
Aus der "Schneckenpost". Experimente - Triebfedern des Lebens
Geht es um Experimente, denken viele Leute an ergraute Männer oder Frauen in weißen Kitteln, die sich über Reagenzgläser beugen. Anderen fällt vielleicht der Ausruf „Nur keine Experimente!“ ein. So ein Experiment scheint also etwas zu sein, das manche Menschen beruflich beschäftigt, im Alltag aber eher zitiert wird, wenn jemand aus der Reihe tanzt, mit Utopien jongliert oder durch seinen Kleidungsstil auffällt.
Das Lateinwörterbuch hingegen weiß: Ein Experiment ist ein Versuch, ein Beweis, eine Prüfung oder eine Probe. Kluge Köpfe sagen, es sei eine Frage an die Natur. Wikipedia meint, dass man manchmal eine Ahnung hat, was bei einem Experiment herauskommt, und manchmal nicht. Das kommt mir alles irgendwie bekannt vor.
Als ich heute morgen mit meiner kleinen Tochter vor dem Spiegel stand, zog sie, ohne dass ich es bemerkte, eine Blume aus der Vase und stopfte sie in den Mund. Als ich hinsah, verzog sie das Gesicht. Es hatte ihr wohl nicht geschmeckt. Ganz ohne Worte hatte meine Tochter eine Frage an die Natur gestellt: Wie schmecken Blumen? Weil sie noch nicht weiß, was Blumen sind, fragte sie eben so.
In der Kita kam ein Junge zu mir und schlug mich. Ich sagte ihm, dass er das lassen solle, denn ich möchte nicht geschlagen werden. Auch er hatte experimentiert. Seine Frage lautete: Was macht der Christian, wenn ich ihn haue? Wahrscheinlich wird der Junge das Experiment noch ein paar Mal wiederholen, bis er sich meiner Antwort sicher ist. Damit ist die Welt für ihn fassbarer geworden, besser verständlich.
Denke ich darüber nach, finde ich, dass wir ständig von Experimenten umgeben sind. Das Spiel der Kinder ist ein groß angelegter Massenversuch. Sie nehmen Bekanntes – Gegenstände, Spielpartner, Verhaltensweisen – und kombinieren es mit Unbekanntem. Fangen zu spielen, das kann auf neuem Terrain ganz neue Erlebnisse bescheren. Einem Schulkind eine Schaufel Sand ins T-Shirt zu schütten, das hat vielleicht ganz andere Folgen als beim gleichaltrigen Freund.
Schauen wir zurück in die Geschichte der Menschheit, schwant uns, dass wir ohne das Experiment, das Sich-auf-Neues-Einlassen wahrscheinlich noch als Einzeller in einem lauwarmen Tümpel vor uns hindämmern würden. Niemand hätte seinen Fuß an Land gesetzt, keiner hätte seine Angst vor dem Feuer überwunden oder einen Stein behauen, wenn unsere Fragen an die Natur uns nicht auf der Seele brennen würden.
Das Experiment ist viel mehr als die Sache von Wissenschaftlern. Es ist die Triebfeder des Lebens, die Keimzelle der Kultur und die Grundlage aller Entwicklung – beim einzelnen Menschen wie bei der Menschheit. Grund genug und Aufforderung für mich, auch bei der nächsten Frage mit der flachen Hand die Geduld nicht zu verlieren.