viele Hände im Sand, die aufeinander ausgerichtet sind

Familientherapeutische Ansätze bei innerfamiliärem Missbrauch

Marie-Luise Conen

25.03.2013 Kommentare (1)

Die familientherapeutische Arbeit bei sexueller Gewalt innerhalb der Familie ist in Deutschland nicht sehr verbreitet. Dies liegt sicherlich daran, dass in der Vorstellung von Fachkräften häufig ein Zusammenbleiben der Familie nach der Aufdeckung nicht möglich erscheint bzw. abgelehnt wird. Als zu gravierend wird die Inzestsituation betrachtet, als dass man Arbeitsansätze anwendet, die nach einer entsprechenden therapeutisch-beraterischen Aufarbeitung ein Zusammensein der Familie als wieder möglich betrachten, insbesondere dann nicht, wenn der Täter in der Familie verbleibt. Mit einem missbrauchenden Elternteil bzw. Stiefelternteil/Partner direkt an dem sexuellen Übergriff zu arbeiten, wird noch weniger befürwortet, wobei die Voraussetzung für eine familientherapeutische Arbeit in diesem Fall ist, dass er Verantwortung für den Missbrauch übernimmt und ihn nicht verleugnet, wie weiter unten ausgeführt wird. Im Vordergrund steht vielfach das Bestreben von Fachkräften, die Kinder nicht nur kurzfristig zur Sicherung des Kindeswohls aus der Familie zu nehmen, sondern sie außerhalb der Familie zu belassen, denn sie trauen es der Familie eher nicht zu, dass diese die Inzestsituation maßgeblich beeinflussen kann. Deshalb stehen entsprechende Angebote auch nur sehr eingeschränkt zur Verfügung.

Familientherapeutische Konzepte finden hierzulande noch immer – im Gegensatz zu angloamerikanischen Ländern – wenig Interesse. Dabei wären die daraus resultierenden Kenntnisse und Vorgehensweisen nicht nur sehr hilfreich für die Arbeit mit den betroffenen Kindern und ihren Geschwistern, sondern auch für den nicht missbrauchenden Elternteil, den Täter und die gesamte Familie. Die hier vorgestellten Grundprinzipien einer familientherapeutischen Arbeit in Inzestfamilien beziehen sich auf die Arbeit mit einer alleinerziehenden Mutter und ihren Kindern, sowohl wenn die Kinder weiterhin bei ihr leben als auch zur Vorbereitung und Begleitung einer Rückführung nach einer Inobhutnahme. In seltenen Fällen kann es auch um eine Rückführung gehen, wenn der Täter weiterhin in der Familie lebt, aber nur unter der oben genannten Voraussetzung der Verantwortungsübernahme (vgl. Tjersland u. a. 2006).

Missbrauchsfördernde Strukturen und Dynamiken in Vernachlässigungsfamilien[1]

Während in den 1980er-Jahren mit der Thematisierung der sexuellen Gewalt gegenüber Kindern ein Bann gebrochen wurde, der Fokus vornehmlich auf die Kinder gerichtet war und eine Ablehnung von „Täterarbeit“ sich manifestierte, ging man in den 1990er-Jahren dazu über, dieses Thema immer mehr den wenigen „Spezialeinrichtungen“ bzw. „-angeboten“ zu überlassen, und die Missbrauchsproblematik bei vielen Kindern in den Jugendhilfeeinrichtungen nicht mehr so in den Fokus zu nehmen. Nicht selten konnte man den Eindruck haben, dass sexuelle Gewalt gegenüber Kindern eher ab- denn zugenommen hätte. Dies stand jedoch in heftigem Gegensatz zu den Beobachtungen in der Praxis – wenn man bereit war, ein offenes Auge und Ohr für das Thema zu haben. In den 2000er-Jahren wurde und ist die Aufmerksamkeit auf die Diagnose von Kindeswohlgefährdungen gerichtet. Dabei wird im Allgemeinen m. E. eher der Fokus auf die Abklärung von Gefährdungslagen und die daraus abzuleitenden Arbeitsschritte gelegt. Weniger wird jedoch darauf geschaut, welche Familiendynamiken bestanden und bestehen, die dazu beigetragen haben, dass es zu den verschiedensten Ausformungen von Kindeswohlgefährdungen, auch von sexueller Gewalt, gekommen ist. Vor allem ist auffällig, dass bei Vernachlässigungsfamilien sehr stark das Augenmerk auf die äußeren Merkmale, ggfs. auch noch auf einzelne individualpsychologische Aspekte (z. B. psychisch erkrankter Elternteil) gerichtet wird. Familien, in denen die Kinder und auch Dinge, wie die Wohnung insgesamt, vernachlässigt scheinen, werden m. E. nur unzureichend auch unter dem Aspekt betrachtet, dass die Vernachlässigungen in einem Kontext und verbunden mit Dynamiken geschehen, die sowohl sexuelle Übergriffe „erleichtern“ bzw. „herbeiführen“ als auch Ausdruck solcher Übergriffe sein können (vgl. Conen 1997; Zimmermann 2010; Kindler/Schmidt-Ndasi 2011).

Es ist zu vermuten, dass in einer Vielzahl von „Vernachlässigungsfamilien“ ein Mangel an familialer Struktur und damit Dynamiken zum Ausdruck kommen, die früher oder später auch zu sexuellen Übergriffen, sei es durch Familienmitglieder (Vater, Partner, Bruder) oder durch Außenstehende führen können: Chaos, der dominierende Müll, Unklarheit über Schlafgelegenheiten und Versorgungsstrukturen, auf sich gestellte, teilweise sehr junge Kinder, vermeintliches Desinteresse von Müttern am Wohlergehen ihrer Kinder, häufige Wechsel von Partnern und Gästen und vor allem Mangel an elterlichem „Monitoring“.

In solchen Nicht-Strukturen fragt der nicht missbrauchende Elternteil – in der Regel die Mutter – möglicherweise nicht danach, woher das Kind die teuren Turnschuhe, den Gameboy oder das Geld hat; es wundert niemanden, wenn das Kind mal hier, mal dort in der Wohnung schläft und keiner so recht weiß, was das Kind so macht. Es fragt niemand, also gibt es niemanden, dem das Kind etwas erzählen kann, wenn seltsame Dinge geschehen. Dabei zeigt vor allem die Resilienzforschung auf, wie wichtig das elterliche Monitoring insbesondere bei sozial und materiell benachteiligten Familien ist (vgl. Werner/Smith 1992).

Aufgabe der Erwachsenen wäre es, die für ein Kind notwendigen Strukturen zu schaffen, die es ihm ermöglichen, gut aufzuwachsen. Ein Blick in die „Vernachlässigungsfamilien“ zeigt jedoch, dass häufig weder die Mutter noch der Vater angemessen für die Kinder sorgen. Nicht selten ist dabei festzustellen, dass so mancher Vater bzw. Partner der Kindesmutter diese in eine noch größere Überforderungssituation bringt, als dies bereits der Fall ist. So entwickeln die Kinder nicht selten selbst eine gewisse Kompetenz, die offensichtlichen Defizite in Bezug auf ihre Versorgung länger zu verdecken bzw. diese geheim zu halten.

In diesen Familien ist es jedoch meist nur noch eine Frage der Zeit, dass Institutionen wie Kindergarten, Schule oder auch die Nachbarn auf die Missstände in der Familie aufmerksam werden bzw. machen und Veränderungen in der Versorgung der Kinder einfordern. Bei den im Allgemeinen eher mütterzentrierten Familien bringt dies mit sich, dass entsprechende Forderungen an die Verbesserung der Versorgung der Kinder an die Mutter gerichtet werden – und oft nur marginalisiert der Vater hierzu einbezogen wird. Dies liegt sicherlich auch darin begründet, dass insbesondere in Familien, die mit der Jugendhilfe zu tun haben, mancher aktuelle Partner als nicht gesprächsrelevant betrachtet wird bzw. werden kann, da er entweder erst kurz in der Familie ist oder sich bereits von dieser abwendet – und der daraus resultierende Trennungsschmerz und die negative Selbstwahrnehmung bei der Mutter eher noch verschärfend auf die Dynamik einwirkt.

Familiendynamische Aspekte der Arbeit mit der Mutter

Die Gefährdung der Kinder ist auch im Zusammenhang mit dem Mangel an Strukturen zu sehen, den die (ggfs. alleinerziehende) Mutter im Familienalltag zeigt. Daneben stellt eine mangelnde emotionale Erreichbarkeit der Mutter einen der wichtigsten Vulnerabilitätsfaktoren dar, wenn es darum geht, missbrauchsfördernde Strukturen zu erkennen. Eine Mutter, die aufgrund eigener lebensgeschichtlich bedingter Hindernisse und schwieriger psychischer Bewältigungsmuster nicht ansprechbar für ihre Kinder ist, stellt einen Risikofaktor für durch sexuellen Missbrauch gefährdete Kinder dar. Eine kalte, eher abweisende Haltung der Mutter, aber auch eine desinteressiert wirkende Mutter entmutigen das Kind, mit ihr über für es nicht nachvollziehbare Handlungen von anderen Personen zu sprechen. Eine Mutter, die abwertend und konkurrierend mit der Tochter umgeht, wird für das Mädchen keine Ansprechpartnerin sein, wenn der neue Partner der Mutter sich ihm in einer Weise nähert, von der es zunächst nicht so recht weiß, wie es dies einordnen soll. Ein Junge, der häufig zu hören bekommt, dass er in seinen „Unfähigkeiten“ seinem – nicht anwesenden – Vater ähnelt, wird ebenfalls nicht die Mutter ansprechen, wenn er von einem Pädosexuellen zunächst umgarnt und schließlich missbraucht wird. Die „Liebe“ dieses Mannes stellt dann eine Aufmerksamkeit dar, deren negative Auswirkungen der Junge nicht erkennen kann.

Nicht nur weil viele Familien mütterzentriert sind, ist es notwendig, insbesondere mit der Mutter an einer entsprechenden Strukturierung und ihrem elterlichen Monitoring zu arbeiten. Vor allem stellt die nicht missbrauchende Mutter insofern eine zentrale Person dar, weil sie von den Erwachsenen in der Familie diejenige sein kann, die dafür sorgt, dass Grenzen (wieder) eingehalten werden. Sexuelle Gewalt vor allem gegenüber Kindern stellt eine massive Grenzverletzung dar, die jedoch im Allgemeinen nur selten „aus heiterem Himmel“ geschieht. Der Mangel an Grenzen ist – wie oben beschrieben – nicht immer so deutlich sichtbar wie in den Vernachlässigungsfamilien, sondern auch in anderen Formen zu finden (z. B. mangelnder Respekt gegenüber der Intimsphäre eines Kindes). Der Mangel an Einhaltung von Grenzen, Grenzüberschreitungen und sonstigem „übergriffigem“ Verhalten ist im Alltag von Familien mit Inzestproblematik häufig zu beobachten.

Da missbrauchende Elternteile bzw. Stiefeltern bzw. Partner der Mutter die sexuellen Übergriffe eher leugnen – zunächst zumindest – (vgl. Trepper/Barrett 1991), stellt die Mutter eine zentrale Person dar, die dazu beitragen kann, dass wieder Grenzen eingehalten und gewahrt werden. Sie ist es, die letztlich dafür sorgen kann und muss, dass die Kinder in ihr wieder eine Ansprechpartnerin sehen, an die sie sich wenden können, wenn es zu erneuten sexuellen Übergriffen kommen sollte.

Die Mutter bedarf daher einer Unterstützung und Stabilisierung ihrer eigenen Situation, um von den Kindern wieder als die erwachsene Person betrachtet zu werden, die sie schützen und für sie sorgen wird. In dieser Arbeit mit der Mutter als nicht missbrauchendem Elternteil sind eine Vielzahl von Aspekten zu bearbeiten, die dazu beitragen, dass weitere sexuelle Übergriffe nicht (mehr) stattfinden.

In ihrem Arbeitsalltag müssen Fachkräfte nicht selten realisieren, dass die Mutter eher dem Partner in seiner Verleugnung Glauben schenkt und ihre Kinder als Lügende darstellt bzw. große Ambivalenzen zeigt (vgl. auch Tjersland u. a. 2006). Es entsteht zuweilen der Eindruck, dass die Mutter „lieber“ ihre Kinder „gehen“ lässt, als sich vom Partner zu trennen (vgl. Cecchin/Conen 2008). Dies wird häufig als Abhängigkeit von dem betreffenden Partner interpretiert, der man mit der Auflage zu begegnen versucht, dass die Mutter sich trennen muss. Diese Interventionen verschärfen oft die Situation und die Loyalitätsdilemmata der Beteiligten und führen nicht zu den gewünschten Veränderungen.

Von daher ist eine – die Wünsche nach einer gelingenden Partnerbeziehung einbeziehende – Arbeit eher empfehlenswert, in der vor allem die Mutter in ihren Bedürfnissen nach einer Partnerschaft ernst genommen und sie gleichzeitig in ihrer Rolle als Grenzen setzende und einfordernde Mutter gestärkt wird. Dabei stellt die oftmals weiterhin bestehende Zuneigung zum missbrauchenden Partner einen wichtigen Schlüssel dar. Selten gibt es eine Entweder-Oder-Lösung: Trennung oder Alles beim Alten.

Die Arbeit mit einzelnen Familienmitgliedern und Subsystemen der Familie 

Eine familientherapeutisch orientierte Arbeit mit Familien, in denen entweder ein Missbrauch bereits aufgedeckt wurde oder aufgrund des Mangels an Grenzsetzungen sexuelle Übergriffe im Raum stehen, ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass von vornherein alle Beteiligten gemeinsam Familiengespräche führen. Die Familientherapie selbst ist in diesem Konzept eher ein Teil der Interventionen.

Angelehnt an das Konzept von Mary Jo Barrett (vgl. Trepper/Barrett 1991), das auf langjährigen Praxiserfahrungen beruht, ist es notwendig, mit Subsystemen zu arbeiten, um die Bedürfnisse der Einzelnen, aber eben auch der Subsysteme aufzugreifen und die notwendigen Veränderungen zu unterstützen.

So gilt es Einzelgespräche sowohl mit dem betreffenden Kind, den Geschwistern, der Mutter und dem missbrauchenden Partner zu führen als auch Paargespräche und Kindergespräche. Der Ansatz von Barrett umfasst auch Gruppengespräche, hier setzen sich beispielsweise einzelne Familienmitglieder in Gesprächen mit Mitgliedern anderer Familien mit dem sexuellen Missbrauch in ihrer Familie auseinander: Die Kinder sprechen mit anderen Kindern, die Mütter mit anderen Müttern und der missbrauchende Partner mit anderen Missbrauchenden über ihre Erfahrungen, Sichtweisen, Wünsche und Anforderungen.

Eine Konfrontation des betroffenen Kindes (bzw. der Kinder) mit dem missbrauchenden Partner der Mutter in einem Familiengespräch ist dabei, ohne dass der Missbrauchende seine Verleugnung zumindest der Tatsachen aufgegeben hat, nicht vorgesehen. Alle Beteiligten, seien es die Kinder, aber oftmals auch die Mutter und vor allem der missbrauchende Partner, müssen erst in Einzel- und Gruppengesprächen ihre Verleugnungsbestrebungen überwinden lernen. Ohne eine entsprechende Auseinandersetzung mit ihren Verleugnungen ist ein späterer Schutz des Kindes nicht gewährleistet.

Verleugnung des Missbrauchs als „Schutzmaßnahme“ der Familie

Oftmals ist bei den Fachkräften eine Verärgerung darüber zu beobachten, dass vor allem die Mutter sexuelle Übergriffe leugnet. Hilfreicher ist es jedoch, die Verleugnung als eine Schutzmaßnahme des/der Einzelnen und der gesamten Familie zu sehen, da sie einen Zugang zu den Realitäten der Familie und deren einzelnen Mitgliedern ermöglicht. Da der Missbraucher die Verantwortung für sein Verhalten übernehmen muss, um anhaltende Veränderungen im Familiensystem herbeizuführen, ist an der Verleugnung so zu arbeiten, dass dieser „Schutz“ nicht mehr erforderlich ist. Insbesondere für die Kinder ist es aber unbedingt notwendig, dass Unwahrheiten nicht akzeptiert werden.

Die Leugnung kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden:

a)    Leugnung von Tatsachen: Die Übergriffe selbst werden als Realität negiert.

b)    Leugnung des Wissens: Behauptung, von einem Übergriff nichts zu wissen (nichts mitbekommen zu haben).

c)    Leugnung der Verantwortung: Es werden Verhaltensweisen oder Bedingungen herangezogen, die zeigen sollen, dass der Missbraucher im Grunde keine Schuld habe; dies dient oftmals der Rechtfertigung.

d)    Leugnung der Auswirkungen: Es werden Tatsachen, Wissen und Verantwortung zugegeben, aber die Tatsachen werden aufgeweicht und Schuldzuweisungen an andere vorgenommen (vgl. Trepper/Barrett 1991, S. 146ff).

Leugnet die Mutter weiterhin Tatsachen oder ihren Teil der Verantwortung dafür, dass das Kind sich nicht an sie gewandt hat, um Hilfe oder Unterstützung zu erfahren, wird sie auch später nicht den erforderlichen Schutz sichern können. Um die Verleugnung und die damit verbundenen Ängste und Schutzbedürfnisse thematisieren zu können, sind diese in Gesprächen mit den Einzelnen und auch in der Gruppe zu besprechen. Die Arbeit mit den Einzelnen und auch der gesamten Familie kann nur in Bruchstücken erfolgen, solange die Tatsachen geleugnet werden – was selbst angesichts von Gerichtsurteilen noch der Fall sein kann.

In den verschiedenen Phasen der Arbeit sollten gemeinsame Familiengespräche stattfinden, um u. a. Koalitionen, Interaktionen und Verhaltensweisen herauszufiltern und zu verändern. Vor allem Probleme um Macht und Kontrolle sind relevante Aspekte dieser Gespräche. Dadurch ist es möglich, dass sich andere Muster von Kommunikation und Interaktion entwickeln können. In den Familiengesprächen können Familientherapeuten immer wieder auftauchende, missbrauchsfördernde Strukturen beobachten, thematisieren und durch konkrete, direkte Interventionen zu beeinflussen suchen.

Sexuelle Unzufriedenheit oder Probleme im Sexuellen zwischen den Eltern bzw. Mutter und ihrem Partner sind nicht unbedingt für alle Paare zutreffend, in deren Familien es zu sexuellen Übergriffen durch den Partner kommt. Häufiger sind Probleme in der Kommunikation, Konfliktlösung und in der Partnerbeziehung selbst zu beobachten. Der Druck auf die Partnerbeziehung, vor allem auf die Mutter, diese Beziehung zu beenden, führt nicht selten zu vorschnellen Entscheidungen: entweder sich rasch zu trennen – und dann diese Trennung nicht durchhalten zu können – oder zusammenzubleiben, obwohl die Probleme sich verstärkt haben. In Rollenspielen können beide Partner üben, sich besser zuzuhören, ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken und ihre Wünsche und Anliegen angemessen einzubringen. Vor allem ist ein größeres Gleichgewicht in Bezug auf Einfluss und Macht herzustellen. Denn das bestehende Machtgefälle kann dazu führen, dass die Mutter sich nicht traut, ihrem Partner im Alltagsgeschehen Grenzen zu setzen; damit ist nicht sichergestellt, dass die Mutter sich auch im Hinblick auf andere Aspekte für sich und ihre Kinder einsetzt (vgl. Trepper/Barrett 1991, S. 227ff). Da die männliche Dominanz, insbesondere wenn sie beiderseits für selbstverständlich gehalten wird, nach Trepper und Barrett (ebd., S. 113) zu einer größeren Vulnerabilität beiträgt, gilt es, sie zum Thema zu machen und ihre Gewichtung zu verändern. Auch die soziale Isoliertheit einer Familie, die der missbrauchende Partner in seiner Dominanz möglicherweise durchsetzt, führt dazu, dass z. B. die Mutter (neben den Kindern) keine Kontakte außerhalb der Familie und dadurch keine soziale Unterstützung hat. Voraussetzung allerdings für anhaltende Veränderungen im Familiensystem und zukünftigen Schutz des Kindes ist – wie gesagt – dass der Missbraucher Verantwortung für sein Verhalten übernimmt.

Wiederholung von Interaktions- und Kommunikationsmustern verhindern 

In zahlreichen „Vernachlässigungsfamilien“ haben die Eltern selbst in ihrer Kindheit erhebliche Vernachlässigungen und Mängel bis hin zu sexuellen Übergriffen erfahren. Es finden sich nicht selten ähnliche Muster wieder. Teile der Dynamiken, die dann zu beobachten sind, gleichen einem Tanz, der sich in Wiederholungsschleifen befindet: Die Mutter, selbst aus einer Familie stammend, in der sie sexuell missbraucht wurde, in der ihre Mutter ihr nicht glaubte bzw. nicht hinsah, und der Partner, der eigene Unterlegenheitsgefühle kompensiert, indem er Macht- und Dominanzstrukturen schafft und vor allem bei Machtverlust gefährdet ist, diese in sexuellen Übergriffen zu „kompensieren“. Beide scheinen dann ein Gebilde zu kreieren, in dem die Rollen schon vorab zugeschnitten sind. Die eigene Erfahrung, dass ihre Grenzen nicht respektiert worden sind, führt in zahlreichen Fällen dazu, dass Grenzen in der Partnerbeziehung und gegenüber den Kindern nicht eingefordert werden.

Oftmals hat dann eine Trennung vom aktuellen Partner für die Mutter keine problemauflösende Wirkung, denn wie in einer Art Automatismus entwickelt sich in einer neuen Partnerbeziehung quasi abermals eine – sexuellen Missbrauch fördernde – Struktur, in der die Vulnerabilitätsfaktoren erneut zum Tragen kommen. Daher ist es alleine schon aus diesem Grunde notwendig, dass insbesondere mit der Mutter an ihrem Verhalten in Bezug auf Grenzsetzung und elterliches Monitoring sowie an ihren Macht- und Dominanzeinstellungen gearbeitet wird – dies vor allem dann, wenn Männer als „Väter“ in den Familien durch das Familiensystem „flottieren“ und immer wieder herauskatapultiert werden, keine stabile Position einnehmen können. Diese Muster zu erkennen und mit den Beteiligten an deren Durchbrechung zu arbeiten, ist Teil der Einzel-, Paar- und auch Familiengespräche. Ändern sich diese Muster nicht, ist zu befürchten, dass sie sich mit einem neuen Partner wiederholen.

Fazit

Sexuelle Übergriffe, vor allem Inzest in Familien, müssen von allen Beteiligten als Teil ihrer Interaktionen und Familiendynamik verstanden werden, bevor es zu anhaltenden Veränderungen in den Strukturen, Kommunikationsmustern und Problembewältigungsformen der Familie kommt. Diese Sichtweise hilft, sich nicht auf die „Schuld“ des Missbrauchenden zu reduzieren und zu fokussieren, sondern das System zu verstehen, aus dem heraus die sexuellen Übergriffe stattgefunden haben. Kinder können nur dann wieder sicher in einen elterlichen Haushalt aus Heimen oder Pflegefamilien zurückgeführt werden, wenn die Mutter und der Vater bzw. die Mutter und ihr Partner verstanden haben, was zu den sexuellen Übergriffen geführt hat, und sie daraus resultierend ein anderes, konstruktiveres Problemlösungsverhalten entwickelt haben.

Kontakt

Dr. Marie-Luise Conen
Context - Institut
für systemische Therapie und Beratung
Heinrich-Seidel-Str. 3
12167 Berlin-Steglitz
Telefon: 030 / 795 4716
E-Mail: info@context-conen.de

Literatur

 Cecchin, Gianfranco/Conen, Marie-Luise (2008): Wenn Eltern aufgeben. Therapie und Beratung bei konflikthaften Trennungen von Eltern und Kindern. Heidelberg

Conen, Marie-Luise (1998): Sexueller Missbrauch aus familiendynamischer Sicht – Arbeitsansätze in der SPFH. In: Helming, Elisabeth/Blüml, Herbert/Schattner, Heinz/Deutschland, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (1998): Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Bd. 182. 2. überarb. Aufl. Bonn, S. 384–400. Online verfügbar unter: http://www.gender-mainstreaming.net/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/SR-Band-182-Sozialp_C3_A4dagogische-FH,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf

Conen, Marie-Luise (2002): Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden. Aufsuchende Familientherapie. Heidelberg

Conen, Marie-Luise (2005): Familientherapie bei Inzest. In: Amann, Gabriele/Wipplinger, Rudolf (Hrsg): Sexueller Missbrauch. Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch. Tübingen, S. 575–586

Kindler, Heinz/Schmidt-Ndasi, Daniela/Amyna e.V. (Hrsg.) (2011): Wirksamkeit von Maßnahmen zur Prävention und Intervention im Fall sexueller Gewalt gegen Kinder. Expertise im Rahmen des Projekts „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“. München. Online verfügbar unter: http://www.dji.de/sgmj/Expertise_Amyna_mit_Datum.pdf

Tjersland, Odd Arne/Mossige, Svein/Gulbrandsen, Wenke u. a. (2006): Helping families when child sexual abuse is suspected but not proven. In: Child and Family Social Work Jg. 11, Heft 4, S. 297–306

Trepper, Terry S./Barrett, Mary Jo (1991): Inzest und Therapie. Ein (system-) therapeutisches Handbuch. Dortmund

Werner, Emmy E. /Smith, Ruth S.(1992): Overcoming the odds. High risk children from birth into adulthood. Ithaca

Zimmermann, Peter/Deutsches Jugendinstitut e.V. (Hrsg.) (2010): Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Familien. Expertise im Rahmen des Projekts „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“. München: DJ. Download unter: www.dji.de/sgmj/Expertise_Zimmermann_mit_Datum.pdf



[1]Ich beziehe mich in meiner Darstellung weitgehend auf Familien, die aufgrund ihrer sozial und materiell unterprivilegierten Situation häufiger von Jugendhilfemaßnahmen betroffen sind. Diese Familien sind dadurch gekennzeichnet, dass vom ersten Augenschein her vernachlässigende Strukturen zu überwiegen scheinen; dass diese Familien ein eigenes Verständnis ihrer Strukturen haben, ist davon unberührt. Aufgrund der oftmals überwältigenden Hoffnungslosigkeit in diesen Familien halte ich eine aufsuchende Arbeit für unabdingbar, will man anhaltende Änderungen herbeiführen (vgl. Conen 2002).

Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus den IzKK-Nachrichten, die vom Deutschen Jugendinstitut herausgegeben werden.

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Kommentare (1)

Heike Hecker 05 Dezember 2024, 13:39

Guten Tag, ich bin Sozialpädagogin und betreue zusammen mit meine Mann, der auch als Sozialpädagoge arbeitet drei Pflegekinder in meiner familienanalogen Einrichtung. Wir machen das schon seit zwanzig Jahren. Vor einem Jahr haben wir 2 Brüder im Alter von 4 und 5 Jahren aufgenommen, die nach ein paar Monaten deutlich sexuelle Handlungen untereinander ausgeübt haben. Unser älteres Pflegekind hat uns darauf aufmerksam gemacht. Wir haben das gemeldet und uns an eine fachberatungsstelle gewandt. Bald lkönnen die Kinder eine Therapie beginnen und ich Beratung in Anspruch nehmen. Wir konnten die Handlungen unterbinden. Trotzdem möchte das Jugendamt die Brüder jetzt getrennt in Wohngruppen unterbringen, im Alter von 5 und 6 jahren. ich halte das für falsch, weil den Kinder dann ein erneuter Beziehungsabbruch , auch mit uns als Pflegelterngegenüber bevorstünde. Wir haben uns deshalb an das Familiengericht gewandt. Wir möchten aber auch gleichzeitig neben der Beratung in der Fachberatungsstelle gegen sexuelle Gewalt, uns weiter auf den Umgang mit Geschwistern,die eine Inseztbeziehung hatten ,fachlich einarbeiten. Ich habe bisher noch nicht soviel Fachliteratur dazu gefunden. Können Sie uns da Hinweise geben? Mit freundlichen Grüßen Heike Hecker

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