Experimente für Kinder. Freiburg im Breisgau, Christophorus im Verlag Herder
Kunter, M., Baumert, J., Blum, W., Klusmann, U., Krauss, S. Neubrand, M. (Hrsg.) (2011): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV
Krauss, S., Neubrand, M., Blum, W., Baumert, J., Brunner, M., Kunter, M., Jordan, A. (2006): Die Untersuchung des professionellen Wissens deutscher Mathematik-Lehrerinnen und -Lehrer im Rahmen der COACTIV-Studie. In: Journal für Mathematik-Didaktik, JMD 29 (2008) H. 3/4, S. 223-258
Spitzer, M. (2011): Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. München: dtv (7. Auflage)
Wagenschein, M. (1971): Die pädagogische Dimension der Physik. Braunschweig: Westermann (1. Auflage 1962)
Wagenschein, M. (1999): Verstehen lehren. Weinheim: Beltz (1. Auflage 1968)
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