Empathie und soziales Verstehen in den ersten Lebensjahren
Inhalt- Was ist Empathie?
- Gefühlsansteckung
- Soziales Denken und Verhalten
- Theory of Mind und die Gedanken im Kopf
- Förderung des sozialen Denkens und Handelns
- Mögliche Überforderungen
- Literatur
In der fachöffentlichen Diskussion wird davon ausgegangen, dass Empathie als wesentliche Grundlage sozial-emotionaler Kompetenzen sich bereits im zweiten Lebensjahr entwickelt, denn Einjährige trösten und helfen anderen. Dies wird als soziales Verhalten beschrieben und daraus folgt die Annahme, im dritten Lebensjahr könnten Kinder sich zunehmend auch die Absichten, Ziele, Wünsche und Bedürfnisse anderer vorstellen.
Für Erziehende ergeben sich damit Anhaltspunkte, was sie an Verhalten und Verständnis in diesem Alter erwarten und wie sie die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder fördern können. Doch gelingt das immer so ohne Weiteres? Wahrscheinlich eher nicht. Die Gründe dafür sollen im Folgenden erörtert werden.
Was ist Empathie?
Empathie beschreibt das affektive Nachempfinden der vermuteten Emotion eines anderen. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden, d.h. das Kind muss wissen, dass es eine von den anderen getrennte Person ist. Erst dann weiß es, dass die wahrgenommenen Emotionen von einem anderen kommen. Das ist dann der Fall, wenn es sich nicht mehr beim Vornamen nennt, sondern ICH zu sich selbst sagt; meistens um den zweiten Geburtstag herum. Zu diesem Zeitpunkt hat das Kind in einem ersten Schritt Personenpermanenz erworben, die sich in den folgenden Monaten festigen muss. Personenpermanenz bedeutet, das Kind hat Erinnerungsbilder von den Eltern und anderen Personen im Kopf. Objektpermanenz beschreibt die Erinnerungsbilder an Gegenstände, die Kinder mit ungefähr einem Jahr entwickeln.
Es stellt sich also die Frage, welche Vorläufer der Empathiefähigkeit in den ersten zwei Jahren das vermeintlich soziale Verhalten der Kinder steuern?
Gefühlsansteckung
Aus früheren intensiven Forschungen zur Empathie und aus der aktuellen Hirnforschung geht hervor, dass Kinder in den ersten beiden Lebensjahren über die Gefühlsansteckung auf das Leid anderer reagieren (Bischoff-Köhler 1989 und 2011). Sie nehmen die Gefühle der anderen unbewusst wahr, das angeborene Spiegelneuronsystem sorgt dafür. Schon Babys reagieren auf die Aufregung der Mütter. Kleinstkinder trösten andere bei Kummer, weil sie direkt davon betroffen sind. An den unterschiedlichen Reaktion der Kinder ist zu erkennen, dass dieses Verhalten angeboren und deshalb unterschiedlich ausgeprägt ist: manche Kinder trösten vehement, andere schauen nur irritiert und wieder andere sind unbeteiligt. Es ist eine unwillkürliche Reaktion auf die Gefühle des anderen ohne kognitive Prozesse. Einem Kind, das nicht tröstet oder hilft, kann deshalb keine negative Absicht unterstellt werden. So werden in der frühen Gruppenbetreuung manche Kinder ungehalten oder gar aggressiv, wenn andere weinen; sie sind irritiert und haben durch das noch fehlende Selbsterkennen keine andere Handlungsmöglichkeit. Andere, die sich von negativen Signalen stark betroffen fühlen, geraten unter Stress, da sie häufig den Drang spüren, andere zu trösten oder ihnen zu helfen. Es ist also kein soziales Verstehen und Handeln, sondern unbewusster Selbstschutz.
Der Übergang von der Gefühlsansteckung zur Empathie zeigt sich daran, dass das Kind mit dem Selbsterkennen aktiv den anderen trösten kann; jetzt jedoch mit dem bewussten Ziel, das vom anderen empfundene negative Gefühl abzustellen. Das Selbsterkennen (Personenpermanenz) ist noch nicht stabil genug, um zwischen den eigenen Gefühlen und den des anderen klar zu unterscheiden. Das Kind ist in dieser Phase des Übergangs nur auf die Abhilfe des unguten Gefühls konzentriert. Es versucht, das Unbehagen an der Quelle zu beseitigen. Von den früheren Forschern wurde dies zutreffend als ‚egozentrische Empathie‘ bezeichnet, was den Charakter des sozialen Denkens zu diesem Zeitpunkt beschreibt.
Soziales Denken und Verhalten
Die Ichbezogenheit bzw. die Egozentrik im Denken der Zweijährigen drängt dann die Gefühlsansteckung bei vielen der Kinder etwas in den Hintergrund. Denn jetzt kommt das, was allgemein als Trotzphase bekannt ist. Das Kind hat nur eine Sichtweise und die besagt: Ich bin der Mittelpunkt der Welt! Wenn das Kind sich wohlfühlt, hört es auf die anderen, bei Stress und Unwohlsein verweigert es sich. Diese Ichbezogenheit am Anfang des Denkens ist der Ausgangspunkt, von dem aus sich in den nächsten sechs Jahren nach und nach das Verständnis für den anderen entwickelt. Dabei ist die unterschiedlich ausgeprägte Gefühlsansteckung weiterhin der Motor für soziales Handeln. Die vorwiegend ichbezogene Phase erstreckt sich bis ins fünfte Lebensjahr hinein. Das Temperament des Kindes bestimmt, ob es sehr sensibel auf seine Umwelt reagiert und weniger ichbezogen denkt und handelt oder kaum von sozialen Äußerungen anderer betroffen ist. Die einen merken sehr schnell, was mit dem anderen los ist, die anderen benötigen von Anfang an Erklärungen für das soziale Verhalten ihrer Spielkameraden.
Zum Ende des dritten Lebensjahres kommt zum empathischen Empfinden durch das jetzt von Handeln losgelöste Denken die soziale Kognition hinzu. Nun profitieren die Kinder vom Spiel mit den Gleichaltrigen. Für das soziale Denken und Verstehen ist das Rollenspiel ein exzellentes Experitmentierfeld: Die Rollen müssen ausgehandelt und während des Spielverlaufs muss auf den Spielpartner eingegangen werden. Es müssen Handlungsabläufe und Gesprächsfolgen der Rollen im Gedächtnis gespeichert und weiterentwickelt werden. Um eine Spielhandlung aufrecht zu erhalten oder Konflikte aufzufangen, können Kinder bereits sehr früh von einer Rolle in die andere wechseln, da die rege Fantasietätigkeit solchen Wechsel ermöglicht. Der Rollenwechsel geschieht unabhängig von der noch nicht vorhandenen Fähigkeit zur kognitiven Rollenübernahme, denn zu Beginn des sozialen Rollenspiels kann das Kind nur Schlussfolgerungen über das Verhalten eines anderen ziehen, die seinen eigenen Bedeutungen entsprechen. Das zeigt, die egozentrischen Bedürfnisse des Kindes stehen noch im Mittelpunkt, die Bedürfnisse des anderen werden jedoch registriert. Der Wunsch zum Weiterspielen führt dann ab ca. vier Jahren zur wechselseitigen Anpassungsbereitschaft. So kann das beiderseitige Bedürfnis, eine dominante Rolle im Spiel zu übernehmen, jeweils akzeptiert und befriedigt werden. Die Aufrechterhaltung des Spiels ist damit gesichert und müheloses soziales Lernen möglich, obwohl die Fähigkeit zur echten Kooperation noch nicht vorhanden ist.
Wie passen nun die Aussagen der Theory of Mind zu diesem Entwicklungsverlauf? Nach der Theorie entwickelt sich die Fähigkeit, anderen und sich selbst psychische Zustände wie Gefühle und Gedanken zuzuschreiben, mit vier Jahren. Die Kinder könnten dann auch die Absichten, Vorstellungen und Wünsche anderer verstehen und vorhersagen.
Für Erziehende entstehen daraus die Anforderungen, den Kindern die ganze Bandbreite sozial-emotionaler Kompetenzen zu vermitteln: Gefühle wahrnehmen und verstehen, Empathie, Kontakt- und Beziehungsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit sowie Toleranz und Rücksichtnahme (Zimmer 2020). Doch dieser hoch komplizierte sozial-kognitive Entwicklungsprozess lässt sich nicht trainieren, sondern entsteht auf vielfältigen Bahnen, an deren Anfang eine sichere Eltern-Kind-Bindung steht.
Theory of Mind und die Gedanken im Kopf
Zum Zeitpunkt, wo entsprechend der Theory of Mind das vierjährige Kind sich bereits in die Perspektive des anderen hineindenken kann, beschäftigt es sich in der Realität zuerst mit dem eigenen Denken. Das ist an Kinderzeichnungen zu sehen, wenn die Kinder im vierten und fünften Lebensjahr vorwiegend Kopffüßler malen. Sie wissen dann, die Gedanken sind im Kopf und die anderen haben auch Gedanken im Kopf. Damit beschäftigen sie sich jetzt intensiv. Im zweiten Schritt merken sie, dass die Gedanken der anderen anders sind als die eigenen.
Erst seit Kurzem gibt es Erkenntnisse aus der Hirnforschung zur Theory of Mind die zeigen, dass die Entwicklung sozial-kognitiver Fähigkeiten ein Prozess ist, der sehr viel Zeit benötigt. Hirnforscherinnen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig hatten herausgefunden, welche Faserverbindung im Gehirn reifen müssen, um zu wissen, dass der andere anders denkt als man selbst. Mit vier Jahren verbinden sich zwei wesentliche Hirnareale miteinander. Es handelt sich hier um die Empathiefähigkeit auf der einen Seite und um die soziale Kognition auf der anderen Seite, die ab jetzt zusammenwirken und in Laufe der folgenden zwei Jahre nach und nach zum sozialen Denken und Verstehen führen.
Förderung des sozialen Denkens und Handelns
Bis weit ins fünfte Lebensjahr hinein leben und lernen Kinder vorwiegend in der aktuellen Situation. Deshalb sind sie auch nicht nachtragend. Sie haben einfach die vorherigen Ereignisse vergessen, wenn diese nicht wichtig waren oder in einen erinnerten Lernprozess hineinpassten. Das bedeutet, wortreiche Erklärungen der Erwachsenen und insistierende Fragen nach den Gefühlen der Kinder in einem Konfliktfall können von den meisten noch nicht verarbeitet werden. Hilfreich und lernfördernd ist lediglich das Eingreifen in Konfliktsituationen, wenn die Kinder sie nicht mehr selbst auflösen können. In diesen Fällen sollten die Beteiligten nur klare Ansagen hören darüber, was hier falsch gelaufen ist. Notfalls ist Aufklärung nötig, was im Einzelnen passiert ist. Nur wenn dies ohne Schimpfen und Beschuldigungen läuft, sind Kinder motiviert, über den Vorfall nachzudenken und dann lernen sie auch sozial. Die Lernbereitschaft ist ab vier Jahren deutlich im Bewusstsein der Kinder. Sie wollen alles wissen und sind stolz auf das, was sie schon wissen und können. Sie vergleichen sich ständig mit den anderen, erwarten Lob für richtiges Verhalten und reagieren empfindlich auf Kritik. Denn sie sind selbst traurig darüber, wenn sie Dinge falsch machen.
Die Förderung sozial-emotionaler Fähigkeiten gelingt dementsprechend am besten, wenn die Kinder begleitet und kritische Situationen zusammen mit den Kindern geregelt werden. Mit dem von außen bestimmten Üben und Trainieren sozial-emotionaler Fähigkeiten werden die Grundlagen des Lernens nicht bedacht. Denn das vermittelte Wissen muss an positive Vorerfahrungen anknüpfbar sein, die aktuellen Gefühle und die Umgebung sollten positiv sein, damit das neue Wissen gespeichert werden kann (Roth 2004). Das zeigt wiederum, wie gut das freie Spiel zum Lernen geeignet ist. Zu hohe Ansprüche an das Sozialverhalten der Kinder führt in der Praxis zum dauerhaften Rückzug auf die ichbezogene Denkweise.
Mögliche Überforderungen
Der sozial-kognitive Lernprozess ist für die meisten Kinder eine schwierige Aufgabe. Er verläuft nicht so flüssig wie z.B. die Sprachentwicklung und die Wissensaneignung über die gegenständliche Welt; denn das soziale Denken muss sich gegen die sozial-kognitive Ichbezogenheit der ersten Jahre durchsetzen. Deshalb kommt es schnell zu überfordernden hohen Erwartungen der Erziehenden an das soziale Verstehen der Kinder. Das kann passieren, wenn angenommen wird, dass das vermeintlich soziale Verhalten von unter 2jährigen Krippenkindern Empathie sei und daraus bestimmte Erwartungen entstehen. Es handelt sich jedoch um die unbewusste Gefühlsansteckung, die die Kinder zum Trösten und Helfen bewegt.
In der frühen Gruppenbetreuung findet demnach kein soziales Lernen statt, sondern die Kinder schützen sich unbewusst selbst. Soziales Verstehen in den ersten drei Jahren darf nicht verwechselt werden mit dem Regelverhalten, das manche Krippenkinder relativ früh zeigen. Hierbei handelt es sich lediglich um von außen gesteuertes kognitives Lernen ohne den Sinn begreifen zu können. Das funktioniert in der Fremdensituation besser als zu Hause (Butzmann 2020, S. 155). Auch das von außen gesteuerte kognitive Lernen in den ersten zwei Jahren verläuft ohne Verständnis, weil sich zu dieser Zeit das Lernen aus eigenem Antrieb, der genetisch vorgegeben ist, entwickelt. Dazu gehören die Erkundungsbereitschaft, der Spielantrieb, der Nachahmungsantrieb, die Neugierde und das schöpferische Erfinden. Damit diese Antriebe wirksam werden können, benötigt das Kind lediglich zugewandte und liebevolle Bezugspersonen und den Freiraum für Bewegungen. Vorgegebene Bildungsprogramme von außen stören diesen senso-motorischen Entwicklungsprozess. Der verläuft weitgehend unbewusst und geht um den zweiten Geburtstag herum vom Handeln ins Denken über.
Die Neurobiologin und Lernforscherin Elsbeth Stern sagt dazu Folgendes: Es gehört zu den weitreichenden Irrtümern, die Zunahme der Synapsendichte in den ersten drei Jahren mit einer erhöhten Lernfähigkeit gleichzusetzen. Die Veränderungen in der Synapsendichte vollzieht sich teilweise ohne Reize von außen und ist von so universeller Natur, dass sie in einer Jurte in der Mongolei, einer Hütte in Afrika, einem Plattenbau in Berlin oder einer Villa in Beverly Hills in gleicher Weise vor sich geht. Die frühkindliche Entwicklung stellt offensichtlich keine besonderen Anforderungen an die Umgebung, aber sie reagiert empfindlich auf künstliche Eingriffe und Störungen (vgl. Stern 2004, S. 532). Auch die Neurobiologin Becker stellt fest, dass sich das meiste, was über die Entwicklung höherer kognitiver und emotionaler Funktionen während der ersten Lebensjahre ausgesagt wird, auf hypothetischem Niveau befindet (vgl. Becker 2013, S. 34).
Bei Missachtung der geschilderten Einschränkungen im sozialen Verstehen kommt es auch bei den über Dreijährigen schnell zu Überforderungen. Das merken Eltern und Erzieherinnen daran, wenn Kinder aus dem Stand heraus ungehalten, aggressiv oder weinerlich werden. Am Verhalten der Kinder beim Abholen aus der Kita oder danach zu Hause wird das ebenso deutlich. Viele der Kinder lassen sich hängen, kümmern sich nicht um bekannte Regeln und manche werden aggressiv und streiten sich mit Geschwistern. Starkes Überforderungsverhalten zeigen in erster Linie Kinder mit einem sensiblen, eher ängstlichen Temperament, die von Beginn an anhaltende Trennungs- und Verlassenheitsängste zeigen und eine frühe und langzeitige Gruppenbetreuung nicht vertragen. Wie die Neurobiologin Nicole Strüber erläutert, haben diese Kinder eine bestimmte Genvariante, die sie empfindlich auf ihre Umwelt reagieren lässt (vgl. Strüber 2019, S. 273).
Wenn es Eltern und Erzieherinnen gelingt, die Besonderheiten in der emotionalen und sozial-kognitiven Entwicklung und im Temperament zu beachten, helfen sie den Kindern, sich wohl zu fühlen. Sie fördern damit die psychosoziale und kognitive Entwicklung des Kindes.
Literatur
Autoreninformationen
Erika Butzmann, Dr. phil. paed. M.A., ist seit 30 Jahren als Dozentin und Seminarleiterin in der Eltern- und Familienbildung und der Weiterbildung von Erzieherinnen tätig. Sie lehrte an einer Universität und führt Elternberatungen in einer großen Kinderarztpraxis durch.
Hinweis: Erstveröffentlichung vom 20.04.2020