Forum frühe Kindheit: Kindliche Entwicklung im Fokus von Normalität, Abweichung und (Psycho-)Pathologie
Tagungsbericht vom FORUM FRÜHE KINDHEIT zum Thema "Kindliche Entwicklung im Fokus von Normalität, Abweichung und (Psycho-)Pathologie" am 19.04.2024 - 20.04.2024
Die zunehmende Komplexität der sozialen und digitalen Welt, mit der sich Eltern und Kinder konfrontiert sehen, fordert dazu auf, normales und abweichendes Verhalten stetig neu definieren zu müssen. Unter dieser Betrachtungsweise wurden beim Forum Frühe Kindheit 2024 Themen in den Blick genommen, die sowohl die normale Entwicklung als auch Störungen in der Entwicklung aus wissenschaftlich-interdisziplinärer Sicht beleuchteten: das soziale Verstehen von Beginn an, ausgewählte Aspekte der Identitätsentwicklung wie Sexualität oder Scham, das Aufwachsen mit digitalen Medien und Internetsicherheit, Angststörungen und Autismus-Septrum-Störungen sowie die Erkrankung von Familienmitgliedern und der kindliche Umgang damit.
Der soziale Entwicklungsprozess ist ein sehr störanfälliges Unterfangen, weil so viele Einflüsse passen müssen, damit ein Kind zu einem sozial kompetenten Menschen heranreift. Prof. Markus Paulus von der Universität München eröffnete die Reihe der Vorträge mit seiner Darstellung der kommunikativen Basis des sozialen Verstehens. Bindung ist Kommunikation und sie startet, wenn das Neugeborene ungerichtet reagiert und die Mutter daraufhin handelt. Der Säugling richtet seine Signale dann zunehmend auf die Mutter und appelliert an sie, worauf sie dann wieder eingeht. Das führt in der Folge dazu, dass der Säugling weiter kommuniziert und darüber entsteht der Engelskreis der Kommunikation, der die Bindung ermöglicht. Prof. Paulus bezeichnete die sichere Bindung als fließende Kommunikation, die vermeidende Bindung als geringe, blockierte Kommunikation und die ambivalente Bindung als nicht auf einander abgestimmte Kommunikation. Wie sehr dieses unsichere Bindungmuster ein Kind einschränkt, lässt sich an dem Kommunikationsstil der ambivalenten Bindung sehen: Das Kind reagiert unpassend, überzogen und die Eltern ebenfalls unpassend, schwankend, wechselnd und wenig feinfühlig. Negative Reaktion des Kindes darauf lassen sich dann nicht vermeiden. Neben der sicheren Bindung führen weitere biologisch angelegte kommunikative Fähigkeiten des Kindes zum sozialen Lernen. Dazu gehört die Imitation bzw. Nachahmung der Handlungen anderer und die naürlichen Zeigegesten des Kindes.
Der zweite Vortrag befasste sich mit dem digitalen Aufwachsen von der frühen Kindheit bis zum Schulalter. Da digitale Medien grundsätzlich eine starke Reizquellen für Kinder sind, ist es kein Wunder, wenn in Studien eine intensive Medienaneignung bereits in der frühen Kindheit festgestellt wird. Dr. Susanne Eggert vom Institut für Medienpädagogik München berichtete, wie Kinder in welchem Alter mit digitalen Medien umgehen, welche Potenziale digitale Medien bereithalten und wie Eltern die Kinder bei der Medienaneignung von Anfang an gut begleiten können. Es gab jedoch keine kritische Betrachtung des frühen Umgangs mit digitalen Medien. Gleich daran anschließend hielt die Kriminalhauptkommissarin Martina Rautenberg (Polizei Rhein-Erft-Kreis) einen Vortrag über die Auswüchse eines unkontrollierten Gebrauch digitaler Medien von Kindern. Sie entwarf zu Beginn ihrer teilweise erschreckenden Ausführungen die Maslowsche Bedürfnispyramide neu, indem sie vor die physiologischen Bedürfnisse wie Essen und Schlafen die Worte Wlan und Akku setzte. Das Kind erlebe von Anfang an die anderen nur mit digitalen Medien, so dass später Wlan und Akku die wichtigsten Dinge werden. Aus ihrer Arbeit berichtete sie über die Gefahren und Risiken für die Kinder und die Strafbarkeit bestimmter posts im Internet.
Im weiteren ging es um die Lebenssituation von Geschwistern chronisch kranker Kinder, deren Belastungen zu einem zweifach erhöhten Risiko für die Entwicklung von emotionalen Problemen führen können. Dr. Florian Schlepper vom Universitätsklinikum Leipzig berichtete über die Bedeutung stabiler Bindungserfahrung für diese Kinder und über entsprechende psychosoziale Interventionsangebote. Auch Kinder psychisch kranker Eltern sind vielen Belastungen ausgesetzt. Prof. Albert Lenz vom Institut für Gesundheitsforschung und soziale Psychiatrie der Katholischen Hochschule Nordrheinwestfalen Aachen zeigte auf, wie diese Belastungen mit einer Vielzahl von Entwicklungsrisiken für die Kinder einhergehen. Psychisch erkrankte Eltern und ihre Kinder geraten häufig in einen Teufelskreis, der in ein emotional negativ aufgeladenes Familienklima mündet. Er berichtete über spezifische Interventionen wie die Frühen Hilfen, die die elterliche Beziehungskompetenz und die familiale Kommunikation fördern.
Der zweite Tag des Forums Frühe Kindheit begann mit dem Thema der psychosexuellen Entwicklung in den ersten Lebensjahren. Prof. Ute Thyen von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Lübeck beschrieb die Entwicklung und Weichenstellung für die körperliche Entwicklung zum Mädchen, Jungen oder selten anderen Geschlechtern, die von genetischen und embryologischen Prozessen gesteuert wird. Die hormonellen und genetischen Prozesse führen zu einem biologischen Geschlecht („sex“). Davon unterschieden wird die psychosexuelle Entwicklung („gender). Prof. Thyen griff die gesellschaftliche Diskussion zur diversen Entwicklung auf, betonte jedoch, dass es selten bereits in der frühen Kindheit zu Unbehagen mit dem zugefallenen Geschlecht kommt. Dies lässt sich erklären über die allgemeine Entwicklung des Sexualwissens bei Kindern. Denn in den ersten 4 bis 5 Jahren drehen sich die Angaben der Kinder, ob sie und die anderen Mädchen oder Jungen sind, noch weitgehend um äußere Merkmale wie Kleidung und Verhalten. Das über Studien festgestellte Wissen über ihr Geschlecht als Merkmal für die Zugehörigkeit wird meistens erst von 5jährigen angegeben. Das widerspricht nicht der Tatsache, dass sich die Kinder bereits vorher ausgiebig mit ihrem Körper und den Genitalien befassen, denn diese körpererkundenden Handlungen sind noch total situationsbezogen und werden noch nicht reflektiert, d.h. sie sehen sich noch nicht als Person mit bestimmten Eigenschaften. Prof. Thyen betonte immer wieder, wie wichtig eine positive Sexualpädagogik sei.
Die Entwicklung von Scham in der frühen Kind ist ein weiterer wichtiger Aspekt der Identitätsentwicklung. Prof. Bettina Schuhrke von der Ev. Hochschule Darmstadt zeigte auf, wie schmerzlich Scham empfunden wird, weil damit eine starke Selbstabwertung einher geht. Kleine Kinder bewerten sich noch nicht selbst, so dass Scham kaum empfunden wird. Die Selbstbewertung und das Empfinden von Scham bei Kindern beginnt im Schulalter, wenn die Kinder die sozialen Regeln vollkommen verstehen und sich selbst mit ihren Eigenschaften wahrnehmen können. Bis 7 Jahre ist lt. Studien bei fast allen Kindern ein Schamgefühl vorhanden. Die ersten Anzeichen einer Körperscham zeigen sich ungefähr mit 5 Jahren, wenn Kinder sich z.B. beim Arzt nicht mehr ausziehen wollen. Bei Mädchen geschieht das früher als bei Jungen. In diesem Alter werden die sozialen Regeln einigermaßen akzeptiert, so dass erste Schamgefühle bei Fehlverhalten auftreten. Es gibt genetische Unterschiede in der Schamneigung, auch der Einfluss der Umwelt führt zu Unterschieden. Eine sichere Bindung reduziert diese, Konformitätsdruck in der Kita kann die Schamneigung erhöhen. Vermeintliches Schamverhalten bei kleinen Kindern, ausgelöst durch die Blicke der anderen, kommt bei sensiblen Kindern vor; ob dies wirklich Schamverhalten ist, bleibt strittig, Bisher gibt es keine Studien dazu. Es ist zu vermuten, dass solches Verhalten bei kleinen Kindern eher Irritationen und damit ein unangenehmes Gefühl durch die Blicke Fremder hervorruft, das mit Scham noch nichts zu tun hat. Die allgemeinen Voraussetzung zur Entwicklung von Scham sind, lt. Frau Schurke, sich selbst als Person zu erleben, soziale Regeln zu verstehen und sich als Objekt der Bewertung durch andere zu empfinden. Zwischen vier und sechs Jahren ist das in Anfängen zu beobachten.
Der dann folgende Vortrag von Prof. Ute Ziegenhain von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm befasste sich mit Bindungsstörungen in den ersten Lebensjahren. Bindung ist einerseits ein Schutzfaktor und andererseits ein Risikofaktor. Wenn es Eltern gelingt, eine sichere Bindung zu ihrem Kind durch die Befriedigung der körperlichen und emotionalen Bedürfnisse zu ermöglichen, wird der Schutzfaktor der Bindung wirksam. Gelingt das nicht durch fehlende Voraussetzungen, die den Eltern meistens nicht anzulasten sind, kommt es zu unterschiedlichen Ausprägungen von Bindungsstörungen. Erst Ende des ersten Lebensjahres sind diese festzustellen und zeigen sich entweder in deutlich enthemmtem oder reaktivem Bindungsverhalten. Dies sind massive Ausprägungen der bekannten Muster der unsicher-vermeidenden und der unsicher-ambivalenten Bindung. Das enthemmte Verhalten zeigt sich durch stark distanzloses und diffuses Verhalten; diese Kinder suchen Aufmerksamkeit und Nähe bei Fremden und ignorieren oder zeigen Angst vor der Bezugsperson. Die reaktive Bindungsstörung äußerst sich durch ängstliches, wachsames, widersprüchliches und aggressives Verhalten. Diese Kinder suchen immer wieder die Nähe der Bezugsperson, um diese dann aggressiv abzulehnen. Frau Prof. Ziegenhain brachte Beispiele dafür und berichtete über Therapiemöglichkeien, die insbesondere helfen, die Eltern-Kind-Interaktion und damit die Eltern-Kind-Bindung zu verbessern.
Der dann folgende Vortrag von Prof. Kathrin Sevecke, Universitätsklinik Innsbruck behandelteÄngste und Angststörungen in den ersten Lebensjahren. Sie berichtete, dass klinisch relevante Angststörungen in der frühen Kindheit mit einer Prävalenz von 2 – 10 % erstaunlich häufig auftreten. Dazu gehören Trennungsängste, soziale Angststörungen, generalisierte Angststörungen, selektiver Mutismus und Angst vor Neuem. Solche Ängste gehen häufig mit einer erhöhten Sensibilität gegenüber sensorischen Reizen, gestörtem Essverhalten, Bauchschmerzen oder Wutanfällen einher. Es wurde über die entwicklungsbedingten Ängste, die eher schwach ausgeprägt sind, berichtet und über die sehr unterschiedlichen Einflussfaktoren für die Entstehung von Angststörungen. Als Risikofaktoren nannte Prof. Sevecke pränatale Faktoren, das Temperament, familiäre Belastungen und Erziehungspraktiken der Eltern. Sie plädierte dafür, Angststörungen früh behandeln zu lassen, da später das Risiko besteht, Depressionen zu entwickeln.
Mit den beiden letzten Vorträgen wurden das Thema Autismus-Spektrums-Störungen in den ersten Lebensjahren und das therapeutische Vorgehen bei jungen Kindern behandelt. Frau Prof. Luise Poustka von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendsalters Heidelberg beschrieb diese tiefgreifende Entwicklungsstörung als eine lebenslang fortbestehende soziale Kommunikationsstörung. Zwischen dem 12. und 26. Lebensmonat treten die ersten Symptome auf und bei frühzeitiger Diagnose kann die Steigerungen der Lebensqualität erreicht und die gesellschaftliche Integration und Selbstständigkeit verbessert werden. Claus Lechmann vom Autismus-Therapie-Zentrum Köln beschrieb dazu die unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten. Dabei geht es um die Stimulierung der sozialen Orientierung, Milderung der Selbstbestimmtheit, Förderung der Emotionswahrnehmung und des Perspektivewechsels, Anregungen zur wechselseitigen Kommunikation und des allgemeinen flexiblen Verhaltens.
Dr. Erika Butzmann, Wildeshausen
April 2024