Inklusive Qualitätsentwicklung in Kitas mit dem Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung©
Der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung© wurde seit dem Jahre 2000 im Institut für den Situationsansatz/ INA gGmbH auf der Grundlage des „Anti-Bias Approach“ aus Kalifornien in bundesweiten KINDERWELTEN-Projekten entwickelt, aus denen 2011 die Fachstelle KINDERWELTEN hervorgegangen ist. Was will der Ansatz, was hat er mit Inklusion und Bildungsgerechtigkeit zu tun und worin liegen seine Impulse für eine inklusive Qualitätsentwicklung in Kitas? Worin wird der Ansatz missverstanden, wo sind die Stolperfallen bei seiner Umsetzung? Hierzu ein kleiner Ausflug in die Welt voller Botschaften über sich und über andere Menschen, in der junge Kinder in Deutschland aufwachsen:
Worte konstruieren Identität und Normalität: Das N-Wort[1] in Kinderbüchern
In einem Zeitungsinterview sagt eine Mutter, dass sie beim Vorlesen von Pippi Langstrumpf das Wort „Negerkönig“ zur Bezeichnung von Pippis Vater nicht verwenden, sondern mit „Südsee-König“ übersetzen werde, um ihr Kind „davor zu bewahren, solche Ausdrücke zu übernehmen. Auch ohne böse Absicht können Worte ja Schaden anrichten. Wenn das Kind älter ist, würde ich dann erklären, was das Wort „Neger“ für eine Geschichte hat und dass es verletzend ist, das Wort zu verwenden.“ (DIE ZEIT 25.12.2012) Die Mutter hat entschieden, nach einer Sprache zu suchen, die Herabsetzungen von Menschen vermeidet. Weil Worte verletzen und damit „Schaden“ anrichten können, auch wenn sie „ohne böse Absicht“ dahingesagt werden. Sie möchte nicht, dass ihr Kind solche Worte übernimmt. Die Mutter handelt „vorurteilsbewusst“: Sie geht davon aus, dass Worte nicht „neutral“ sind, sondern historische Bedeutungen transportieren. Dass sich diese Bedeutungen bereits jungen Kindern vermitteln, die nicht in der Lage sind, sie kritisch zu reflektieren oder gar zu kritisieren. Dass demzufolge die Verantwortung bei den Erwachsenen liegt, Kindern die Welt in einer sachlich zutreffenden und respektvollen Sprache zu spiegeln. Es sind bemerkenswerte Einsichten einer Mutter, die im Kontakt mit ihrem eigenen Kind Sensibilität für die Macht der Sprache zeigt.
Doch was geschieht? Nach dem Interview tobt in der Presse wochenlang ein Kampf um diese Äußerungen: Die Mutter ist die Familienministerin Kristina Schröder (CDU), über die sich Häme ergießt, auch von liberalen Medien. Insbesondere die Feuilletons sprechen von „Zensur“, von übertriebener „political correctness“, verteidigen Astrid Lindgren gegen den „Rassismusvorwurf“ der Ministerin und verlangen von Verlagen „Werktreue“, die darin bestehe, die Originalsprache der Kinderbücher unverändert zu lassen. Gegenüber der „Werktreue“ gilt in vielen Kommentaren der Verzicht auf rassistische Sprache in Kinderbüchern als nachrangig – die Perspektive von Kindern verschwindet hinter dem Primat des Originals. [2]
In der aufgeheizten Debatte sind es fast ausschließlich die Stimmen von Schwarzen Deutschen, die auf den Schaden eingehen, den eine rassistische Sprache auf die Identitätsentwicklung von Kindern, Schwarzen wie Weißen, auf ihr Welt- und Menschenbild hat. (s. Dede Ayivi, Haruna, Topcu) Für aufmerksame Kinder [3] ist die Debatte selbst mit den zahlreichen Artikeln, TV-Interviews, aufgeregten Gesprächen unter Erwachsenen eine Quelle von Botschaften über Schwarzsein und Weißsein in dieser Gesellschaft, die geprägt sind von Bewertungen und Hierarchien, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit: „Schwarze Menschen werden nicht mitgedacht. Es ist, als würden wir nicht existieren. Gedanken macht man sich lediglich um die Rechte des weißen Urhebers und das ungetrübte Vergnügen des weißen Rezipienten, der am liebsten alles so haben will, wie es schon immer war.“ (Dede Ayvivi 2013) Die Erkenntnisse, die sich als Kind beim Lesen über Pippi Langstrumpfs Vater als N-König vermittelt haben, erhärten sich: „Weiße herrschen über Schwarze. Schwarze Menschen sind weniger wert. Und ich bin schwarz.“ (ebd.) Sie zeigen, dass es mit dem Verzicht auf das N-Wort alleine nicht getan ist, solange die Hierarchien unangetastet bleiben und solange die wirklich starken, handelnden Figuren in den Geschichten, deren Perspektiven nachvollziehbar werden, einseitig nur bestimmte Identitätsmerkmale repräsentieren. Dennoch ist der bewusste Umgang mit Sprache Teil einer umfassenden Strategie gegen Benachteiligung und gegen Ausschluss.
Anti-Bias Approach: Einseitigkeiten und Diskriminierung auf der Spur
Das war bereits in den 80er Jahren die Erkenntnis von Louise Derman-Sparks und KollegInnen, die kulturelle Einseitigkeiten in Kindergärten feststellten: Schwarze und Weiße Kinder besuchten nach der Aufhebung von segregierten Wohngebieten zwar gemeinsam die Kindergärten, doch es war zu beobachten, dass Weiße Kinder sich eher mit der Lernumgebung identifizieren und daher besser lernen konnten als Schwarze Kinder. Weiße waren in den Spielmaterialien und Kinderbüchern überrepräsentiert, während Schwarze kaum vorkamen. Die Gewohnheiten und die Art der Kommunikation waren orientiert an bestimmten kulturellen Werten und schufen Zugangshürden für Kinder, die diese nicht kannten. Um dies zu verändern, wurde der Anti-Bias Approach entwickelt, ein pädagogischer Ansatz gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung. (Derman-Sparks 1989, Derman-Sparks & Olsen Edwards 2010)
Der Ansatz basiert auf den in der UN-Kinderrechtskonvention allen Kindern zugestandenen Rechten, insbesondere das Recht auf Bildung und das Recht auf Schutz vor Diskriminierung (Derman-Sparks in Wagner 2013, 282) und steht ein für soziale Gerechtigkeit: „Anti-Bias Arbeit ist Teil der umfassenderen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, deren Anliegen es ist, alle institutionellen und individuellen Formen von Vorurteilen und Diskriminierung zu beenden.“ (ebd. 281) Wie soll dies geschehen?
Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen: Der Ansatz verknüpft den Anspruch, Unterschiede zu respektieren, mit dem Anspruch, sich bei Abwertung, Herabwürdigung und Diskriminierung eindeutig zu positionieren. Dabei werden Kinder in ihrer Gesamtheit gesehen, mit allen sozialen Gruppen-Identitäten, die für sie und ihr Leben relevant sind. Die Aufmerksamkeit gilt allen Formen und Mechanismen von Ausgrenzung, weil sie Kinder belasten, verletzen, am Lernen behindern. Als Praxiskonzept orientiert der Ansatz auf 4 Ziele, die aufeinander aufbauen und sich gegenseitig verstärken:
- Im ersten Ziel geht es darum, alle Kinder in ihrer Identität zu stärken, wozu die Anerkennung ihrer Vorerfahrungen und Familienkulturen gehört.
- Das zweite Ziel ist, allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt zu ermöglichen, indem sie sie aktiv und bewusst erleben.
- Das dritte Ziel ist, kritisches Denken über Vorurteile, Einseitigkeiten und Diskriminierung anzuregen.
- Im vierten Ziel geht es darum, Kinder darin zu unterstützen, sich gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung zu wehren.
Louise Derman-Sparks betont, dass die Arbeit nach diesen vier Zielen für alle Kinder gelte und allen Kindern nütze, den benachteiligten wie auch den privilegierten: „Für Kinder der dominanten Kultur ist es wichtig, Identitäten nicht in überlegener oder ängstlicher Abgrenzung zu den Menschen zu entwickeln, die anders sind als sie. Sie brauchen Kompetenzen, um mit unterschiedlichen Menschen fair zusammen zu arbeiten. Kinder wiederum, die wegen ihres ethnisch-kulturellen Hintergrunds strukturellen oder direkten Rassismus erleben, brauchen Identitäten, mit denen sie sich der Diskriminierung widersetzen können und auch den Botschaften, sie seien unterlegen oder minderwertig. Alle Kinder wiederum brauchen Unterstützung, um die Kompetenzen zu erwerben, die sie brauchen, um sich respektvoll und wirkungsvoll mit Kindern zu verständigen, die anders sind als sie selbst.“ (Derman-Sparks in Wagner 2013, 286)
Der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung© als inklusives Praxiskonzept
Zu den Zielen gehören Prinzipien der Umsetzung, die im Rahmen von KINDERWELTEN weiter entwickelt und mit vielen Kitas erprobt wurden. Das systematische Arbeiten an den vier Zielen in den Handlungsfeldern Lernumgebung, Interaktion mit Kindern, Zusammenarbeit mit Eltern und Zusammenarbeit im Team kennzeichnet die Implementierung des Ansatzes Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung©, auch mit Hilfe eines Qualitätshandbuchs [4].
Die Kerngedanken sind identisch mit denen der Inklusion: Inklusion, so heißt es in unterschiedlichen Grundsatztexten, müsse die Heterogenität der Lernvoraussetzungen und Lernwege von Kindern berücksichtigen und für Bildungsprozesse nutzen. Des Weiteren seien Barrieren abzubauen, die den Zugang von Kindern zu Bildungseinrichtungen und Bildungsinhalten behindern (DUK 2009). Genau dieses verfolgt der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, indem er konsequent Diversitätsbewusstsein mit Diskriminierungskritik verknüpft. Gefordert ist eine Praxis, die immer wieder daraufhin überprüft wird, wieweit Unterschiede wahrgenommen und respektiert werden und ob es Nachteile oder Herabwürdigungen gibt, die es nötig machen, zu intervenieren.
Alle Kinder in ihrer Identität stärken
Das Ziel der Stärkung von Identität geht über das hinaus, was man gemeinhin mit der Stärkung persönlicher Ressourcen meint. Die Identifikationen des Kindes mit seinen sozialen Bezugsgruppen, allen voran mit seiner Familie als primäre Bezugsgruppe, werden als untrennbarer Teil seiner persönlichen Identität verstanden. Pädagogische Fachkräfte müssen wissen, wie sie in Erfahrung bringen können, welche Bezugsgruppen für das jeweilige Kind Bedeutung haben und was die Lebenswirklichkeit dieser Bezugsgruppen kennzeichnet. Sofern diese sich sehr von ihrer eigenen unterscheidet, müssen pädagogische Fachkräfte ihre „blinden Flecken“ eingestehen: Wer nicht allein erziehend ist, braucht Informationen von allein erziehenden Eltern, um nicht seinen stereotypen Bildern aufzusitzen, die sich eventuell an der unreflektierten Vorstellung von „Idealfamilien“ (Vater – Mutter –Kind) orientieren. Wer gut ausgebildet ist und (noch) eine Arbeitsstelle hat, kann sich u.U. schwer vorstellen, wie es ist, über beides nicht zu verfügen. Wer in der DDR aufgewachsen ist, kann nicht genau wissen, welche Erfahrungen die Familie mitbringt, die jetzt aus dem Westen in die neuen Bundesländer gezogen ist.
Praxisbeispiel: Am Eingang des Gruppenraums fallen „besondere“ Bilder von Kindern ins Auge: Es sind Porträts ihrer eigenen Kinder, die Eltern bei einem Elternabend angefertigt haben. Da gibt es zarte Pastelltöne und kräftige Farben, witzige und ernste Gesichter, schwungvolle und gerade Linien, geübte und eher ungeübte Pinselstriche – so unterschiedlich, wie eben Eltern sind, die einen solchen Auftrag umsetzen! Sie kennen ihre Kinder und versuchen sich darin, ihre Gefühle und ihren Blick auf ihr Kind in ein Bild zu übersetzen. Jeder Ausdruck der Eltern wird respektiert, es gibt kein „richtig“ oder „falsch“. Jedes Kind kann sich selbst finden. Und alle seine Freunde und Freundinnen. Als Gesamtes geben die Porträts ein buntes, vielfältiges Gruppenbild. Die Erzieherinnen achten darauf, dass Eltern von neuen Kindern auch ein Porträt beitragen und bitten sie am ersten Elternabend darum, zum Pinsel zu greifen.
Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen
Es wird bewusst eine Quelle von Vielfalt genutzt, die in jeder Gruppe vorhanden ist und zu der folglich jedes Kind Zugang haben kann, unabhängig von seinen sonstigen Lernchancen und Voraussetzungen: Dass Menschen sich unterscheiden, nach Aussehen, Kleidung, Verhalten, Sprache, Fähigkeiten und Gewohnheiten. Dass sie mit unterschiedlichen Gegenständen hantieren und Unterschiedliches hervorbringen. Dass ihnen Unterschiedliches wichtig ist und sie die Welt unterschiedlich erklären. Auf der Grundlage von Respekt und Anerkennung für die Eigenheiten jedes einzelnen Kindes und seiner Familie, werden Erfahrungen mit Menschen, die anders aussehen und sich anders verhalten als sie selbst, gezielt ermöglicht und thematisiert. Kinder sollen sich mit ihnen wohl fühlen, sowie Empathie und Respekt für Vielfalt entwickeln können.
Kontakt alleine reicht nicht aus. Es gibt heterogene Gruppen, die jahrelang zusammen sind und in denen es dennoch kaum Annäherung gibt. Vielfalt muss aktiv erlebt werden. ErzieherInnen müssen ganz bewusst Aspekte von Vielfalt in die Aufmerksamkeit der Kinder bringen. Dazu kann gehören, was und wie jemand isst, wo die Großeltern leben, wie jemand mit Rollstuhl eine Treppe überwindet, womit man gerne spielt, wer welche Augenfarbe hat und wie viele Augenfarben es wohl gibt, wie man in unterschiedlichen Sprachen „Ei“ sagt. Kinder müssen tätige und sinnliche Erfahrungen mit Unterschieden machen: Gemeinsam mit Mouniras Mama Fladenbrot backen, sich mit einem Rollstuhl fortbewegen, sich die Haare frisieren wie Bens Bruder. Unterschiede müssen so thematisiert werden, dass sie Kinder kognitiv und sprachlich herausfordern, indem sie zum Vergleichen, Aufeinanderbeziehen, Differenzieren anregen. Gespräche darüber sollen in einer Sprache geschehen, die respektvoll, einfach, sachlich, nüchtern und direkt ist.
Das kritische Nachdenken über Vorurteile und Einseitigkeiten anregen
Das dritte Ziel, kritisches Nachdenken über Vorurteile, Einseitigkeiten und Diskriminierung anzuregen, erscheint pädagogischen Fachkräften spontan schwierig. Sie können aber darauf bauen, dass Kinder ab etwa 4 Jahren in der Lage sind, Bilder und Verhaltensweisen als „unfair“ oder „unwahr“ zu erkennen, die Menschen stereotypisieren oder diskriminieren. Von Erwachsenen brauchen sie Unterstützung in Form von Beistand und sachlicher Information, wenn sie selbst diskriminiert werden. Sie müssen ausdrücken können, was es ihnen ausmacht, wenn sie gehänselt oder ausgeschlossen werden. Sie müssen dafür Worte finden. Nur dann können sie auch unfaires Verhalten gegenüber anderen als solches benennen und zurückweisen. Von Erzieherinnen und LehrerInnen verlangt dies eine Gesprächsführung, die Kindern hilft, ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken. Eine Gesprächsführung, die nach Gemeinsamkeiten fragt, nach etwas, wozu alle Kinder etwas zu sagen haben.
Um bei Vorurteilen und Diskriminierung eingreifen zu können, müssen Erwachsene von deren Schädlichkeit und Unrechtmäßigkeit überzeugt sein. Die kritische Auseinandersetzung mit Einseitigkeiten und Vorurteilen fordert also zu einer Klärung des eigenen moralischen „Navigationssystems“ auf: Welche Werte sind mir aus welchen Gründen wichtig – und wodurch werden sie verletzt? Kritisches Denken lässt die Rechtfertigungen und Abwiegelungen erkennen, mit denen man die Folgen von Diskriminierung und Unrecht abschwächen möchte – um sich das Eingreifen zu ersparen. Kinder brauchen aber Erwachsene, deren Eintreten für Gerechtigkeit deutlich erkennbar ist. Sie müssen Kindern Schutz und Sicherheit zusichern.
Die Kommunikation in der Einrichtung und die Lernumgebung müssen immer wieder genau überprüft und untersucht werden: Ist das fair? Ist das gerecht? Entspricht das der Wahrheit oder ist es eine Verzerrung, um sich über Menschen lustig zu machen? Wie steht es um unsere Bücher? Finden hier alle Kinder Identifikationsangebote? Welche Erfahrungen und äußeren Merkmale tauchen auf, welche nicht?
Praxisbeispiel: Persona Dolls sind ganz besondere Puppen, denn sie haben wie Kinder eine Biographie, einen Namen, eine Familiengeschichte. Wie die Kinder auch sprechen sie zuhause Deutsch oder eine andere Sprache, sie haben helle oder dunkel Haut, gelocktes oder glattes Haar, sind blond oder dunkelhaarig... Sie kommen zu Besuch in die Kindergruppe und werden zu Freunden der Kinder. Sie berichten von ihren Erlebnissen, von schönen und auch von weniger schönen, wie Anna:
„Das ist Anna. Sie ist fünf Jahre alt. Sie lebt in Berlin mit ihrer Mama Tine. Annas Lieblingsfarbe ist rot. Deswegen hat sie sich rote Schuhe ausgesucht. Zum Geburtstag hat sie ein rotes Fahrrad bekommen. Damit fährt sie so gerne. Und schnell wie der Wind! Anna hat braune Augen. Und braune Haut. Genau wie ihr Papa, der hat auch braune Haut. Annas Mama sagt, die braune Haut hat sie von ihrem Papa bekommen und die kleinen Öhrchen, die hat sie von ihrer Mama bekommen. Und dann kitzelt sie Anna am Ohr und Anna muss lachen. Da ist etwas, was Anna überhaupt nicht mag: Wenn Leute sie fragen: Woher kommst du? Und dann auch noch ihre Haare anfassen wollen. Anna findet das nicht schön, weil die Leute das nur bei ihr machen und nicht bei den anderen Kindern. Sie will nicht, dass fremde Leute ihre Haare anfassen. Was könnte Anna ihnen denn sagen, wenn das wieder passiert? Habt ihr eine Idee?“
Das Aktivwerden gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung unterstützen
Das vierte Ziel fordert dazu auf, auch über die Wände des Gruppenraumes hinaus aktiv zu werden gegen Einseitigkeiten, Vorurteile und Diskriminierung. Kinder müssen die Erfahrung machen können, dass es sich lohnt, kritisch zu sein und konkrete Aktionen gegen Ungerechtigkeit zu unternehmen. Hier ist die Gefahr groß, dass Standpunkte und Ehrgeiz der Erwachsenen dominieren und man darüber das Ziel der Aktionen aus den Augen verliert: Die Stärkung der Kinder („empowerment“), indem sie sich als fähig und solidarisch mit anderen erleben, weil sie sich gemeinsam für eine gerechte Sache einsetzen.
Unfaire und ungerechte Vorfälle in der Kita sind Anlässe, aktiv zu werden. Das heißt in erster Linie, sie aus der Grauzone des Verschweigens ans Tageslicht zu bringen. Mit dem Öffentlichmachen zeigt man, dass man nicht einverstanden ist und etwas nicht hinnehmen will. Es steht der Neigung entgegen, Missstände eher abzuschwächen, zu rechtfertigen oder zu ignorieren und ist daher ein mutiger Schritt. Hat die ungerechte Handlung erst einmal einen Namen, so kann sie nicht mehr so leicht abgetan werden.
Kinder entwickeln ihr Verständnis von Fairness und Gerechtigkeit auch über Erlebnisse und Beobachtungen außerhalb der Kita. Ein Bettler auf der Straße, jemand der betrunken ist, die Frau im Rollstuhl – das provoziert viele Fragen der Kinder. Warum hat der kein Geld? Was, wenn der Betrunkene gar nicht merkt, dass da ein Auto kommt? Wie soll die Frau mit dem Rollstuhl U-Bahn fahren, die Treppe ist ja so hoch? Mit den Antworten und Informationen, die sie bekommen, erweitern sie ihre Wissensbasis. Sie setzen sich selbst in Beziehung dazu, stellen Vergleiche an, entdecken Widersprüche und entrüsten sich: Manche Leute haben zwei Häuser und der Obdachlose hat keins! In diesem Film gibt es nur Jungen, keine Mädchen! Saliha kommt nicht mit zum Rummel, weil ihre Eltern kein Geld haben. Die Jugendlichen auf dem Spielplatz lassen die Kleinen nicht spielen und ärgern sie.
Kinder entrüsten sich über konkrete Fälle von Ungerechtigkeit, die sie gut verstehen und wenn sie sich in die Beteiligten gut hineinversetzen können. Dann entsteht bei ihnen der Wunsch, etwas zu tun, um die Ungerechtigkeit zu beenden. Ihre Ideen sind ebenfalls konkrete, kleine, direkte Schritte, die aus Erwachsenensicht vielleicht nicht viel bewirken: Für den Bettler etwas Taschengeld einsammeln, die Frau im Rollstuhl schieben, damit sie sich ausruhen kann. Es ist wichtig, sie bei diesen Vorhaben zu unterstützen und nicht durch eine komplexere Weltsicht zu bremsen. Kinder stellen nicht die Systemfrage und sind nicht eingeschüchtert durch Zweifel oder Misserfolge. Sie wollen helfen und damit etwas gegen Unfairness tun.
Lernprozesse der Erwachsenen
Erwachsene, die sich für Gerechtigkeit engagieren und gegen Ungerechtigkeit wehren, sind für Kinder wichtige Rollenmodelle. Sie lernen mit ihnen Menschen kennen, die auch widerstehen, zu manchem „nein“ sagen und es nicht hinnehmen. Sie sind Vorbilder, die für Veränderung stehen und Kinder ermutigen, nicht alles hinzunehmen. Erleben Kinder in der Kita, dass ihre Erzieherin oder ihr Erzieher ungerechte und unfaire Handlungen anspricht, können sie lernen, dass man Hilflosigkeit und Ohnmacht überwinden kann. Dass es zum Impuls „Da kann man nichts machen!“ doch Alternativen gibt.
Dies sind wichtige Lernerfahrungen, um in gesellschaftlichen Verhältnissen handlungsfähig zu sein, die von sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung und Diskriminierung gekennzeichnet sind. In denen Menschen gefragt sind, die zivilgesellschaftliche Verantwortung übernehmen und Zivilcourage zeigen. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung zielt auf Bildungsprozesse in diesem Sinne, auch bei den Erwachsenen.
Um Kinder in ihren Identitäten zu bestärken, hilft ErzieherInnen ein Wissen darum, was Identitäten ausmacht und welche Bedeutung die Familie als soziale Bezugsgruppe hat, insbesondere für junge Kinder. Um Lernerfahrungen zu ermöglichen, in denen Kinder die Erfahrung machen „Es ist normal, dass wir verschieden sind“, hilft es ErzieherInnen, ihre eigene Vorstellungen von Normalität und ihre Erfahrungen im Umgang mit Unterschieden zu reflektieren. Kritisches Denken zu ermutigen ist gebunden daran, dass man es sich selbst erlaubt. Aktivwerden gegen Unrecht zu unterstützen braucht eine Klarheit darüber, was dabei Angst macht und wo man versucht ist, in Rechtfertigungen und Abschwächungen zurück zu fallen, um doch nicht aufzubegehren.
Erkenntnisse in diesen Bereichen fallen nicht vom Himmel. Es braucht Zeit für Reflexion zusammen mit anderen. In Teamfortbildungen haben ErzieherInnen die Möglichkeit, das eigene fachliche Handeln zu reflektieren und dabei sich selbst und die anderen im Team, die Eltern, die Kinder immer besser zu verstehen.
Reflexion: Unterschiede im persönlichen Erleben
Eine der persönlichen Reflexionen, die auf das eigene fachliche Handeln hin befragt werden können, gilt den Erfahrungen mit unterschiedlichen Menschen und wie ihre Identitätsmerkmale bewertet wurden. In einer Übung hierzu sammeln ErzieherInnen und KitaleiterInnen, welche Botschaften sie als Kind über Menschen erhalten haben. Manche erinnern sich sofort, anderen fallen Beispiele ein, nachdem andere ihre Botschaften benennen: „Zigeuner klauen“, „Ossis sind arm“, „Schwarze sind arm und brauchen unsere Hilfe“, „Katholiken sind die besseren Menschen“, „Behinderte sind unsichtbar“, „Frauen sind schlauer“, „Dicke sind haltlos“. Manche Botschaften wurden explizit so geäußert, andere wiederum entnahmen sie dem konkreten Tun: Dem Päckchen-Packen für die Verwandten in der „Ostzone“, deren Inhalte den Hinweis darauf gaben, was in der „Ostzone“ fehlte (Seife, Kaffee, Nutella, Feinstrumpfhosen…); dem dankbaren Nicken des dunkelhäutigen Plastikfigürchens in der Kirche, wenn man Geld hineinsteckte. Manche starken Botschaften vermittelten sich über die Abwesenheit von Menschen bzw. Gruppen von Menschen mit einem bestimmten Identitätsmerkmal: Menschen mit Behinderungen waren nicht sichtbar, man wusste von Extra-Heimen und wuchs damit auf, dass sie nicht ins öffentliche Bild gehörten.
Manche KollegInnen erhielten Botschaften von der Gleichwertigkeit oder Gleichwürdigkeit der Menschen, indem die Familie Kontakt pflegte zu unterschiedlichen Menschen oder wenn bei Ungleichbehandlung interveniert wurde.
Das Resümee der Übung:
- Wir lernen viel über andere auch ohne direkten Kontakt: „Man lernt Vorurteile aus dem Kontakt mit den vorherrschenden Einstellungen in einer Gesellschaft, nicht aus dem Kontakt mit Einzelnen“ (Louise Derman-Sparks 1989, 6).
- Die Auswirkungen der Botschaften sind unterschiedlich, je nachdem, welcher Gruppe man selbst angehört
- Sofern man der „normalen“ Gruppe angehört, gibt es keine Notwendigkeit, sich mit den anderen eingehend zu beschäftigen, hier liegen die „blinden Flecken“
- Sofern man der als „unnormal“ bezeichneten Gruppe angehört, muss man sich zu dieser Botschaft verhalten, als „unnormal“ oder „nicht richtig“ zu gelten. Wobei auch hier unterschiedliche Reaktionen möglich sind, von Rückzug bis Ambition, die Anderen vom Gegenteil zu überzeugen.
- Botschaften über Andere haben einen Einfluss auf unser Denken und Handeln bis heute.
- Sie determinieren zwar nicht unsere Positionen im Umgang mit Unterschiedlichkeit, aber wir nehmen Bezug auf sie, ob wir sie vertreten oder ob wir uns davon distanzieren.
- Immer sind neue Erfahrungen und Einsichten möglich! [5]
Verkürzungen und Missverständnisse
Der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung wird inzwischen häufig genannt und zuweilen unpräzise rezipiert. Die Reduzierung auf die Verwendung des Adjektivs „vorurteilsbewusst“ für unterschiedliche Zwecke bedeutet eine Verflachung des Ansatzes, insofern es eine vage Qualität andeutet, ohne auf die systematische Qualitätsentwicklung Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung Bezug zu nehmen. Damit wird der Eindruck erweckt, die vorurteilsbewusste, inklusive Qualität ließe sich über einen Vorsatz oder eine programmatische Aussage oder – besonders verbreitet – über eine Haltungsänderung herstellen, was nicht nur realitätsfern ist, sondern auch riskant, weil damit Inklusion und Bildungsgerechtigkeit zu einer Angelegenheit individueller Einstellungen gemacht werden, die angeblich nichts koste.
Langjährige Erfahrungen mit der Implementierung Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung in Kitas und Schulen lassen etwas gänzlich anderes schlussfolgern: Ein inklusives Praxiskonzept zu realisieren ist
- langwierig, weil sowohl das individuelle als auch das institutionelle Lernen rund um Inklusion/ Exklusion lange dauert und ohne Qualitätseinbußen nicht zu beschleunigen ist;
- kooperativ, denn zu Einsichten und Erkenntnissen kommt man nicht sich für sich alleine, sondern bedarf eines Teams als Lerngemeinschaft, das seine eigene Praxis kritisch beforscht;
- anspruchsvoll, weil es keine Rezepte gibt, sondern Ziele und Prinzipien systematisch auf den eigenen Kontext bezogen werden müssen;
- aufwändig, weil notwendigerweise mehrere Verantwortungsebenen einzubinden sind;
- mit Kosten verbunden, denn es verlangt neben inklusiver Strukturen im Bildungssystem eine kontinuierliche Investition in Fortbildung und fachliche Begleitung und damit in die Ermöglichung kontinuierlicher Selbst- und Praxisreflexion der pädagogischen Fachkräfte.
Agieren in einem Spannungsfeld um Worte und Werte
Die Auseinandersetzung um das N-Wort in Kinderbüchern im Frühjahr 2013 zeigt widersprüchliche Entwicklungen: Auf der einen Seite gibt es eine gewachsene Sensibilität für die „Macht der Worte“ und ihre Wirkung auf Kinder, auch deutliche Kritik an Rassismus und Diskriminierung, unterlegt von Antidiskriminierungsrichtlinien, die (teilweise erst) in den letzten Jahren verbindlich wurden [6], die Übernahme von Verantwortung für ein gedeihliches Aufwachsen von Kindern, allen Kindern.
Auf der anderen Seite gibt es das hartnäckige Beharren auf der Dominanzperspektive, die damit weiterhin absolut gesetzt wird, die Verweigerung von Perspektivenwechsel und Empathie, das Leugnen von Einseitigkeiten und deren Einflüssen auf das Selbstbild von Kindern und auf das Bild, das sie sich von anderen machen, die Abwehr von Verantwortung der Erwachsenen für günstige Lebens- und Lernverhältnisse von Kindern. Unterschiedliche moralische Grundorientierungen liegen zugrunde, die in konkreten Werteentscheidungen ihren Ausdruck finden.
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung spielt sich in ebendiesem Spannungsfeld ab. Dabei geht es auch um Worte und Werte [7]. Vor allem geht es um kontinuierliche und systematische Schritte der Qualitätsentwicklung in Bildungseinrichtungen mit Kurs auf Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Einige Kitas haben hierzu bereits Beachtliches vorzuweisen.
Literatur:
Dede Ayivi, Simone (2013): Rassismus in Kinderbüchern: Wörtern sind Waffen. In: Tagesspiegel am 18.1.2013. http://www.tagesspiegel.de/kultur/koloniale-altlasten-rassismus-in-kinderbuechern-woerter-sind-waffen/7654752.html (am 14.3.2013)
Derman-Sparks, Louise/Olsen Edwards, J. (2010): Anti-Bias Education for Young Children and Ourselves. Washington: NAEYC Books
Derman-Sparks, Louise and the A.B.C. Task Force (1989): Anti-Bias-Curriculum. Tools for Empowering Young Children. Washington: NAEYC
DUK Deutsche UNESCO Kommission (2009): Frühkindliche Bildung inklusiv gestalten: Chancengleichheit und Qualität sichern. Resolution der 69. Hauptversammlung. Hrsg. v. Dt. UNESCO Kommission. Brühl
Haruna, Hadija (2013): „Es sind auch meine Kinderbücher!“ taz 31.1.2013, http://www.taz.de/!110059/ (am 14.3.2013)
Kane, Ishema (2013): "Ich finde es total scheiße" – Leserbrief an DIE ZEIT. http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/564840 (am 14.3.2013)
Kolomba, Grada (2009): Das N-Wort. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Afrikanische Diaspora in Deutschland. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/afrikanische-diaspora/59448/das-n-wort (am 14.3.2013)
Sulzer, Annika/ Wagner, Petra (2011): Inklusion in der Frühpädagogik: Qualifikationsanforderungen an die Fachkräfte. Expertise für die WIFF im DJI, München. www.weiterbildungsinitiative.de
Topcu, Özlem (2013): Stellt euch nicht so an. Weiße dürfen nicht bestimmen, wann Schwarze sich gekränkt fühlen dürfen. (25.1.2013) http://www.zeit.de/2013/05/Kinderbuch-Debatte-Neger-Rassismus (am 14.3.2013)
Wagner, Petra/Hahn, Stefani/Ensslin, Ute (Hrsg.) (2006): Macker, Zicke, Trampeltier ... Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Handbuch für die Fortbildung. Weimar/Berlin: Verlag das netz
Wagner, Petra (Hrsg.) (2013): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder Verlag
Fussnoten
[1] „Das N-Wort“ wird in rassismuskritischen Texten verwendet, um auf die Verwendung des rassistischen Wortes „Neger“ zu verzichten, weil seine Wiederholung auch in kritischer Absicht die Herabsetzung reproduziert und dazu beiträgt, sie im öffentlichen Diskurs zu erhalten. Siehe auch: Kilomba 2009
[2] Eine EMNID-Umfrage im Auftrag der BILD AM SONNTAG zum Thema bestärkte diese Tendenz: 50% der Befragten waren dafür, diskriminierende Wörter aus Kinderbuchklassikern zu entfernen, 48% waren dagegen, mit deutlichen Unterschieden nach Bildungsstand: Während 85% der befragten „Volksschüler ohne Lehre“ für eine Anpassung der Texte waren, waren es nur 37% der Befragten mit Hochschulreife (http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-01/umfrage-neger-kinderbuecher)
[3] Wie Ishema Kane, die 9 Jahre alt ist und einen Leserbrief an DIE ZEIT geschrieben hat.
[4] im Erscheinen
[5] Weitere Übungen in Wagner/Hahn/Enßlin 2006
[6] Z.B. das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das 2006 eingeführt wurde, um „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“ http://www.gesetze-im-internet.de/agg/BJNR189710006.html
[7] Aus aktuellem Anlass widmet sich die diesjährige Tagung „Baustelle Inklusion“ der Fachstelle KINDERWELTEN für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung dem Thema Sprache und Ausgrenzung: Anmeldungen zur Tagung „Worte tun im Herzen weh…“ In Bildungseinrichtungen eine inklusive Sprache entwickeln am 14.6.2013 in Berlin über www.kinderwelten.net. Die Tagung wird dokumentiert und als Fortbildungsmaterial aufbereitet, das nach der Tagung als CDR bei der Fachstelle bezogen werden kann.
Die Autorin
Petra Wagner, geboren 1958, Diplompädagogin. Direktorin des Instituts für den Situationsansatz in der internationalen Akademie gGmbH an der Freien Universität Berlin. Gleichzeitig Leiterin der Fachstelle KINDERWELTEN für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung.
Ihre Meinung ist gefragt!
Diskutieren Sie über diesen Beitrag.
Kommentare (1)