Fröhlich im kalten Wasser Das Bundesprojekt „Lernort Praxis“ und die Praxis als solche
Als Mitarbeiterin im Bundesprojekt „Lernort Praxis“ kümmert sich Christiane Gebhardt um Erzieherinnen wie Marie Sander, die in ihrer Kita für berufsbegleitend Auszubildende zuständig sind, und um Leute wie Thomas Radam, dessen Praxisanleiterin Marie Sander ist.[1]
Christiane Gebhardt kennt den Kita-Alltag aus eigener Erfahrung, denn sie ist Erzieherin im Sophien-Kindergarten in Berlin-Mitte. Dort arbeitet sie auf einer halben Stelle – die andere Hälfte ihrer Arbeitszeit kommt dem Bundesprojekt zugute.
Es geht darum, Kitas als Lernorte aufzuwerten, an denen angehende Erzieherinnen und Erzieher Handlungskompetenz erwerben, also lernen, wie sie das in der schulischen Ausbildung erworbene Wissen anwenden können. Ziel des Projekts ist es, schließlich ein bundesweit einheitliches Curriculum für die Praxisanleiterinnen zu erarbeiten, die die Auszubildenden in den Kitas begleiten. Bisher gibt es nämlich keine unterstützenden Materialien für sie.
Im „Projekt Lernort“ befasse ich mich mit dem Schwerpunkt „Erschließung neuer qualifizierter Personengruppen als Fachkräfte“. Dafür hatte sich mein Träger, die Evangelische Kirche, beworben und bekam den Zuschlag. Jens Krabel und Michael Cremers aus der Koordinationsstelle „Mehr Männer in Kitas“ stehen unserer Arbeitsgruppe zur Seite, gehen in die Kitas, mit denen wir zusammenarbeiten, sprechen mit den Leuten und gucken, wie es in der Praxis läuft. Das gesamte Projekt wird außerdem, denn die beiden Männer evaluieren auch, von PädQuis evaluiert.
Ich betreue drei Kita-Teams, die zu unserem Träger gehören und in denen berufsbegleitend Auszubildende mitarbeiten. Insgesamt sind das sieben Quereinsteiger, die an drei Wochentagen in der Kita arbeiten und an zwei Tagen Schule haben.
Als Praxismentorin fühle ich mich für dreierlei zuständig: Zum einen begleite ich die Auszubildenden. Sie können mir Fragen stellen und ihre Probleme mit mir besprechen. Stundenweise erlebe ich mit, wie sie arbeiten, und wir versuchen, Zeit zu ergattern, um das, was ich beobachtet habe, miteinander zu besprechen. „Ergattern“ sage ich, weil diese Zeit in der Arbeitsplanung der Kitas nicht vorgesehen ist. Zum anderen unterstütze ich die Praxisanleiterinnen in den Kitas. Außerdem arbeite ich mit den Kita-Leiterinnen zusammen, um herauszufinden, ob es Fortbildungs- oder Austauschbedarf gibt und ob ich Teambildungsprozesse unterstützen kann. Mit Dozentinnen des Lernorts Schule arbeite ich auch zusammen. Da geht es vorwiegend um Fragen der Koordination und um bessere Zusammenarbeit der beiden Lernorte.
Das sind ja ziemlich viele und anspruchsvolle Aufgaben, die Sie neben Ihrer Arbeit als Erzieherin zu bewältigen haben. Haben Sie – außer Ihrer langjährigen Berufserfahrung – eine spezielle Qualifikation?
Nein. Aber ich habe gerade berufsbegleitend ein Hochschulstudium absolviert. Außerdem habe ich mir dies und das angelesen, zum Beispiel in den Materialien von WiFF[2].
Wahrscheinlich ist es gar keine schlechte Voraussetzung für Ihre Arbeit im Projekt, dass Sie nichts Spezielles wissen, sondern sich auf Ihre Erfahrungen verlassen. Da müssen Sie nichts vermitteln, sondern können mit den Beteiligten etwas erarbeiten.
Genau. Wir sind alle auf dem gleichen Stand, fangen quasi bei Null an.
Wie fühlt sich das an?
Zuerst fühlte es sich chaotisch an. Als ich mich bereit erklärte, Praxismentorin zu werden, dachte ich nicht, dass es so sein würde, und...
… da bekamen Sie einen Schreck, oder?
Ja, wirklich! Nach einer Weile dachte ich: So ist es eben, und wir machen jetzt das Beste draus. Immerhin kann ich mich mit meinen beiden Ansprechpartnern von „Mehr Männer in Kitas“ jederzeit beraten. Wir setzten uns zusammen, und ich erzählte ihnen, was in der Praxis los ist. Inzwischen sind sie in den Projekt-Kitas selbst unterwegs. Ich bin gespannt, wie sie die Realität erleben...
Wie sieht die Realität denn aus? Zum Beispiel in den Kitas, für die Sie zuständig sind?
Es war ein schwieriger Beginn. Ich wollte ja nicht den Eindruck erwecken, dass ich als Praxismentorin weiß, wie alles zu funktionieren hat. Vielmehr wollte ich mich als Erzieherin vorstellen, die langjährige Erfahrungen, viel Verständnis für die Situation in der Praxis und eine Vorstellung davon hat, worum es geht. Ich wollte mich als Unterstützerin anbieten, nicht als Aufpasserin oder Bewerterin. Das muss mir gelungen sein. Jedenfalls freuen sich alle, wenn ich komme. Sie erhoffen sich viel von mir. Da bremse ich manchmal und sage: „Ich versuche mein Möglichstes, dass wir mehr Zeit für die Arbeit mit den Auszubildenden, für den Austausch mit ihnen bekommen.“
Als ich die Leiterinnen, Erzieherinnen und Auszubildenden anfangs fragte, hieß es immer wieder: „Ja, wenn wir mal Zeit haben, wenn mal kein Personalmangel herrscht, dann könnten wir…“ Doch da fast überall Personalmangel herrscht, greifen die Leiterinnen zu, wenn ein Azubi sich bewirbt, obwohl sie wissen, dass die Leute noch nicht alles können…
… aber an den drei Praktikums-Tagen trotzdem voll einsteigen müssen.
Ja, sie belegen Erzieherstellen. Ihre Arbeitskraft ist eingeplant. Extra-Zeit, um sie an die Hand zu nehmen und ihnen in Ruhe etwas zu erklären, haben die Erzieherinnen nicht. Für die Azubis müsste es zusätzliche Stellen geben, außerhalb des Stellenplans, denn sie können die Verantwortung, die eine ausgebildete Erzieherin trägt, noch nicht vollständig übernehmen.
Wie sollen die Beteiligten damit zurechtkommen? Da sind Probleme ja förmlich vorprogrammiert.
Richtig. Die Auszubildenden werden ins kalte Wasser geworfen. Aber die meisten schwimmen fröhlich los, denn sie hatten sich ja gewünscht, mit Kindern zu arbeiten. Viele Quereinsteiger sind auch nicht ganz unbeleckt, haben schon Erfahrungen im Umgang mit Kindern. In den Kitas, die ich betreue, werden sie als vollwertige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anerkannt, nehmen an Teamsitzungen und Elterngesprächen teil, so dass sie lernen, worauf es dabei ankommt. Das ist aber nicht überall der Fall, wie ich weiß.
Nach den ersten Wochen, in denen ich die Teams und Azubis kennen lernte, versuchten wir gemeinsam, die Arbeit zu strukturieren. Dabei merkten wir zum Beispiel: Die zuständige Anleiterin ist gar nicht in der Gruppe, in der der Azubi arbeitet, beide sehen einander kaum.
In diesem Fall steht die Anleitungsfunktion nur auf dem Papier.
Das kann man so nicht sagen. Alle Anleiterinnen sind motiviert, denn sie hatten selbst erlebt, wie es ist, wenn man in den Praktika allein gelassen wird, hatten sich schon während ihrer Ausbildung mehr Unterstützung erhofft. Aus dieser Erfahrung heraus sagten sie: „Ja, wir machen das, wir helfen den Azubis.“ Doch was das bedeutet, war ihnen möglicherweise nicht klar.
Jedenfalls versuchen wir, die Arbeit besser zu koordinieren und für Austausch zu sorgen. Die Kolleginnen springen ein, wenn die Anleiterinnen und Azubis Zeit für Reflexionsgespräche brauchen, ersetzen sie in dieser Zeit. Fällt jemand aus, klappt das allerdings nicht, denn erst mal muss der Alltag gestemmt werden. Das Bewusstsein, dass die Kita ein toller Ausbildungsort ist, an dem man sich erproben und sich etwas abgucken kann, wächst unter diesen Bedingungen natürlich nur allmählich. Der „Lernort Schule“ ist viel anerkannter.
Dabei kommt er ohne den „Lernort Praxis“ heute gar nicht mehr aus.
Ja. Zum Glück haben wir die Ausbildungseinrichtungen mit im Boot. Sie sind sehr interessiert an der Zusammenarbeit, denn auch in den Schulen gibt es keine Pläne für die Azubis, die enthalten, was sie in der Praxis machen sollen. Viele müssen sich solche Pläne selbst basteln.
Wie soll das gehen – ohne Praxiserfahrung?
Dieses Problem bearbeiten wir gerade mit den Ausbildungseinrichtungen. An einer Schule wird – im Kontakt mit den Praxisanleiterinnen – ein Handbuch entwickelt, das beschreibt, was die Studierenden in jedem Semester in der Praxis für sich herausfinden sollen. Das ist schon mal gut.
In einer anderen Schule hingegen gibt es keine Zeit für Praxisreflexion, weil der Lernstoff, der an den zwei wöchentlichen Schultagen vermittelt wird, dafür keinen Raum lässt. Dass es so nicht geht, weiß man an der Schule und sucht nach Möglichkeiten, diesen Zustand zu verändern. Eine Lehrerin bietet nun Reflexionsrunden an – bisher allerdings nach dem Unterricht.
An allen Schulen werden Überlegungen angestellt, was die Auszubildenden an Wissen in welchem Studienjahr wirklich brauchen, um auf den grünen Zweig zu kommen. Und alle Schulleitungen sind daran interessiert, sich mit uns an einen Tisch zu setzen und zu beraten, was man verändern muss und kann: Was stellt die Schule sich vor? Was die Kita? Was können wir als Praxismentorinnen beitragen? Und wie kann man all das verknüpfen?
Mit den Kita-Leiterinnen bekommen wir acht bis zehn Fortbildungen in der dreijährigen Laufzeit des Projekts. Bisher hatten wir ein erstes Treffen. Dabei merkte ich, dass wir schon einen großen Schritt vorangekommen sind. Wir sind auf einem guten Weg.
Was Sie und alle Beteiligten leisten, ist ja nicht mit Gold aufzuwiegen. Kriegen Sie das eigentlich extra vergütet?
Die Vergütung im Projekt ist vorgegeben und entspricht dem Gehalt einer Erzieherin.
Dachte ich es mir doch! Qualitätsentwicklung, von Praktikerinnen betrieben und verantwortet, gibt es für lau.
Gesprächsaufzeichnung: Erika Berthold
Christiane Gebhardt ist Erzieherin und Kindheitspädagogin. Sie arbeitet im Bundesprojekt „Lernort Praxis“ mit, das der Bund ins Leben rief, um die Qualität der praktischen Ausbildungsphasen in Kitas zu fördern.
Kontakt: lernort-praxis@evkvbmn.de
Zum Programm „Lernort Praxis“
Motivierte und qualifizierte Fachkräfte sind die Basis guter Kinderbetreuung. Zentraler Baustein sind die praktischen Ausbildungsphasen: In den Einrichtungen werden angehenden Fachkräften praktische Erfahrungen vermittelt, auf denen sie in ihrer späteren Tätigkeit aufbauen können. Sie werden unterstützt, für den pädagogischen Alltag notwendige Handlungskompetenzen zu erwerben und eine professionelle Haltung zu entwickeln.
Mit dem Programm „Lernort Praxis“ stärkt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Praxisanleitung in Kindertageseinrichtungen.
Von August 2013 an werden in einer Pilotphase 76 Projekte in sieben Bundesländern mit einer maximalen Projektlaufzeit von drei Jahren gefördert. Für diese Pilotphase stellt der Bund insgesamt 8 Millionen Euro zur Verfügung. Damit wird ein weiterer Beitrag zur Qualifizierung und Gewinnung von Fachpersonal sowie zur Stärkung der Qualität der Kindertagesbetreuung im Sinne des „10-Punkte-Programms für ein bedarfsgerechtes Kinderbetreuungsangebot“ der Bundesregierung geleistet. An der Umsetzung der Pilotphase beteiligen sich die Bundesländer Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein.
Das Programm „Lernort Praxis“ stellt Erzieherinnen und Erziehern qualifizierte Praxismentorinnen und Praxismentoren zur Seite. Sie sollen die Einrichtungen unterstützen und das Personal entlasten, so dass den Fachkräften genügend Raum für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Eltern bleibt.
Das Programm fördert die Kooperation zwischen den Lernorten Schule und Kita. Darüber hinaus unterstützt es innovative Ausbildungsformate, die insbesondere Personengruppen ansprechen, die in der Kindertagesbetreuung bisher unterrepräsentiert sind: Männer, Menschen mit Migrationshintergrund oder Personen, die sich beruflich umorientieren möchten.
Die Erfahrungen aus dem Programm „Lernort Praxis“ werden in ein Curriculum einfließen, das Qualitätsstandards für die Praxisanleitung in Kindertageseinrichtungen benennt.
Inhaltliche Schwerpunkt im Programm „Lernort Praxis“
1. Schwerpunkt: Qualifizierung von Praxisanleitung und Anleitungskonzeptionen
2. Schwerpunkt: Verstärkung der Kooperation der Lernorte
3. Schwerpunkt: Erschließung neuer qualifizierter Personengruppen als Fachkräfte
Weitere Informationen finden Sie unter: www.fruehe-chancen.de Durchklicken über >Was Politik leistet >Lernort Praxis.
Netz-Tipps
Das Forschungs- und Entwicklungsinstitut PädQUIS ist ein Kooperationsinstitut der Freien Universität Berlin. Im Bereich der Frühpädagogik führt es seit 1999 anwendungsbezogene Untersuchungen und empirische Grundlagenforschung durch.
www.weiterbildungsinitiative.de
Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) verfolgt das Ziel, die Elementarpädagogik als Basis des Bildungssystems zu stärken. Das Projekt stellt Fachwissen zu aktuellen Themen der Frühpädagogik zur Verfügung, fördert die berufsbegleitende kompetenzorientierte Weiterbildung, beobachtet und analysiert den laufenden Professionalisierungsprozess.
[1] Siehe Heft 11-12/13: „Der Playboy und die Zapp-Marie“ und „Rückkehr zum Wunschberuf“
[2] Zum Beispiel: Flämig, K.: Kooperation von Schulen und Praxisstätten in der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte; Dudek, J./Gebrande, J.: Quereinstiege in den Erzieherinnenberuf
Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus dem neuen Heft von "Betrifft Kinder".