Mädchen mit Pusteblume

Entwicklung des Selbstwertgefühls und kindliches Lügen

Dr. Erika Butzmann

06.04.2023 | Fachbeitrag Kommentare (2)

Inhalt
  1. Die Grundlagen des positiven Selbstwertgefühls
  2. Das Selbstwertgefühl und die Wut bei Misserfolg
  3. Die Ichbezogenheit der Dreijährigen
  4. Das Kind will alles richtig machen und stärkt damit unbewusst sein Selbstwertgefühl
  5. Die unbewusste Veränderung der Realität
  6. Unterschiedliches Verhalten der Kinder aufgrund des Temperaments
  7. Lügen und Petzen als Schutzmaßnahmen für das Selbstwertgefühl
  8. Die Fünf- und Sechsjährigen denken über ihr Verhalten nach
  9. Grundschüler:innen verstehen langsam, was Lügen bedeutet
  10. Die Weiterentwicklung des Selbstwertgefühls
  11. Lügen und Selbstwertgefühl in der Pubertät

Das Selbstwertgefühl ist eine zarte Pflanze, die Kinder mit aller Kraft zu schützen versuchen. Dazu gehört auch das kindliche Lügen. Dies ist den Kindern jedoch bis weit ins Grundschulalter hinein nicht bewusst. Wie sich das Selbstwertgefühl im Laufe der Kindheit entwickelt und welche Rolle das kindliche Lügen dabei spielt, soll im folgenden nachgezeichnet werden.

Die Grundlagen des positiven Selbstwertgefühls

Schon früh in der Entwicklung ist das Selbstwertgefühl für das Baby spürbar, es hat jedoch noch kein Bewusstsein dafür. Es empfindet anfangs lediglich positive Gefühle bei eigenen Handlungen. So krabbelt zum Beispiel das neun Monate alte Baby einem rollenden Ball hinterher, hält inne und schaut zurück zur Mutter und erobert den Ball. Mit seiner Freude darüber und der wahrgenommenen Freude der Mutter spürt es das erste Aufkeimen des Selbstwertgefühls. Es merkt, dass es etwas bewirkt hat und empfindet die Liebe der Eltern.

Wie alle Entwicklungsbereiche ist auch die Ausbildung des positiven Selbstwertgefühls abhängig von einer sicheren Bindung an die Eltern. Prinzipell ruht das Selbstwertgefühl auf zwei starken Säulen: auf der einen Seite die sichere Bindung und die Liebe der Eltern und auf der anderen Seite die Erfahrung, dass eine geplante Aktion zum Erfolg geführt hat. Diese beiden Kräfte spielen in den ersten zwei bis drei Jahren zusammen; denn nur mit dem Gefühl des Kindes, von den Eltern geschützt und geliebt zu werden, kann es die Umwelt intensiv erkunden. Bei den Erkundungen kommt es zu den Situationen, die ein starkes positives Gefühl beim Kind hervorrufen, wenn es etwas Neues entdeckt. Die zuerst nur leichten Erinnerungsspuren an dieses positive Gefühl steuern das weitere Verhalten des Kindes, so dass es die Umwelt immer wieder neu erforschen will. Im Gehirn des Kindes bildet sich über die ständig inszenierten kleinen Erfolge das Belohnungszentrum mit dem Neurotransmitter Dopamin aus (Roth 2011, S. 324). Diese immer wieder erlebte gute Erfahrung ist die Grundlage für ein positives Selbstwertgefühl und treibt das Lernen voran.

Das Selbstwertgefühl und die Wut bei Misserfolg

Führt eine geplante Handlung nicht zum Erfolg und bleiben die erwarteten positiven Empfindungen aus, wird das Kind von negativen Gefühlen überflutet. So sind bereits Babys sehr wütend, wenn sie ein anvisiertes Ziel nicht erreichen oder ein Spielzeug widerständig ist. Sehr stark und häufig kommen solche Reaktionen im Laufe des zweiten und dritten Lebensjahres vor, wenn die erste Stufe des Selbsterkennens erreicht ist und das Kind bewusster und gezielter handeln kann. Der genetisch gesteuerte Drang zum Selbstständigwerden (Butzmann 2021a) beeinflusst jetzt das kindliche Verhalten. Wenn dem Kind dabei situativ etwas nicht gelingt, gerät es außer sich vor Wut und lässt sich absolut nicht helfen. Dann nutzt alle Liebe der Eltern nichts, das Kind kann ihre Hilfe nicht annehmen.

Im Zentrum dieser Wut steht das Selbstwertgefühl, das bei Misslingen einer Aktion in den Keller rutscht. Wenn sich das Kind beruhigt hat, erinnert es sich wieder an das gute Gefühl bei Erfolgen, so dass es das Ganze noch einmal versucht. Auf das gute Zureden der Eltern hören die meisten Kinder dann. Wenn der zweite Versuch gelingt, schüttet das Belohnungssystem im Gehirn des Kindes besonders viel Dopamin aus (Roth 2015, S. 197). Das Kind erlebt damit ein noch intensiveres Gefühl und ist motiviert, auch beim nächsten Misslingen es erneut zu versuchen. So entwickelt sich die sogenannte intrinsische Motivation, also der von innen kommende Drang, etwas erreichen zu wollen. Dies trägt das Selbstwertgefühl des Kindes weiter und stabilisiert es zunehmend. Zusammen mit der Freude der Eltern über die Leistungen des Kindes ergibt sich daraus die Leistungsmotivation für die weitere Entwicklung. Das geschieht ohne konkrete Hilfe der Erwachsenen. Diese können den Prozess nur unterstützen durch Zeigen ihrer Freude über das Gelingen und angemessenes Loben bei Erfolg. Bei Misserfolg zu trösten und auf frühere Erfolgserlebnisse hinzuweisen hilft dem Kind später, sich zu beruhigen.

Die Ichbezogenheit der Dreijährigen

Die Ichbezogenheit der Dreijährigen führt dazu, dass sie unbekümmert ihre Gedanken äußern und Geschichte erzählten. Sie können noch nicht zwischen Fantasie und Realität unterscheiden und haben noch gar kein Schuldbewusstsein bei Fehlverhalten. Wenn der Dreijährige einem anderen Kind die Schaufel auf den Kopf gehauen hat, sagt er unbekümmert: „Das war ich nicht!“. Die Drei­jäh­ri­gen sind ganz auf sich sel­bst be­zo­gen. Wün­sche anderer ste­hen eher hin­ten an. Zu­erst möch­ten sie ihre ei­ge­nen Be­dürf­nis­se erfüllt ha­ben und dies meist so­fort. Sie wirken durch dieses Verhalten sehr selbstbewusst, es ist aber nichts weiter als die ausgeprägte Ichbezogenheit. Das zeigte der dreijährige Eike sehr deutlich als er einen martialisch aussehenden Jugendlichen keck fragte: „Bist du stärker als ich?“.  Nur der eine für ihn wichtige Gedanke steuerte sein angstfreies Verhalten.

Von Lügen weiß das dreijährige Kind noch nichts, sein Selbstwertgefühl ist vorübergehend nebensächlich, denn seine Aufmerksamkeit liegt jetzt auf der Außenwelt. Alles ist interessant und muss erkundet werden. Es glaubt, dass die anderen genauso denken wie es selbst, so dass es sich um die Ansichten der anderen nicht kümmert. Wie dieses Denken unbewusst den eigenen Vorteil fokussiert, zeigt folgendes Beispiel:

Der 3jährigen Bastian flötet seiner Mutter mit der süßesten Stimme ins Ohr: „Mama, wenn du ganz lieb zu mir bist, suche ich dir eine schöne Fernsehsendung aus, vielleicht die mit der Maus. Und die schau‘ ich dann für dich an.“

Das Kind vermischt seine Bedürfnisse mit denen der Mutter. Die sich ausbildende Intelligenz zeigt sich, indem es seine Erfahrung, dass Liebsein Vorteile hat, bei der Druchsetzung seines Wunsches berücksichtigt.

Das Kind will alles richtig machen und stärkt damit unbewusst sein Selbstwertgefühl

Gegen Ende des vierten Lebensjahres erreicht das Kind die zweite Stufe des Selbsterkennens: Es weiß jetzt, dass die anderen andere Gedanken im Kopf haben als das Kind selbst. Somit konzentriert es sich nun auf seine Gedanken und Gefühle. Es vergleicht sein Können und Wissen mit dem der anderen. Was können die und was kann ich? Warum verhalten die sich anders als ich? Die Regeln sind einigermaßen vertraut, auch wenn es diese manchmal noch vergisst. Es ist bestrebt, alles richtig zu machen und fordert ständig das Lob der Erwachsenen ein, denn es ist stolz auf seine Leistungen und sein Wissen. Sein Selbstwertgefühl wird ihm jetzt in ersten Ansätzen bewusst, da es den Zusammenhang zwischen seinen Leistungen und den starken positiven Gefühlen bemerkt. Dies spornt das Kind an, alles richtig zu machen. Es provoziert damit die besondere Anerkennung der Erwachsenen in dieser neuen Phase des Selbsterkennens; denn es fühlt sich verunsichert durch die vielen neuen Wahrnehmungen und das neue Wissen, das es in seine Welt einordnen muss. Sein Selbstwertgefühl wird gestärkt, wenn es die geforderte Anerkennung für sein richtige Verhalten von den Erwachsenen erhält.

Die unbewusste Veränderung der Realität

Das Selbstwertgefühl des vierjährigen Kindes kommt jetzt immer wieder in Kollision mit seinem Bestreben, alles richtig zu machen. Da das Regelverstehen noch nicht ganz stabil ist und Verbote auch mal missachtet werden, gelingt ihm die gute Absicht nicht immer. Im konkreten Fall registriert es seinen Fehler erst nach der verbotenen Handlung oder wird von den Erwachsenen darauf hingewiesen. Das Kind gerät durch die Erkenntnis des falschen Handelns oder durch die Kritik der Erwachsenen aus dem Gleichgewicht. Sein Selbstwertgefühl rutscht in den Keller. Zur Wiederherstellung des Gleichgewichts verändert es unbewusst die Realität und erzählt spontan eine Geschichte, in der es selbst keine Rolle spielt. Zu diesem Zeitpunkt kann es noch nicht unterscheiden zwischen absichtlicher Täuschung und Verzerrung der Wirklichkeit durch bloßes Wunschdenken (Piaget/Inhelder 1977, S. 93). Das Gebot der Wahrhaftigkeit ist ihm aus gleichem Grund nicht gegenwärtig, denn die Orientierung an der Wahrheit ist erst möglich, wenn das Kind begreift, dass seine Lüge den anderen verletzt. Es muss also erst die Fähigkeit entwickeln, sich in die Sichtweise des anderen hinein zu versetzen (Piaget 1981a, S. 186). So kommt es, dass es in der die Erwachsenen so verblüffenden Weise ‚lügt‘. Mit gleicher Sicherheit kann es fantasievoll nach anderen Schuldigen suchen, denn der Synkretismus im Denken (Butzmann 2021b) macht alles möglich.

Synkretismus im Denken heißt, es werden verschiedene Erkenntnisse, Wahrnehmungen, Gedanken miteinander vermischt und etwas konkretes Neues daraus gemacht, damit das Kind damit umgehen kann. Es wird kein logischer Zusammenhang gesucht. Wenn also die Puppe sich selbst die Haare abgeschnitten hat oder der Kakaobecher vom Wind umgeweht wurde, ist das die aktuelle Wahrheit für das Kind. Wie durch das synkretistische, auch vorlogisch genannte Denken die Zusammenhänge an den Vorschulkindern einfach vorbeirauschen, zeigt folgendes Beispiel:

Als die Mutter von Tjark, 4 Jahre, ihn nachmittags vom Kindergarten abholt erfährt sie, dass Tjark mittags allein in der Küche essen musste, weil er einer Erzieherin den ‚Vogel gezeigt‘ hatte. Zuhause fragt die Mutter, warum er allein in der Küche essen musste. Tjark weiß darauf keine rechte Antwort. „Vielleicht“, überlegt er, „sollte ich mal ausprobieren, ob es in der Küche auch schön ist zu essen“. „Aber Tjark“ hakt die Mutter nach, „du durftest nicht mit den anderen essen, weil du einer Erzieherin den Vogel gezeigt hast!“ Tjark sieht seine Mutter empört an. „Das stimmt gar nicht“, entrüstet er sich, „ich hatte ja gar keinen Vogel dabei!“

Dieser Junge hat nicht verstanden, warum er in der Küche essen musste. Ein Nachdenken darüber ist in dem Alter noch nicht möglich. Also konnte er die Frage der Mutter nicht einordnen. Seine Antwort am Schluss war eine ganz wörtliche; denn in dem Alter verstehen die Kinder das Gesagte wörtlich. Ein weiteres Beispiel zeigt die manchmal auftretende Dramatik eines wörtlichen Verständnisses: Der Vater will zum Volkslauf. Er fordert alle auf: „Kommt mit, damit ihr mich anfeuern könnt!“ Da heult der 3jährige Sohn los: “Ich will meinen Papa aber nicht verbrennen!“

Dementsprechend werden in dieser Entwicklungsphase die gegen das Kind sprechenden Beweise nicht verstanden. Die eigene Wahrnehmung wird für absolut gehalten. Erzählungen und Erinnerungen sind nach eigenen Wünschen und Phantasien ausgeschmückt, die zeitliche Reihenfolge von Ereignissen kann dabei verwechselt werden. Dem Kind ist nicht bewusst, dass es in Wahrheit ganz anders war (Piaget 1981b, S. 226). Es ist insofern kein bewusstes Täuschen, so dass logische Erklärungen der Erwachsenen nicht helfen. Die Kinder verstehen sie einfach nicht, auch wenn sie manchmal zustimmend nicken. Das ist nur ein Versuch ‚gut Wetter zu machen‘, da sie auf die Zuneigung der Eltern oder dem Einvernehmen mit der Fachkraft im Konfliktfall sehr angewiesen sind. Eltern und Erziehende sollten auf Fantasie-Geschichten bei Regelverletzungen nur mit einer akzeptierenden Bemerkung reagieren (wie: so so oder aha) und die Regel, gegen die verstoßen wurde, wiederholen. Damit bleibt das Selbstwertgefühl des Kindes stabil und es kann darüber nachdenken, was geschehen ist und daraus lernen.

In den Internetforen wird immer behauptet, dass Kinder solche Geschichten erzählen, um die Aufmerksamkeit der Erwachsenen zu erlangen. In solchen Situationen suchen die Kinder keineswegs die Aufmerksamkeit, sondern ihr anderes Denken führt zu diesem besonderen Umgang mit der Erkenntnis, falsch gehandelt zu haben. Es steht ganz konkret das eigene Selbstwertgefühl im Mittelpunkt. Auch in wissenschaftlichen Fachartikeln wird davon ausgegangen, dass Kinder das Lügen erst einmal lernen müssten (Heinrich 2020). Hier wird mit Experimenten nachgewiesen, wie Kinder sich das Lügen mühsam aneignen. Eine solche Interpretation von Studienergebnissen kommen zustande, wenn Entwicklungsmerkmale nicht beachtet und nur die sichtbaren Oberflächlichkeiten bewertet werden.

Unterschiedliches Verhalten der Kinder aufgrund des Temperaments

Das oben beschriebene Verhalten zeigen nicht alle Kinder. Es sind vornehmlich die, die ein außenorientiertes Temperament haben, schnell Wutanfälle bekommen und die mehr Zeit brauchen, um die Regeln zu verstehen. Dazu gehören viele der Jungen und ein Teil der Mädchen. Insgesamt ist bei zwanzig Prozent eines Jahrgangs das Verhalten auf Grund einer bestimmten Genvariante (Strüber, 2019, S. 275) sehr ausgeprägt. Bei denjenigen, wo dieses Temperament nicht so stark ausgeprägt ist, kommt das Verhalten hin und wieder vor.

Nur die Kinder, die keine Phantasiegeschichten brauchen, um ihr Selbstwertgefühl zu schützen, lügen selten und ‚petzen‘ eher. Sie haben eine gegenläufige Genvariante (Strüber, 2019, S. 274f), die ein weitgehend ängstliches und empfindsames Temperament verursacht. Sie zeigen bereits früh soziale Kompetenzen durch eine stärkere Gefühlsansteckung und Empathiefähigkeit und verfügen über eine höhere soziale Aufmerksamkeit. Solche Kinder halten sich schon früh an die Regeln und merken schnell, dass die Regeln sie selbst schützen; dann werden sie z.B. auch nicht von den anderen gehauen, wenn das verboten ist. Das kommt ihrem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis zugute. Sie sind in der Phase des Regellernens auf die Einhaltung der Regeln fixiert und sehen sofort, wenn ein anderes Kind dagegen verstößt. Dann ist es folgerichtig, diesen Regelverstoß bei den Erwachsenen zu melden, denn die haben die Regeln festgesetzt. Das Kind erwartet Lob für seine Aufmerksamkeit und versteht es absolut nicht, wenn es dafür kritisiert wird. Dann ist es beleidigt, weil die Kritik der Erwachsenen - neben der nicht erhaltenen Anerkennung -  sein Selbstwertgefühl verletzt. Zur Entwicklung des Selbstwertgefühls gibt es bei diesen Kindern eine Besonderheit. Sie bekommen im normalen Alltag selten Wutanfälle, werden jedoch besonders wütend, wenn ihnen etwas nicht gelingt. Sie haben hohe Erwartungen an sich selbst und sind beim Misslingen einer Aktion sehr verzweifelt. Hier haben Erwachsene kaum eine Chance zu helfen. Sie können nach dem Wutanfall das Kind nur ermuntern, es erneut zu versuchen. Ansonsten müssen sich insbesondere die Eltern darauf einstellen, dass diese Art von Wutanfällen auch noch im Schulalter vorkommt.

Lügen und Petzen als Schutzmaßnahmen für das Selbstwertgefühl

Das vermeintliche Lügen ist in der Vorschulzeit dementsprechend völlig normal, denn es ist ausschließlich eine unbewusste Schutzmaßnahme für das Selbstwertgefühl des Kindes. Es sollte deshalb auch nicht negativ bewertet werden, ebenso wenig wie das Petzen, das in dieser Zeit zum normalen Regellernprozess gehört. Solange die Kinder den Sinn der Regeln nicht verstehen, können sie sich nicht anders verhalten. Erfahren sie dadurch immer wieder Ablehnung durch Erziehungspersonen, verstärkt sich das Lügen und Petzen. Es ist auch nicht sinnvoll, sie ständig dazu anzuhalten, dies zu unterlassen, denn sie verstehen den Grund dafür nicht. Der Lernprozess findet trotzdem statt; zum einen durch die Weiterentwicklung des Denkens und sozialen Verstehens und zum anderen durch die Reaktionen der Gleichaltrigen. Denn die Kinder bezichtigen sich im Spiel gegenseitig häufig des Lügens oder Petzens, so dass das Thema für alle präsent bleibt. Das sollte auch nicht unterbunden werden, weil es den sozialen Lernprozess in den Spielsituationen unterstützt.

Die Fünf- und Sechsjährigen denken über ihr Verhalten nach

Erst bei den Fünfjährigen ist es hilfreich, auf die Unlogik in ihren Aussagen hinzuweisen, damit sie zum Nachdenken über ihr Verhalten kommen. Denn das ist ab jetzt eine der gedanklichen Hauptbeschäftigungen der Kinder, die das Wissen über sich selbst und die Umwelt vorantreiben. Es gibt allerdings immer noch Besonderheiten im Denken der Kinder, denn die Logik ist noch nicht ganz ausgereift. Anhand der nachstehenden typischen Aussagen von Fünfjährigen soll die Art, wie sich diese Kinder die Welt erklären, deutlich werden:

Dennis (5) sinniert vor sich hin und sagt dann: „Wenn es keine Turmuhren gäbe, wüsste die Sonne nicht, wann sie untergehen muss!“

Catarina (5): „Weil sich die Erde dreht, liege ich manchmal morgens verkehrt herum im Bett.“

Rebecca (5): „Der Schneemann hat keine Schneefrau, weil es ihm nicht warm werden darf.“

Bei den Fünfjährigen kann begonnen werden, solche Erkenntnisse richtig zu stellen, wenn es sich ergibt. Bei den Fantasie-Geschichten kann jetzt danach gefragt werden, was denn wirklich passiert ist. So wird das Kind dabei unterstützt, die Trennung zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu erkennen.

Erst mit 6 Jahren kann das Kind zwei unterschiedliche Sichtweisen gegeneinander abwägen und sich in die Sichtweise des anderen hineinversetzen. Es versteht jetzt auch den Sinn der Regeln. Es erkennt, dass Regeln zum besseren Miteinander notwendig sind. Das vor-logische Denken geht nun über ins durchgängig logische Denken. Dieses neue Denken und Empfinden führt jedoch noch häufig zu Irritationen oder auch zur Selbstüberschätzung, wie folgende Beispiele zeigen:

Ein 6jähriger bemüht sich, gute Umgangsformen zu zeigen. Bei dem Besuch eines Bekannten seines Vaters in dessen Gartenlaube öffnet er dort den Kühlschrank und fragt höflich: „Darf ich mir etwas anbieten?“

Stefan unterhält sich mit seinem Freund Frank, beide 6 Jahre alt.  -  Stefans Großmutter war soeben von einer Grippe genesen. Frank will nun von Stefan wissen: „Wie lange lebt deine Oma noch?“  Stefans Antwort: „Das weiß nur der liebe Gott. Das ist nämlich wie beim Joghurt. Da weiß auch nur die Firma das Haltbarkeitsdatum.“

Das sind spontane Gedanken der 6jährigen, die damit keinen Scherz machen wollen, denn besonders die Jungen hinterfragen noch nicht, ob das okay ist, was sie sagen. Den meisten Mädchen gelingt das früher.

Zu Schulbeginn begreift das Kind, warum Lügen eine Regelverletzung ist. Der Sinn der Regeln ist ihm jetzt bewusst, weil es nun in der Lage sind, sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen. Die Sechsjährigen verstehen also, dass Lügen andere verletzen können. Es wird dem Kind klar, dass Regeln für das Funktionieren einer Gruppe wichtig sind.

Aus diesem Grund bemüht sich das sechsjährige Kind, die Regeln einzuhalten. Am Anfang ist es davon überzeugt, dass sich jeder an die Regeln halten muss. Auf Höflichkeitslügen lässt es sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ein, denn es ist vorerst noch recht starr in seinem Regelverständnis.

Wenn sich bereits Vier- und Fünfjährigen strikt an Regeln halten, handelt es sich einerseits um die eher ängstlichen und empfindsamen Kinder, andererseits richten sich Kinder in außerfamiliären Situationen nach den Vorgaben der eher fremden Erwachsenen, weil sie sich dort unsicherer fühlen als zu Hause. Sie strengen sich hier stärker an, die Regeln einzuhalten. Zu Hause gelingt das eher nicht, da sie sich hier sicher fühlen und dann nachlässiger sind.

Grundschüler:innen verstehen langsam, was Lügen bedeutet

Zwischen sieben und acht Jahren differenziert sich das Verständnis von Lügen etwas aus, weil die Kinder über die Bedeutung des Lügens nachdenken. Eine Befragung von Schulkindern durch die Zeitschrift „Eltern“ zeigte, was diese über das Lügen denken. An den Antworten von drei Grundschulkindern wird klar, wie sehr sie mit den neuen Erkenntnissen über das Lügen noch beschäftigt sind.

Ein 8jähriger Junge sagte: Wenn ich lüge, bekomme ich plötzlich arge Bauchschmerzen. Ein 9jähriges Mädchen antwortete: Ich lüge nie. Es passiert höchstens mal, wenn ich es nicht merke. Ein anderes 9jähriges Mädchen sagte: Ich bin total gegen Lügen, aber es geht oft nicht ohne Schummeln (Butzmann 2011, S. 62). Die argen Bauchschmerzen des Achtjährigen sind ein deutliches Zeichen für das aus dem Gleichgewicht geratene Selbstwertgefühl, denn er hat eine Regel verletzt. Die Begründungen der beiden Mädchen zeigen, dass sie das Ganze lockerer sehen.

Ab dem mittleren Grundschulalter verstehen die Kinder, dass Lügen eine Missachtung der anderen Person ist. Wenn sich das Selbstwertgefühl bis zu diesem Zeitpunkt gut entwickelt konnte, werden die Lügen weniger. Voraussetzung dafür sind tragfähige familiäre Beziehungen, die es dem Kind ermöglichen, Fehlverhalten ohne Angst vor Strafe zuzugeben. Die Lügen haben dann keine selbstwertstützende Funktion mehr, sondern die Kinder benutzen eher Höflichkeitslügen oder lügen, um einen Vorteil zu erreichen.

Nur die Kinder mit einem instabilen Selbstwertgefühl lügen weiterhin, um sich zu schützen. Wenn für ein Kind keine sicheren Bindungsbeziehungen möglich waren und sein Selbstwertgefühl sich nicht gut entwickeln konnte, hat es mit Schulbeginn viele Gründe zu lügen, um sein instabiles Selbstwertgefühl zu stützen. Die weiter entwickelte Intelligenz wird zunehmend genutzt, kluge Lügen zu erfinden, damit niemand merkt, dass das Kind lügt.

Die Weiterentwicklung des Selbstwertgefühls

Die weitere Entwicklung des Selbstwertgefühls wird vermehrt abhängig von den Erfahrungen des Kindes außerhalb der Familie. Die Anerkennung durch Freunde und Lehrpersonen rückt in den Vordergrund. Diese befördert beim Schulkind angemessenes Sozialverhalten und die Leistungsmotivation in gleichem Maße wie dies seine Familienbeziehungen bewirken.

Das Verhalten bei Misslingen einer Aktion wird weiterhin gezeigt, denn das Gelingen eines Plans hat immer noch den gleichen Stellenwert für das Selbstwertgefühl. Das bedeutet, das Kind wird zwar wütend, wenn etwas misslingt, ist jedoch zunehmend in der Lage, das Misslingen zu akzeptieren. Besonders in außerhäuslichen Situationen gelingt ihm das. Sein Selbstwertgefühl ist inzwischen stabil genug, um schlechte Erfahrungen mit sich und anderen auszuhalten.

Lügen und Selbstwertgefühl in der Pubertät

Während der Pubertät kommt das Selbstwertgefühl durch die körperlichen Veränderungen und den Umbau im Gehirn vorübergehend wieder aus dem Gleichgewicht, erreicht danach jedoch eine hohe Stabilität. Voraussetzung dafür ist eine gute familiäre Einbindung, aus der die Loslösung von den Eltern ohne Verzerrungen möglich ist. Allerdings kann eine zu große Abhängigkeit von sozialen Medien in dieser Zeit das Selbstwertgefühl der Kinder  beschädigen. Insgesamt bekommt das Lügen in der Pubertät noch einmal eine selbstwertstabilisierende Funktion und sollte von den Eltern nicht überbewertet werden.

Literatur

Butzmann, Erika, 2011. Elternkompetenzen stärken. München: Reinhardt.
Butzmann, Erika, 2021a. Verfügbar unter: https://www.erzieherin.de/entwicklung-der-kindlichen-selbststaendigkeit.html 
Butzmann, Erika. 2021b. Verfügbar unter: https://www.erzieherin.de/kleine-entwicklungspsychologie-die-helfen-kann-kindergartenkinder-besser-zu-verstehen.html
Heinrich, Mareike. 2020. Lügen will gelernt sein. Geist&Gehirn Heft 7, S. 34-39.
Piaget, Jean, 1981a. Das moralische Urteil beim Kind. Frankfurt: Suhrkamp
Piaget, Jean, 1981b. Urteil und Denkprozess des Kindes. Frankfurt: Ullstein
Piaget, Jean und Bärbel Inhelder, 1977. Die Psychologie des Kindes. Frankfurt: Fischer
Roth, Gerhard, 2011. Bildung braucht Persönlichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta.
Roth, Gerhard, 2015. Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Stuttgart: Klett-Cotta.
Strüber, Nicole, 2019. Risiko Kindheit. Stuttgart: Klett-Cotta
 
© Erika Butzmann, Erstversion auf ErzieherIn.de 09.02.2022/ Überarbeitet 06.04.2023  (Erstveröffentlichung in abgeänderter Form unter www.fuerkinder.org )

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Kommentare (2)

Cora 05 März 2024, 22:22

Ich finde den Artikel sehr hilfreich! Ich habe mit meiner Tochter (4 Jahre) gerade dieses Thema und mein Bauchgefühl hat mir jedesmal gesagt, dass sie gerade eine andere Realität erlebt und sie mich nicht bewusst anlügt. Dank des Artikels werde ich jetzt nicht mehr mit ihr streiten und auf die Wahrheit bestehen sondern mit ihr geduldig bleiben. Danke. Es ist so traurig wie man manchmal gegen sein Gefühl handelt und irgendwelche blöden Zukunftsszenarien entwirft statt im Moment ganz beim Kind zu sein.

Sarah 04 September 2023, 19:44

Notlügen sind akzeptabel

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