"Es ist bereits fünf nach 12!"
Für die Erhöhung der Chancen auf Bildungsgerechtigkeit in Deutschland bedarf es dringender Reformen in der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung – bestehende Strukturen sorgen für einen Reformstau.
Zuständigkeitswirrwarr und Trägerlabyrinth
Schwachstellen im deutschen System der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung sind unübersehbar. Beginnen wir bei den politischen Rahmenbedingungen. Die OECD bezeichnet das deutsche System der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung als komplex und hochgradig dezentralisiert, es überschneiden sich drei Ebenen – Bund, Länder, Kommunen - mit vielen freien Trägern. Anders ausgedrückt: für den Elementarbereich kennzeichnend sind ein Zuständigkeitswirrwarr und ein Trägerlabyrinth.
Für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, In diesen Kontext fällt die Verabschiedung des Achten Buches Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe – SGB VIII durch die Bundesregierung.
Die Länder haben die Aufgabe, das Bundesrecht umzusetzen, sind aber auch für das gesamte schulische Bildungssystem zuständig.
Die kommunalen Gebietskörperschaften (Kreise, Städte und Gemeinden) sind für die Umsetzung der bundes- und landesgesetzlichen Vorgaben zuständig, erbringen aber auch als Träger Leistungen, weil sie eigene Einrichtungen haben.
Die Kommunen sind aber auch, sofern sie als Träger von Kinderbetreuungseinrichtungen fungieren, für die Umsetzung der Bildungspläne und -empfehlungen nach Maßgabe der bundes- und länderspezifischen Vorgaben in ihren Einrichtungen verantwortlich.
Die Träger unterscheiden sich nach außen in ihrem Selbstverständnis und ihrer Selbstdarstellung durch eigene, spezifische Werteorientierungen und Traditionen. Ihre Vielfalt garantiert einerseits ein diversifiziertes Angebot sowie Freiräume für Innovation, andererseits erschwert dieses „Trägerlabyrinth“ ein Betreuungssystem in Kindertageseinrichtungen mit vergleichbaren Qualitätsstandards, das allen Kindern gleiche Bildungs- und Entwicklungschancen bietet.
Finanzierung
Ein wesentlicher Schwachpunkt ist die Finanzierung des Krippen- und Elementarbereichs. Deutschland gibt nur 0,4 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die frühkindliche Erziehung, Bildung und Betreuung aus, der OECD-Durchschnitt liegt bei 0,6 Prozent.
Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern hat der Bund keine direkte Funktion bei der Grundfinanzierung frühkindlicher Betreuungseinrichtungen. Die laufenden Kosten dieser Einrichtungen werden von den Bundesländern, Kommunen, Trägern und Eltern finanziert. Gemeinden, die auch Trägerfunktionen innehaben, müssen bei der Finanzierung den Trägeranteil mit übernehmen. Im Durchschnitt übernehmen Länder und Gemeinden 75 bis 80 Prozent der laufenden Kosten, die Eltern ca. 14 Prozent, in NRW bis zu 19 Prozent, und den Rest die freien Träger.
Gleichwohl sind die Kommunen als öffentliche Jugendhilfe- und Aufwandsträger in ihren finanziellen Möglichkeiten angesichts der Größe der Aufgaben und der bereits angesprochenen angespannten Finanzlage völlig überfordert. Was dazu führt, dass hierzulande die Bildungschancen der Kinder und somit die Zukunft des Wissens- und Wirtschaftsstandorts Deutschland abhängig sind vom Willen der Träger und von der Finanzkraft der Kommunen bzw. der Entscheidung von Bürgermeistern und Lokalpolitikern.
Ein Ungleichgewicht ist auch festzustellen bei der Verteilung der Lasten: Bei den privaten Bildungsausgaben – getragen überwiegend von Haushalten, Organisationen und Trägern – weist der Elementarbereich mit 38 Prozent gegenüber 62 Prozent öffentlicher Ausgaben den höchsten Anteil auf. Im Primar- und Sekundarbereich lag die Relation von 19 zu 81 Prozent und im Tertiärbereich bei 9 zu 91 Prozent.
Um den Reformbedarf und die notwendigen Handlungsschritte zu erkennen, sind zunächst die Defizite zu identifizieren:
1. Defizit: Angebotsstruktur und Versorgungslage
In der Angebotsstruktur und der Versorgungslage mit frühkindlichen Betreuungseinrichtungen ist es hierzulande nicht zum Besten bestellt. Auch wenn auf den ersten Blick die Vielfalt der öffentlichen Einrichtungen der Kindertagesbetreuung beachtlich erscheint, offenbaren sich bei genauerer Betrachtung teilweise erschreckende Defizite. Der Ausbau der Krippenplätze ist ein wichtiger und notwendiger Beschluss. Allerdings muss er durch die entsprechenden finanziellen Mittel gestützt sein und für die Leistungsberechtigten – die Eltern mit ihren Kindern – in angemessener Form umgesetzt werden. Gerade in ländlichen Regionen kann (noch) nicht von der Anwendung des Wunsch- und Wahlrechts der Eltern (gem. §5 SGB VIII) gesprochen werden. Sicher ist dies eine Herausforderung aufgrund der demographischen Entwicklung. Gleichzeitig muss die Attraktivität ländlicher Strukturen durch entsprechende Vielfalt von Institutionen der Erziehung, Bildung und Betreuung erhöht werden. Von daher ist es zu begrüßen, dass in NRW mit Hilfe von finanziellen Sonderprogrammen der Ausbau der Krippenplätze forciert wird.
2. Defizit: Qualifikation der Fachkräfte
Eines der gravierendsten Probleme im Krippen- und Elementarbereich offenbart die Qualifikation der Fachkräfte.
Rund zwei Drittel aller im Kita-Bereich Beschäftigten sind ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher. Aber nur ein geringer Prozentsatz aller hier Tätigen des gesamten pädagogischen Fachpersonals hat einen Fachhochschul- oder Universitätsabschluss. Selbst bei den freigestellten Leitungskräften der Kitas liegt der Akademikeranteil durchschnittlich bei nur knapp 16 Prozent, wobei diese Quote je nach Bundesland deutlich variiert. Die Akademisierung der Erzieherinnen und Erzieher ist im internationalen Vergleich in Deutschland auffallend gering.
Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, wo eine Verknüpfung von Ausbildung und Forschung selbstverständlich ist, wurden hierzulande in den vergangenen 30 Jahren sozialpädagogische Ausbildungsstätten kaum in Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der Universitäten und Institute einbezogen.
Schlecht bestellt ist es auch um die Mobilitätschancen: In Deutschland ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher haben kaum eine reelle Chance auf eine Anstellung in Bildungseinrichtungen anderer Länder. Der Grund: mit Ausnahme von Deutschland, Österreich, Malta und der Slowakischen Republik benötigen in allen anderen Ländern Fachkräfte mit Gruppenleitungsfunktion im Elementarbereich eine Hochschulausbildung. Entsprechend ist es ihnen auch innerhalb Deutschlands nur schwer möglich, wie in vielen anderen Ländern üblich, zum Beispiel in den Grundschulbereich zu wechseln.
Hinzu kommt das Problem der „Erzieherinnendomäne“ bei einem Anteil von 5,4 Prozent männlicher Erzieher im Westen und 3,6 Prozent im Osten Deutschlands, die niedrige Bezahlung und das nach wie vor schlechte Image der „Kindergartentante“.
3. Defizit: Strukturelle Rahmenbedingungen
Auch was die strukturellen Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen anbelangt, kann sich Deutschland im internationalen Vergleich hinten anreihen, beispielsweise sichtbar an Regelungen zu Gruppengrößen in der Krippenbetreuung. Dieser zeigt die föderale Vielfalt, so dass beispielsweise in Niedersachsen maximal 15 Kinder, in NRW 10 Kinder in einer Krippengruppe betreut werden dürfen und bspw. Berlin sowie Brandenburg keine verbindlichen Regelungen hierzu vorsehen.
Von den EU-Empfehlungen und denen der OECD für den Betreuungsschlüssel ist Deutschland in jeder Altersgruppe leider zu weit entfernt. Dabei ist erwiesen, dass eine höhere Anzahl von Betreuungspersonen in Kleinkindergruppen positive soziale Interaktionen ebenso fördert wie ein besseres emotionales Klima, eine sichere Bindung zur Betreuungsperson, höhere soziale Kompetenz, Differenziertheit im sozialen Spiel, kooperatives Verhalten und höhere Leistungsfähigkeit. Ähnlich verhält es sich bei strukturellen Kriterien wie Gruppengröße, Stabilität der Betreuung, Gesundheit und Sicherheit, Raumgestaltung oder Strukturierung des Betreuungsbedarfs.
4. Defizit: Implementierung von Bildungsplänen
Erfreulicherweise – wenn auch mit ca. zehn Jahren Rückstand auf andere Industrieländer – haben mittlerweile alle Bundesländer Bildungspläne entwickelt und vorgelegt, dennoch bleibt festzustellen, dass der Boden für die Implementierung dieser Pläne noch nicht bereitet ist.
Unserem föderalen System entsprechend ist im Gegensatz zu fast allen europäischen wie außereuropäischen Ländern die Entwicklung von Bildungsplänen asynchron und unkoordiniert verlaufen, unter Berücksichtigung unterschiedlicher Rahmenbedingungen. Des Weiteren fehlt ein länderübergreifender Rahmenbildungsplan auf Bundesebene, der nach dem Beispiel Norwegens, Schwedens oder Australiens die Rahmenvorgaben bereitstellt. Dieser wäre gleichzeitig als Steuerungsinstrument geeignet, weil er eine geeignete Grundlage für die Evaluation des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland böte, die ebenfalls – wenn überhaupt – unkoordiniert und asynchron verläuft.
Ebenso fehlen – mit Ausnahme von Hessen – auf Landesebene institutionsübergreifende Bildungspläne, die nicht wie bislang ausschließlich auf die herkömmlichen Typen von Tageseinrichtungen für Kinder hin orientiert sind, sondern die Inhalte auch im Hinblick auf den Übergang vom Kindergarten zur Grundschule hin erweitern.
Bezeichnend für die Bedeutung, die im politischen Alltag der frühkindlichen Bildung beigemessen wird, ist die Tatsache, dass in manchen zuständigen Landesministerien im Mittelbau angesiedelte Entscheidungsträger keine Kenntnis über die vom eigenen Ministerium in Auftrag gegebene Entwicklung von Bildungsplänen für den Elementarbereich haben. Ein weiteres systemimmanentes Defizit ist, dass die Umsetzung der Bildungspläne letztlich vom Willen der Träger abhängt.
Forderungskatalog
Abschließend stelle ich meine Forderungen vor. Es handelt sich dabei um Bausteine für Umsetzung einer umfassenden Reform im Elementarbereich:
Frühkindliche Förderung umfassend verbessern
Vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse der Bildungsforschung und der Entwicklungspsychologie, die die zentrale Bedeutung der ersten sechs Lebensjahre herausstellen, wird deutlich, in welchem Maße derzeit Entwicklungschancen von Kindern in Deutschland ungenutzt bleiben. Die Länder, die bei der PISA-Studie erfolgreiche Ergebnisse erhielten, haben sich diese Erkenntnis zu Eigen gemacht. Auch in Deutschland muss frühkindliche Förderung den anderen Bildungsbereichen - Schule und Hochschule - gleichgestellt werden, ohne eine Verschulung von Kindheit einzuleiten.
Kindertageseinrichtungen auf westeuropäisches Niveau ausbauen
Es wird ein zeitlich flexibles Angebot benötigt, das sowohl den Bedürfnissen der Kinder entspricht als auch den Alltagsrealitäten von Eltern, die erwerbstätig sein wollen und/oder müssen. Mit Blick auf die bislang unbefriedigende Situation der Tagesbetreuung in Deutschland wird der weitere quantitative Ausbau des Systems der Tageseinrichtungen dringend empfohlen.
Gemeinsame verbindliche Bildungs- und Erziehungsstandards entwickeln
Spielerische Lernformen kennzeichnen das Verständnis früher Bildung. Kinder brauchen auch vor der Einschulung eine bestmögliche Begleitung und Förderung. Das Spektrum der kognitiven und sozialen Förderbereiche in Kindertageseinrichtungen muss umfassend sein. Bildungsstandards, die gemeinsam entwickelt werden müssen, sind wichtige Grundlagen für die Bildungs- und Entwicklungspläne der Länder, die ausbaufähig und evaluierbar angelegt sein sollten.
Pädagogische Qualität steigern
Strukturelle Qualitätsaspekte wie Gruppengröße, Betreuungsschlüssel und Qualifikationen der Fachkräfte sind bedeutsam. Lern- und Entwicklungschancen hängen jedoch auch maßgeblich von der Qualität der sozialen Beziehungen und Prozesse ab, die zwischen Fachkräften und Kindern und jeweils untereinander bestehen. Qualitätsentwicklung und deren Sicherung durch interne und externe Verfahren müssen gerade auch im Interesse der Träger und pädagogischen Fachkräfte selbstverständlicher und verpflichtender Bestandteil der Arbeit im frühkindlichen Bereich sein.
Kinder mit besonderem Betreuungsbedarf früh integrieren
Für Kinder mit besonderen Bedürfnissen müssen spezifische Förderangebote bereit gehalten werden. Gute Ergebnisse zeigen sich in integrativen Einrichtungen, die Kinder mit Behinderung und Entwicklungsrisiken aufnehmen und die durch regelmäßige Diagnostik und Präventionsarbeit sowie Einzelförderung und Kleingruppenarbeit fachlich unterstützt werden.
Bildungs- und Erziehungspartnerschaft realisieren
Eltern tragen für die Erziehung ihrer Kinder die vorrangige Verantwortung. Tageseinrichtungen erfüllen einen von den Eltern übertragenen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Bildungs- und Erziehungspartnerschaft von Eltern und Fachkräften sollen zu neuen weitergehenden Formen der Mitbestimmung der Eltern und zu mehr aktiver Mitarbeit beitragen. Die Tageseinrichtungen sollten auch wesentlich stärker als Orte für Angebote der Elternbildung genutzt werden, so dass der weitere Ausbau von Familienzentren notwendig wird.
Einrichtungen eltern- und kinderfreundlich organisieren
Krippe, Kindergarten und Hort in ihrer bisherigen Form sind noch Einrichtungen des 20. Jahrhunderts. Für das 21. Jahrhundert werden neue Formen benötigt, in denen vielfältige Angebote für Kinder, Angebote für Eltern sowie Beratungs- und Qualifizierungsangebote für Fachkräfte unter einem Dach miteinander verbunden sind. Es geht darum, den Bildungsverlauf insgesamt in den Blick zu nehmen. Ein Vorbild können die Early Excellence Centres aus England mit ihrer übergreifenden Förderungskonzeption und ihren festen Kooperationsbeziehungen sein. Die Entwicklung von Bewältigungsstrategien für Übergänge im kindlichen Bildungsverlauf (z.B. vom Kindergarten in die Schule) kann positive Effekte haben und muss Aufgabe der Pädagogen und Pädagoginnen sein.
In die Professionalisierung der Fachkräfte investieren
In Anlehnung an die meisten EU-Länder bedarf es einer mittelfristigen Perspektive der Anhebung des Niveaus der Erzieherausbildung auf Fachhochschul- bzw. Universitätsniveau mit einem modernen, auf eine Erzieherbiographie ausgerichteten Gesamtkonzept der Professionalisierung. Um Fachkräften in der Praxis eine akademische Weiterqualifizierung zu eröffnen, sind berufsbegleitende Weiterbildungsprogramme auszubauen.
Staatliche Steuerung verändern
Von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Standards zum Bildungs- und Erziehungsauftrag, zur Professionalisierung der Fachkräfte oder zu Bau und Ausstattung lassen sich heute zumindest nicht mehr wissenschaftlich begründen. Eine länderübergreifende Verständigung ist nötig. Auf lokaler Trägerebene ist ein Abbau von zu starren Regelungen möglich, der auch das Verhältnis zu den Eltern durch Abschluss von Bildungs- und Erziehungsverträgen rechtlich neu konzipiert.
Knappe Mittel optimal einsetzen
Generell ist nach Lösungen zu suchen, die zu effizienterem Mitteleinsatz und zur Budgetanhebung führen. Im internationalen Vergleich und im nationalen Bildungsstufenvergleich sind in Deutschland der Krippen-, Elementar- und Primarbereich deutlich unterfinanziert. Der hohe Stellenwert der frühkindlichen Förderung und der hohe volkswirtschaftliche Nutzen erfordern es, innerhalb der öffentlichen Haushalte umzuverteilen.
Ich möchte mit folgendem Zitat schließen, das die Notwendigkeit einer Neuakzentuierung der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung zusammenfasst:
„Weil unsere Kinder unsere einzige
reale Verbindung in die Zukunft sind
und weil sie die Schwächsten sind,
gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“
Olof Palme
Die Autorin
Ilse Wehrmann, Erzieherin, Diplom-Sozialpädagogin, Dr.phil., Publizistin und Autorin zahlreicher Fachbücher, Sie ist Inhaberin von Wehrmann Education Consulting, einem Beratungsunternehmen für Auf- und Ausbau betriebsnaher und betrieblicher Kindertagesbetreuung sowie von Wehrmann Comites Consulting, einer Personalvermittlung für pädagogische Fach- und Führungskräfte. www.ilse-wehrmann.de. E-mail: mail@ilse-wehrmann.de.
Literaturhinweise/Quellennachweise sind bei der Autorin zu erfragen.