Inklusion: „Ohne Noten und ohne Abschlusszeugnisse“
Wie weit soll die Inklusion behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht gehen?
Sehr weit, sagt der Pädagoge Hans Wocken. Ein Gespräch über Förderschulen, irreführende Quoten und den Sinn von Leistungsanforderungen
Hans Wocken gilt als einer der bekanntesten und radikalsten Befürworter der Inklusion behinderter Kinder in Regelschulen.
SZ: Sie waren selbst einst Sonderschullehrer. War diese Erfahrung so schrecklich, dass Sie die Sonderschulen nun gänzlich abschaffen wollen?
Hans Wocken: Ich bin nicht deshalb für Inklusion, weil ich gegen Sonderschulen bin. Sonderschulen waren historisch gesehen einmal eine gute Möglichkeit, behinderte Kinder zu fördern. Sie waren die ersten Schulen, die behinderte Kinder integriert haben! Aber ich erinnere mich nicht gerne an meine Zeit als Sonderschullehrer. An meiner Schule herrschte ein unerfreuliches Lernklima. Die Schüler haben sich auf dem Pausenhof genauso beschimpft, wie sie von andern Kindern beschimpft worden sind. Es gab immer Streit und Unruhe.
Aber letztlich wünschen Sie doch eine Schule für alle – und das hieße das Ende der Sonderschulen.
Warum nicht? Wenn alle oder fast alle Schüler eine gemeinsame Schule besuchen könnten, würde mich das freuen. Sonderschule ist eine Form von Ausgrenzung, sie hält behinderte Kinder davon ab, am Leben der anderen Schüler teilzunehmen. Am Anfang war die Idee: Integration sollte nur ein Angebot sein. Im Laufe der Jahre ist bei mir die Überzeugung gewachsen, dass die volle Inklusion behinderter Schüler möglich und besser ist.
Ist ein behindertes Kind an einer Regelschule immer besser aufgehoben?
Nicht in jedem Fall. Es müssen natürlich die Voraussetzungen stimmen. Das Kind muss in der Inklusion professionell unterstützt werden und Mitschüler, Eltern und Lehrer müssen vorbereitet sein.
Das bedeutet einen riesigen Personalaufwand.
Die personelle und materielle Ausstattung muss dieselbe sein wie in Sonderschulen. Ich nenne dies das Gesetz der Ressourcengleichheit. Gleiche Betreuung für behinderte Kinder, ob sie nun in der Förderschule sind oder in der Inklusion.
Mit dem großen Unterschied, dass die Schüler dort auf verschiedene Klassen oder Kurse verteilt sind und dann nicht zusammen betreut werden können.
Das sehe ich nicht so, schließlich sind ja die anderen, nicht behinderten Kinder als Vorbilder und Helfer da. Behinderte Kinder lernen unter nicht behinderten Schülern empirisch nachweisbar mehr als wenn sie nur unter sich bleiben. Und auch die übrigen Schüler profitieren.
Es gibt Studien, die klar zu einem anderen Ergebnis kommen, etwa in einem Hamburger Schulversuch. Die inklusiv unterrichteten Kinder erreichten nach der vierten Klasse nicht das sonstige Niveau, dafür hatte die allgemeine Leistung gelitten.
An dieser Studie war ich selbst beteiligt, darüber hat es heftigen Streit gegeben. Meine Interpretation ist: Die Schüler kamen aus sozialen Brennpunkten und deshalb von vornherein mit ungünstigeren Voraussetzungen in die Schule. Inklusion hat das nicht ausgleichen können.
Sie wollen die Aufteilung in Gymnasium und weitere Schularten beenden, Inklusions-Kinder sollen andere Anforderungen erfüllen als die übrigen Schüler. Was soll an die Stelle der Leistung treten?
An die Stelle von Noten und Sitzenbleiben treten Kompetenzeinteilungen und Selbsteinschätzungen der Schüler. Kompetenzstufen beschreiben das Leistungsvermögen von Schülern in verschiedenen Bereichen wie Lesen, Schreiben oder Rechnen. Ich könnte mir in der Utopie sogar vorstellen, dass wir Schulen haben ohne Noten und ohne Abschlusszeugnisse. Der beste Ersatz dafür sind Probezeiten. Jemand, der durch das Medizinstudium überfordert ist, wird das spätestens nach drei Vorlesungen erkennen und aufgeben. Unsere Abiturzeugnisse sagen eh nichts mehr.
Wollen Sie Hochschulen und Unternehmen im Ernst zumuten, erst mal alle möglichen Kandidaten in Probezeit aufzunehmen? Das ist doch völlig unrealistisch.
Nein, es wird Aufnahmeprüfungen geben, viele Firmen machen das jetzt schon. Und wir sollten Mischformen aus Zeugnissen und Aufnahmeprüfungen haben.
Sie haben nun ein Buch über den mangelnden Fortschritt der Inklusion veröffentlicht. Ist die bisherige Inklusionspolitik ein große Täuschung?
Die derzeitige Inklusionsentwicklung ist eine große Täuschung und auch eine große Enttäuschung, das ist das Hauptergebnis meiner Analyse der bayerischen Verhältnisse. Doch sie gilt auch für andere Bundesländer. Eigentlich soll Inklusion ja bedeuten, dass weniger Kinder Sonderschulen besuchen. Aber wir haben in fünf Jahren in der gesamten Bundesrepublik nur 0,1 Prozent weniger Schüler in Sonderschulen. Das ist nun wirklich kein großer Fortschritt.
Wie erklären Sie das?
Es gibt Eltern, die mit Sonderschulen einverstanden sind, besonders in konservativen Regionen. Und es gibt Widerstand aus Schulen, die sich nicht mit Förderkindern beschäftigen wollen. Viele Schulen deklarieren Schüler zu Förderschülern um, um mehr Mittel zu bekommen. Diese Etikettierung ist ein Skandal.
Am Ende sollen alle vom hochbegabten bis zum schwerstbehinderten Kind in eine Klasse gehen?
Das glaube ich in der Tat, weil ich es gesehen habe, etwa in Kanada oder in Südtirol. Ich halte Inklusion nur in der Pflichtschulzeit für ein Muss, danach kann man die Schüler nach ihrem Leistungsvermögen auf verschiedene Schulformen aufteilen.
Fortschritt nur auf dem Papier?
Es geht nur langsam vorwärts mit der Inklusion, das wusste man schon. Der Bildungsforscher Klaus Klemm stellte das in einer Bertelsmann-Studie bereits vergangenes Jahr fest. Es werden zwar mittlerweile mehr Schüler mit „Förderbedarf“ – die also verhaltensauffällig, lern- und körperbehindert sind – in den allgemeinen Schulen unterrichtet. Dennoch hat sich der Anteil der Schüler in separaten Förderschulen kaum verändert. Hans Wocken kommt in seinem neuen Buch „Bayern integriert Inklusion“ (Feldhaus-Verlag, Hamburg 2014) zu einem noch harscheren Urteil: Fünf Jahre Inklusionspolitik haben faktisch nichts für behinderte Kinder gebracht, sie findet nur auf dem Papier statt. Wocken argumentiert mit offiziellen Zahlen aus Bayern, die Entwicklung lässt sich jedoch auch in anderen Bundesländern feststellen. Die Kultusminister argumentieren gerne mit der Inklusionsquote, die nachzeichnet, welcher Anteil der Schüler mit Förderbedarf in allgemeine Schulen geht. Diese Quote ist deutlich gestiegen. Das aber ist irreführend: in den vergangenen Jahren wird viel mehr Schülern ein Förderbedarf attestiert als bisher, die man dann wiederum scheinbar großherzig als Inklusionsschüler in Regelschulen aufnimmt. Laut Wocken stieg die Zahl der angeblich Lernbehinderten in Bayern zwischen 2009 und 2012 um 60 Prozent an. Zugleich bleibt eine Stammschülerschaft behinderter Kinder in den Förderschulen zurück, oder wie Wocken es ausdrückt: „Die allgemeine Schule kann sich weiterhin – wie bisher auch – von ,richtigen‘ Sonderschülern ,entlasten‘.“
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