Bunter Zaun

Elternarbeit nach sexuellen Übergriffen unter Kindern – traumasensibel begleiten und klar kommunizieren

Inga Fielenbach

01.08.2025 | Fachbeitrag Kommentare (0)

Nach der Veröffentlichung meines Artikels „Wenn Kinder Grenzen überschreiten“ auf Erzieherin.de wurde in den Rückmeldungen deutlich: Fachkräfte wünschen sich mehr Orientierung für Elterngespräche nach sexuellen Grenzverletzungen unter Kindern. Denn kaum ein Thema wird als so herausfordernd erlebt wie dieses:

Wie sprechen wir klar und zugleich sensibel über ein schambesetztes Verhalten? Wie geben wir Sicherheit, ohne zu konfrontieren oder zu beschwichtigen?

Dieser Beitrag greift diese Fragen auf. Er zeigt, wie eine traumasensible, klare und haltungsstarke Elternarbeit gelingen kann – im Spannungsfeld zwischen Schutzauftrag, Beziehung und Kommunikation auf Augenhöhe.

Sexuelle Übergriffe in der Kita – alle sind betroffen

Wenn Kinder im Kita-Alltag sexuelle Grenzen überschreiten, bringt das alle Beteiligten aus dem Gleichgewicht: Fachkräfte suchen Worte. Eltern stellen Fragen. Leitungen brauchen Struktur. Was darf gesagt werden - und was muss? Wie gelingt es, Eltern sensibel zu begleiten? Sowohl die der betroffenen als auch die der übergriffigen Kinder?

Rollen beschreiben, nicht festschreiben

Die Begriffe „betroffenes Kind“ und „übergriffiges Kind“ bezeichnen Rollen in einer konkreten Situation. Keine Identitäten. Ein betroffenes Kind hat eine sexuelle Grenzverletzung erlebt, bewusst oder unbemerkt. Ein übergriffiges Kind hat ein anderes Kind gegen dessen Willen sexuell berührt oder bedrängt ohne zwingend bewusste Absicht. Beide Kinder brauchen Schutz, Beziehung und pädagogische Begleitung und keine Bewertung oder Ausgrenzung.

Traumasensible Elternarbeit: Klarheit, Empathie, Haltung

Traumasensibilität bedeutet: Die Balance halten. Zwischen Klarheit und Empathie. Zwischen notwendiger Information und emotionaler Zumutbarkeit. Denn: Was wir sagen, ist wichtig. Wie wir es sagen, entscheidet darüber, ob es ankommt.

Ein Fall aus der Praxis

Im Außengelände der Kita beobachtet eine Fachkraft, wie ein Kind (6 Jahre) versucht, einem anderen Kind (5 Jahre) einen Grasbüschel in den Po einzuführen. Die Fachkraft greift sofort ein, stellt sich zwischen die Kinder, schützt das betroffene Kind körperlich und spricht klar:

„Stopp – das ist eine Grenze. Ich möchte nicht, dass du Luca Gras in den Po steckst. Du kennst die Regel: Niemand steckt sich oder anderen etwas in den Po, den Penis oder die Vagina. Dabei kann jemand verletzt werden.“

Die Kinder werden behutsam getrennt, beruhigt und in einem geschützten Rahmen begleitet. Zuerst wird sich dem betroffenen Kind zugewendet: Mit voller Aufmerksamkeit und Schutz. Erst danach erfolgt die Begleitung des übergriffigen Kindes. Wertschätzend, mit klarer Rückmeldung.

Die Situation wird dokumentiert und noch am selben Tag im Team reflektiert. Gemeinsam mit der Leitung werden zwei getrennte Elterngespräche vorbereitet - sachlich, einfühlsam und mit klarer Haltung.

Im Gespräch mit den Eltern des betroffenen Kindes geht es um Stabilisierung, Schutz und Vertrauen. Die Eltern des übergriffigen Kindes erhalten Informationen, Orientierung und Unterstützung, wie ihr Kind lernen kann, Grenzen zu achten und Impulse besser zu steuern. Ohne Beschämung, mit Verantwortung.

Beide Kinder erhalten im Alltag gezielte pädagogische Unterstützung: Sie lernen, ihre Körpergrenzen zu spüren, Sprache für Gefühle zu finden und Beziehungen respektvoll zu gestalten.

Was brauchen betroffene und übergriffige Kinder?

Kinder brauchen Sicherheit durch

  • Klare Regeln
  • Achtsame Begleitung
  • Verlässliche Erwachsene

Ein betroffenes Kind fragt (nonverbal): Wer sieht mich? Wer hilft mir, mich wieder sicher zu fühlen?

Ein übergriffiges Kind braucht Grenzen – aber auch die Chance, Verantwortung zu übernehmen und alternatives Verhalten zu lernen.

Fachkräfte begleiten beide Kinder mit Sprache, Körperpräsenz und emotionaler Zugewandtheit. Sie benennen, was sie sehen („Stopp! Ich sehe, dass...“) und stärken Kinder darin, ihre Gefühle und Impulse wahrzunehmen und zu regulieren.

So wird aus einer Überforderungssituation eine Lernmöglichkeit, eingebettet in Beziehung statt in Strafe.

Was brauchen betroffene Eltern?

Eltern brauchen Orientierung, ohne Schuldzuweisung

Eltern betroffener Kinder fragen sich oft: Wie konnte das passieren?

Eltern übergriffiger Kinder erleben häufig Scham, Schuld oder das Gefühl, versagt zu haben.

Beide Seiten brauchen Orientierung, die Sicherheit schafft.  Ohne zu beschuldigen oder zu beschwichtigen.

Das bedeutet

  • Informationen sachlich geben, ohne zu dramatisieren
  • Verhalten und Person trennen:

„Ihr Kind hat eine Grenze überschritten“ ist etwas anderes als „Ihr Kind ist Täter*in“

  • Raum für Gefühle lassen, ohne das Gespräch aus der Hand zu geben

Intimsphäre wahren: klar und respektvoll kommunizieren

Eltern brauchen Hinweise, wie sie mit der Intimsphäre ihres Kindes achtsam umgehen können und wie sie offen über das Geschehene sprechen, ohne es zu dramatisieren.

Ihre Reaktion wirkt stark auf das Kind zurück. Besonders dann, wenn eigene (unverarbeitete) Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt berührt werden.

Drei Prinzipien für gelingende Elterngespräche

  1. Beobachtungen beschreiben, nicht bewerten
  2. Kinder nicht auf Rollen festlegen
  3. Haltung zeigen: klar, zugewandt, professionell

Fazit: Haltung und Schutz gemeinsam leben

Sexuelle Übergriffe unter Kindern werfen viele Fragen auf. Emotional wie fachlich. Doch gerade in diesen Momenten zeigt sich die Qualität einer Einrichtung:

Wenn Fachkräfte achtsam handeln, Leitungen Verantwortung übernehmen und Eltern professionell begleitet werden, kann aus einer belastenden Situation eine Chance für Entwicklung werden.

Über die Autorin

Inga Fielenbach ist Sexualpädagogin, Kinderschutzfachkraft (§8a) und systemische Therapeutin. Weiterbildungsleitung der „Zertifizierten Spezialisierung im Kinderschutz: Sexualpädagogische Intervention, Trauma-Sensibilität und Sexualisierte Gewalt“. Sie begleitet Fachkräfte, Teams und Träger im Bereich Kinderschutz, sexualisierte Gewalt und traumasensible Elternarbeit, durch Fortbildungen, Supervision und Fachberatung. Ihr Ziel: Sichere, lebendige Räume für Kinder und Erwachsene zu gestalten.

Empfohlene Materialien & Literatur

Für Kinder

  • Enders, U. & Villier, S. (o. J.): *Sina und Tim. Doktorspiele unter Kindern*. Köln: Zartbitter e.V.
  • Enders, U., Wolters, D. & Zartbitter e.V. (2025): Wir können was, was ihr nicht könnt: Ein Bilderbuch über Zärtlichkeit und Doktorspiele. Köln: Zartbitter e.V. 
  • MiRA & das fliegende Haus (2023): *Mein Körper ist mein Königreich*. Münster: Eigenverlag.
  • PETZE Institut (2019): *Echte Schätze! – Mini-Bilderbuch (Pixi Format)*. Kiel: PETZE-Institut.

Für Eltern

  • Zartbitter e.V. (Hrsg.) (o. J.): *Doktorspiele oder sexuelle Übergriffe? Tipps für Mütter und Väter*. Köln: Zartbitter e.V.
  • BIÖG – Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (2025): Kinder liebevoll begleiten. Körperwahrnehmung und körperliche Neugier im Kindesalter. Köln: BIÖG. (Erschienen erstmals 2021, aktualisierte Fassung 2025)

Für Fachkräfte

  • PETZE Institut (2019): *Echte Schätze! – Die Starke Sachen Kiste für Kinder.* Kiel: PETZE-Institut.
  • Maywald, J. (2024): Sexualpädagogik in der Kita: Sexuelle Bildung und Schutz vor sexualisierter Gewalt. Weinheim: Beltz.

 

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