Haltung und Ressourcen-Orientierung
Die - natürlich richtige – Haltung der Erzieherin wird in aktuellen elementarpädagogischen Beiträgen und Diskussionen immer wieder als ein zentraler Faktor für gelingende pädagogische Prozesse in Krippe und Kindergarten angeführt. Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich der Begriff als eine kaum durchschaubare „Blackbox“. Was steckt nun hinter der viel zitierten Haltung von ErzieherInnen oder auch LehrerInnen? Ist sie tatsächlich eine unverzichtbare Ressource, ja sogar das entscheidende pädagogische Zaubermittel oder doch nur ein Mythos und ein aufgeblasener Scheinriese ohne Substanz?
Die interdisziplinäre Forschungsstelle Begabungsförderung des nifbe hat sich dieser Frage gewidmet und musste zu ihrem Erstaunen feststellen, dass die Wissenschaft auf diese zentrale Frage noch kaum eine zufrieden stellende Antwort bietet. „Aus heutiger Sicht“, so Forschungsstellenleiterin Prof. Dr. Claudia Solzbacher, „ist theoretisch und empirisch noch weitgehend ungeklärt, was unter Haltung überhaupt zu verstehen ist, wie man sie erwirbt, ob sie veränderbar oder gar lehrbar ist.“
Haltung als zeitgebundenes Phänomen
Eines wurde bei ihren Recherchen zu diesem Thema aber schnell klar: Haltung zeigt sich als ein zeitgebundenes Phänomen, das sowohl von den jeweils aktuellen Erziehungs- und Bildungstheorien und einem entsprechenden Bild vom Kind als auch von gesamtgesellschaftlichen Interessen, Bedürfnissen und Werteorientierungen geprägt ist. Zeitübergreifend kristallisierte sich aber auch eine gemeinsame Schnittmenge der Debatte heraus: Denn seit über 200 Jahren gibt es eine enge Verbindung der richtigen pädagogischen Haltung mit Eigenschaften wie Empathiefähigkeit, Selbstreflexion und einer positiven emotionalen Zugewandtheit zu den Kindern. Eine Ausnahme bildet hier nur die Phase der Bildungsreform in den 1960er bis 70er Jahren, in der eine Professionalisierungsdebatte um den Lehrer geführt und dieser entpersönlicht und auf sein Fachwissen und ein methodisch gesichertes Handeln reduziert wurde. Unter dem Motto „Keine Bildung ohne Beziehung“ und mit neuen neurowissenschaftlichen Argumentationshilfen (z.B. durch Gerald Hüther) erlebte das Thema der Haltung dann aber seit den späten 1990er Jahre wieder einen deutlichen Konjunkturaufschwung , der bis heute anhält.
Haltung basiert auf Selbstkompetenzen
Aus ihren geschichtlichen Erkenntnissen rund um das Thema der Haltung und auf der Grundlage der funktionsanalytischen Persönlichkeitstheorie PSI des nifbe-Forscher Prof. Dr. Julius Kuhl konnte die Forschungsstelle Begabungsförderung schließlich konkretisieren, was sich hinter einer (professionellen) Haltung verbirgt: „Haltung zeigt sich als ein sehr individuelles und stabil integriertes Muster von Einstellungen, Werten und Überzeugungen, das durch einen authentischen Selbstbezug und objektive Selbstkompetenzen zustande kommt. Wie ein innerer Kompass ermöglicht dieses Muster einen sicheren Kurs, in dem sowohl der konkrete pädagogische Kontext als auch übergreifende Aspekte berücksichtigt und in Übereinstimmung gebracht werden“ fasst Julius Kuhl zusammen.
Entscheidend dafür, dass Haltung auch gelebt und nicht nur deklamiert wird, sind dabei die angeführten objektiven Selbstkompetenzen, zu denen unter anderem Selbstmotivierung, Selbstberuhigung, Selbstentwicklung oder Intentionsausführung gehören. Und diese wiederum sind, wie Julius Kuhl unterstreicht, „u.a. durch individuell ausgerichtete Trainingsmethoden lebenslang erlernbar.“ Ein entsprechendes Weiterbildungskonzept, das im nifbe entwickelt und derzeit in der Praxis erprobt wird, setzt sich dabei aus den Bausteinen „Erleben“, „Wissen“, „Reflektieren“ und „Übertragen“ zusammen. Auch im Hinblick auf die Hoch- und Fachschulausbildung fordert Claudia Solzbacher nun verstärkt eine Didaktik, „die mehr auf authentisches Erleben und auf Selbsterfahrungen sowie auf bewusst aufbereitete Praxis setzt.“
Wesentlich in der Konzeption der professionellen Haltung des Forscherteams rund um Claudia Solzbacher und Julius Kuhl ist auch die Unterscheidung einer persönlichen, emotional gefärbten Erstreaktion und einer dialektischen und willentlich steuerbaren „Zweitreaktion“. Die Zweitreaktion bietet dabei einen professionellen Abstand zum ersten Impuls und eröffnet erweiterte, kontextsensible Handlungsspielräume – und diese Zweitreaktion gilt es für eine professionelle Haltung insbesondere zu schulen!
Von der Fehlerfahndung zur Schatzsuche: Ressourcenorientierung
Ein gutes Beispiel hierfür ist der Blick auf das Kind, der noch immer häufig von einer Defizitorientierung geprägt ist – und dies ist insbesondere auch einem deutschen Bildungswesen geschuldet, das sich an standardisierten Leistungen ausrichtet und über schulische Kerncurricular und Orientierungspläne für Kindertagesstätten verbindlich zu erreichende Kompetenzen festsetzt (was sich wiederum auch in vielen gängigen Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren wiederspiegelt). „Der kann dies nicht“ oder „Der kann das nicht“ kann da entsprechend leicht zur ersten spontanen Reaktion pädagogischer Fachkräfte werden. Mit einer professionellen Zweitreaktion kann jedoch die Perspektive von der Fehlerfahndung hin zur Schatzsuche erweitert werden: Was kann das Kind gut? Woran kann ich ansetzen, um dem Kind die so wichtigen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und entsprechende Erfolgserlebnisse zu bieten?
Kein Kind hat zunächst einmal für sich allein genommen Schwächen. „Schwächen“, so Claudia Solzbacher, „entstehen erst, wenn das Kind in Bezug zu seiner Umwelt gesetzt wird“. Als Beispiel hierfür führt sie Pablo Pineda Ferrer an, der als erster Europäer mit Trisomie 21 in den 1990er Jahren einen Universitätsabschluss machte und heute als Lehrer arbeitet. Ferrer verdeutlichte diesen Aspekt bei einer Preisverleihung folgendermaßen:
„Als ich neun Jahre alt war, fragte mich mein Lehrer, ob ich wüsste, dass ich ein Down-Syndrom habe und was das bedeutet. Ich hatte bis dahin geglaubt, ganz normal zu sein und hörte zum ersten Mal von dem Syndrom.“
In diesem Sinne – und das gilt auch ganz besonders für die Umsetzung einer inklusiven Pädagogik – kommt es darauf an, Vertrauen in die vorhandenen Potentiale des Kindes zu entwickeln und den Blick auf dessen ganz individuelle Fähigkeiten zu richten - und diese nicht nur anhand von anderen Kindern oder vermeintlichen Standards zu beurteilen. Dabei reicht eine alleinige Zuschreibung von Fähigkeiten jedoch nicht aus. Notwendig ist eine Perspektivübernahme, ein Hineinversetzen in die Lage des Kindes. Steht das Kind mit seinem Können im Vordergrund, entsteht im Vergleich zur einseitigen Fokussierung der Defizite eine positive Einstellung zum Kind. Lässt die pädagogische Fach- oder Lehrkraft die Kinder erfahren, wo ihre Ressourcen liegen, erleichtert sie den Kindern in bestimmten Situationen auf ihre Ressourcen zurückzugreifen und sie für sich nutzbar zu machen. Über das stärken von Stärken und das damit einhergehende Selbstvertrauen können dann auch schwächer ausgebildete Fähigkeiten sich positiv entwickeln.
Wie Claudia Solzbacher und ihr Team unterstreichen, kann eine solche Haltung aber nicht wie ein „Arbeitskittel“ an- und ausgezogen werden, sondern muss so lange eingeübt, geschult und kultiviert werden, bis sie sich schließlich als dauerhafte Einstellung und Persönlichkeitsmerkmal niederschlagen kann.
Die hohe Kunst der Wahrnehmung
Ganz wesentlich geht es in diesem Prozess auch um die hohe Kunst der Wahrnehmung. Diese setzt eine sorgfältige Trennung von Vorgangsbeschreibung und Deutung voraus, die sich im Alltag allzu schnell vermischen und den Blick auf die Dinge – oftmals unbewusst und oftmals defizitorientiert – prägen. Die eigene Beobachtungsfähigkeit kann so geschult werden, wenn die Interpretation von Vorgängen zu einem bewusst gemachten zweiten Schritt wird. Ressourcenorientierung fügt der Interpretation eine gezielte Umdeutung hinzu. „Man muss irgendwie den Blick so ein bisschen drehen“, fasst eine der von der nifbe-Forschungsstelle Begabungsförderung interviewten Erzieherinnen die Herausforderung zusammen.
Unabdingbar für einen solchen Perspektivwechsel ist sicherlich der kollegiale Austausch über die Ressourcen eines Kindes. Bewährt hat sich aber auch zum Beispiel, bei der Beobachtung eines Kindes im KiTa-Alltag alles zu notieren, was positiv auffällt oder noch weiter gehend mit einer „ABC-Ressourcenliste“ die positiven Eigenschaften eines Kindes über das ganze Alphabet hinweg durch zu deklinieren. Wertvolle Unterstützung kann desweiteren die Arbeit mit ressourcenorientierten Videoverfahren wie der „Video Interaktionsbegleitung“ oder „Marte Meo“ bieten. Aufnahmen der eigenen Interaktion und Kommunikation mit Kindern können hierbei ideal zur Selbstreflexion oder auch zu gemeinsamen Reflexion im Team eingesetzt werden.
Fazit
Ressourcenorientierte Ansätze gehen von einer grundsätzlichen Fähigkeit zur (Weiter-) Entwicklung und vom Bild eines aktiv handelnden Menschen aus. Für die pädagogischen Fach- und Lehrkräfte ergibt sich daraus die Aufgabe der emphatischen Entwicklungsbegleitung und -unterstützung, um die vorhandenen und nicht immer leicht zu identifizierenden Potenziale sich tatsächlich entfalten zu lassen. Ressourcenorientierung weist dabei entstehungsgeschichtlich auch zahlreiche Berührungspunkte mit den Ansätzen der Resilienz und der Salutogenese auf. In diesem Sinne bietet sie nicht zuletzt auch die Chance, dass Kinder die für ihre Entwicklung so wichtigen Schutzfaktoren gegen körperlich-geistige Belastungen ausbilden können. Eine ressourcenorientierte Haltung kann aber nur entstehen, wenn PädagogInnen Selbstkompetenzen besitzen, die sie selbstbewusst ihre eigenen Stärken und Schwächen erkennen lassen und ihnen so ein „Rückgrat“ geben, um immer für das Wohl des Kindes zu arbeiten und nicht allzu schnell Ideologien oder „Politically Correctness“ aufzusitzen.
Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung des Autors von der Website des Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung