
Handschrift als Problem
Die weit überwiegende Mehrzahl der Lehrerinnen und Lehrer in Nordrhein-Westfalen sowie in ganz Deutschland sieht, dass Schülerinnen und Schüler zunehmend Probleme mit dem Handschreiben haben – und die meisten Lehrerinnen und Lehrer haben offenbar konkrete Vorstellungen, was dagegen zu tun ist. Vor allem: die Motorik fördern, und das möglichst schon im Kindergartenalter.
"Motorische Fähigkeiten der Kinder sind nicht nur beim Schreiben wenig ausgeprägt. Der Umgang mit dem Pinsel, Schere, Lineal oder anderen Werkzeugen hat sich ähnlich verschlechtert. Zum Beispiel können nur noch circa die Hälfte (oder weniger) Kinder eine Schleife bzw. einen einfachen Knoten", so schreibt eine Grundschullehrkraft aus Nordrhein-Westfalen.
Die quantitativen Ergebnisse der Online-Umfrage, die der Deutsche Lehrerverband gemeinsam mit dem Schreibmotorik Institut, Heroldsberg, durchgeführt und im April veröffentlich hat, werden jetzt durch eine qualitative Auswertung auch einer offenen Antwortmöglichkeit bestätigt und ergänzt. Ein Großteil der Lehrerinnen und Lehrer, die sich an der Umfrage beteiligten, nutzten diese freie Kommentarmöglichkeit. Das gilt auch für die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer aus Nordrhein-Westfalen.
So meint eine zweite Grundschullehrkraft aus Nordrhein-Westfalen: "Schreiben mit der Hand hat viel mit der gesamten Körperhaltung und -spannung zu tun, nicht nur mit der Hand. Eine ganzheitliche Förderung ist mangels Bewegungserfahrungen im Vorschulbereich unbedingt nötig." Eine andere schreibt: "Meiner Erfahrung nach kommen die Kinder schon mit gefestigter falscher Stifthaltung in die 1. Klasse. Eltern und Kindergarten müssten von Anfang an mehr auf eine korrekte Haltung beim Malen achten. Dabei ist natürlich die Entwicklung des Kindes zu berücksichtigen." Eine vierte Lehrkraft kommentiert: "Vor 20 oder 30 Jahren - so meine Erfahrung - konnten die meisten Kinder zu Beginn des 1. Schuljahres einen Stift ordnungsgemäß in der Hand halten. Heutzutage gelingt das vielen Schülern auch in späteren Grundschuljahren nicht."
Bei den Antworten der Lehrkräfte aus Nordrhein-Westfalen ist besonders auffallend, dass viele die Gründe für die Probleme mit dem Handschreiben bei bestimmten Schriftarten sehen. In Nordrhein-Westfalen lernen Schüler zu Beginn ihrer Schullaufbahn zunächst die Druckschrift und danach eine verbundene Schrift. Die Schule entscheidet, welche Ausgangsschrift zugrunde gelegt wird, ob beispielsweise die Vereinfachte (wie im Lehrplan vorgesehen) oder die Lateinische. Zudem vermitteln seit 2003 etliche Grundschulen die Grundschrift, die aus zu verbindenden Druckbuchstaben besteht.
Dabei läuft die Kontroverse innerhalb der Lehrerschaft in Nordrhein-Westfalen offenbar zwischen Befürwortern und Gegnern der Grundschrift. "Die Grundschrift produziert mit Abstand die schlechtesten Schriftbilder, gegenüber den anderen Schulschriften", so meint eine Grundschullehrkraft. Eine andere berichtet dagegen: "Zur Zeit erprobe ich im 1. Schuljahr die Grundschrift. Ich sehe sie als Vorläuferschrift zu einer verbundenen Handschrift und das klappt gut: Es ist Schreiben von Anfang an, kein ´Buchstabenmalen' aus Strichen, Kreisen und (faulen) Eiern. Für stark benachteiligte Kinder werde ich auf die Verbindungen verzichten, sie haben so auch eine gute persönliche Handschrift." "In den Grundschulen sollte eine einheitliche Schrift gelehrt werden. Der Rechtschreibung sollte viel früher mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Keine Druckschrift am Anfang der Grundschule", so fordert eine Lehrkraft einer weiterführenden Schule.
Der Schreibmotorikforscher Dr. Christian Marquardt, wissenschaftlicher Beirat des Schreibmotorik Instituts, Heroldsberg, meint dazu: ""Die Schriftendiskussion hat leider dazu geführt, dass sich Befürworter und Gegner bestimmter Schriften in verhärteten Fronten gegenüberstehen. Diese Gemengelage erschwert einen objektiven Blick darauf, wie das Problem zunehmender Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern mit dem Handschreiben angegangen werden kann. Wenn viele Schwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen in motorischen Defiziten begründet liegen, dann müssen wir zunächst einmal die Förderung der Motorik verbessern – und zwar von der Kita an. Hierzu liegen uns bereits erste Erkenntnisse aus eigenen Untersuchungen vor, die darauf hinweisen, dass das spätere Beschleunigen der gelernten Ausgangsschriften deutlich einfacher und besser gelingt, wenn bereits im Anfangsunterricht ein flüssiger Bewegungsablauf gezielt gefördert wird. Anschließend müssen wir uns natürlich auch die Frage stellen, welche Schrift am besten in der Grundschule vermittelt werden sollte. Deshalb ist es wichtig, die Forschung in diesem Bereich weiter voranzubringen, um hier zu eindeutigen Empfehlungen zu kommen."
Wie gravierend sind die Probleme mit dem Handschreiben in der Schule? Und was lässt sich dagegen tun? Um diese Fragen zu klären, hatten der Deutsche Lehrerverband (DL) und das Schreibmotorik Institut die Umfrage gestartet. Zwischen Dezember 2014 und März 2015 beteiligten sich mehr als 2000 Lehrkräfte aus ganz Deutschland. Dabei erhielten Lehrer aus Grundschulen und von weiterführenden Schulen getrennte Fragebögen, die aber beide mit der offenen Frage endeten: "Möchten Sie uns noch etwas zum Thema Schreiben lernen/Schrift mitteilen?" Hunderte von Teilnehmern nutzten dies, um vertiefende Kommentare einzubringen.
Laut der quantitativen Erhebung, die bereits im April veröffentlicht wurde, meinen vier Fünftel (79 Prozent) der an der Erhebung beteiligten Lehrerinnen und Lehrer weiterführender Schulen, die Handschrift ihrer Schülerinnen und Schüler habe sich im Schnitt verschlechtert. Sogar 83 Prozent der befragten Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer gaben an, dass sich die Kompetenzen, die Schüler als Voraussetzung für die Entwicklung der Handschrift mitbringen, in den vergangenen Jahren verringert haben. Die Umfrageergebnisse sind auf der Homepage des Schreibmotorik Instituts herunterladbar.
Das Schreibmotorik Institut e. V., Heroldsberg, ist eine bundesweit einzigartige Einrichtung. Es beschäftigt sich mit der Forschung auf den Gebieten der Schreibmotorik und der Schreibergonomie, vernetzt relevante Institutionen im Bereich des Handschreibens und versammelt Experten, die sich seit Jahren in Theorie und Praxis mit effizientem Schreiben beschäftigen. Es hat Lehrmaterialien für den Schreibunterricht entwickelt und bietet Seminare für Pädagogen an. Das Institut wird vom Schreibgeräte-Hersteller Stabilo unterstützt, ist aber unabhängig und gemeinnützig.
Quelle: Bildungsklick.de