Erzieherin liest mit Kindern

Interkulturelle Kinderbücher – Türöffner für neue Welten

Irene Pill

08.01.2018 | Fachbeitrag, Medienhinweis Kommentare (0)

Gute interkulturelle Kinderliteratur weckt die Freude am Entdecken kultureller Vielfalt und zeigt die Chancen interkulturellen Zusammenlebens auf. Sie öffnet Türen zu Kulturen, die einem (noch) fremd sind und plädiert für eine offene Begegnung mit Menschen aus anderen Lebenswelten.

Ein erfreulicher Trend macht sich auf dem Büchermarkt bemerkbar: Immer mehr interkulturelle Kinder- und Jugendbücher werden herausgebracht. Aber wenn man dann vor den zunehmend voller werdenden Regalen steht, kommen oft Fragen auf: Was überhaupt ist ein gutes interkulturelles Kinderbuch? Wie macht man Heranwachsende neugierig auf andere, zunächst vielleicht fremde Kulturen? Worauf kommt es an, damit Kinderbücher einen Beitrag zur respektvollen, bereichernden Begegnung mit Menschen aus verschiedenen Kulturen leisten? Und welche Kriterien sind unerlässlich, um die Publikationen zu bewerten?

Eines vorneweg: Literatur für junge Menschen zu empfehlen ist nicht anders als bei Erwachsenen. Lektürevorlieben und -tipps sind zuallererst einmal etwas sehr Persönliches: Dem einen gefällt es, dem anderen nicht. Da nützt auch der noch so zielgerichtete und gut gemeinte pädagogische Zeigefinger nichts. Ein Buch muss erst einmal Spaß machen, das Interesse wecken und mit ästhetisch-kreativer Bebilderung und hochwertiger Aufmachung locken.

Veröffentlichungen zu bewerten ist komplex und nicht immer kommt man zu einem ganz eindeutigen Ergebnis; Maximalanforderungen werden nur selten erfüllt. Auf ein paar Kriterien sollte man jedoch unbedingt achten, wenn man ein qualitätsvolles interkulturelles Kinderbuch kaufen möchte. Ganz besonders kommt es auf die wertschätzende Haltung an: Eine andere Lebenswelt sollte als gleichwertig gezeigt und nicht eine Kultur als überlegen beschrieben werden. Vor allen Dingen ist die Art und Weise bedeutsam, wie Konflikte gelöst werden: Wird Dialog oder gar Dominanz vorgestellt?

Wesentlich ist, dass die Dargestellten nicht auf ihre Herkunft reduziert werden und dass ihre Individualität mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Neigungen und Fähigkeiten nicht außer Acht gelassen wird. Das Anderssein sollte keinesfalls im Vordergrund stehen, vielmehr sind auch die Gemeinsamkeiten und das Dazugehören zu entdecken. So ist es diskussionswürdig, wenn Migranten und Geflüchtete immer ausschließlich als solche dargestellt werden und sie nicht in ihrer Einzigartigkeit geachtet werden. Der Einwurf „Man ist doch nicht von Beruf Flüchtling“, hat durchaus seine Berechtigung. Geradeso fragwürdig ist es, wenn „fremde“ Kinder und Jugendliche in den Geschichten zunächst einmal eine „Heldentat“ vollbringen müssen, um in einer Gruppe anerkannt zu werden.

Bücher beeinflussen, welches Bild sich ein Heranwachsender von anderen Menschen, von sich und der Welt macht. Treten ausschließlich Personen auf, die hellhäutig sind und deutsche Namen tragen? Werden Menschen bestimmte einseitige berufliche, soziale oder geschlechtsspezifische Rollen zugewiesen? Wo sind die Menschen mit Behinderung oder diejenigen, die keine Arbeit haben? Nicht nur das, was erzählt wird, auch das, was fehlt, ist relevant: Kinder ziehen ihre Schlüsse daraus.

Vorsichtig sollte man sein, wenn Druckwerke Stereotype oder gar Vorurteile präsentieren. Werden schablonenhaft vorgefertigte Bilder über andere und deren Verhaltensweisen transportiert? Kommt es womöglich zu ablehnenden, gar abwertenden Urteilen? Dazu gibt es leider auch bei ganz aktueller Literatur eine Menge Beispiele: „In Indien lernen die Kinder im Freien“ und „In Afrika gehen die meisten Kinder zu Fuß in die Schule“ – so heißt es doch tatsächlich in einem unlängst neu aufgelegten Kinderbuch eines renommierten bundesdeutschen Verlages. Überhaupt: Wenn von „Afrika“ als einem Land gesprochen wird, sollte man besser Abstand nehmen. Besonders problematisch wird es, wenn beispielsweise das Alltagsleben einer modernen Großstadt in einem afrikanischen Land beschrieben wird mit ‚museumsreifen Taxis, deren Türen beim Fahren rausfallen‘, in denen ‚bis zu zwölf Leute anstatt drei sitzen‘, ‚Hühner, Ziegen oder Hunde überall durch die Stadt und die Hütten rennen‘ und ‚man keine Telefone besitzt‘ – da sollte man es sich gut überlegen, ob man Kindern diesen Blick zumuten möchte. Es stünde zeitgemäßen Titeln gut an, reale, differenzierte Bilder afrikanischer Länder zu zeigen. Stattdessen werden allzu häufig moderne Aspekte ausgeblendet und lediglich Gemeinplätze wie Armut, Kinderreichtum, Savanne, wilde Tiere etc. wiedergegeben.

Immer noch werden Menschen mit dunklerer Hautfarbe als „woanders her“ beschrieben und oft können diese auch nicht so gut Deutsch. „Deutsch“ bedeutet meist ausschließlich „weiß“ und alles, was „nicht-weiß“ ist, wird als hilfsbedürftig, exotisch und als nicht wirklich dazugehörig dargestellt. Dass es muslimische oder Schwarze Deutsche gibt, die fehlerfrei Deutsch sprechen, wird ignoriert oder bestenfalls erstaunt zur Kenntnis genommen. Es wird sicher noch ein weiter Weg dahin sein, bis „nicht-weiße“, „nicht-christliche“ Kinder und Jugendliche selbstverständlich dazu gehörende und nicht erklärungsbedürftige Menschen sind – wie jeder andere Heranwachsende eben auch.

Bei den Altersempfehlungen der Verlage sollte man stets vorsichtig sein, ob die Angaben unter Umständen zu niedrig angesetzt sind. Und unnötig zu sagen: Eine mehrsprachige Publikation ist keineswegs automatisch eine interkulturell gute Publikation Aber ein gutes interkulturelles Kinderbuch, das mehrsprachig ist, kann zusätzliche Türen öffnen: Hält ein Kind Lektüre in Händen, die gleichzeitig seine Erst- und Zweitsprache aufweist, wird es sich sicherlich wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen. Zudem sind gute mehrsprachige Bücher ein idealer Anlass, sich mit Sprachen- und Schriftenvielfalt auseinanderzusetzen.

Während und nach dem Lesen ist es wichtig, mit Kindern ins Gespräch zu kommen. Gerade interkulturelle Literatur führt oft zu zahlreichen angeregten Fragen, auf die kulturadäquate Antworten gefunden werden sollten. Vielleicht besteht ja die Gelegenheit, die Familien von Kindergartenkindern mit einzubeziehen: Bücher sollten mit nach Hause genommen und dort mit Eltern und Geschwistern nochmals angeschaut werden können. Und wenn das eine oder andere Buch dann eventuell nicht mehr zurückkommt, hat es doch seinen guten Zweck erfüllt: Es scheint zu gefallen!

Berücksichtigt man all diese Aspekte, können Heranwachsende Freude am Lesen und Entdecken finden und das anfänglich andere, womöglich zunächst „Fremde“ kann sich in vertraute Vielfalt verwandeln. 

 

Kriterien zur Auswahl guter interkultureller Kinderliteratur

Selbstverständlich erfüllen Bücher jeweils nur einzelne Kriterien. Und stets sind die persönlichen Bedürfnisse, Kompetenzen und Lesevorlieben des Kindes zu berücksichtigen.

Offenheit

  • Sich interessieren, auf Menschen zugehen
  • Beziehungen aufbauen, sich einlassen auf einem Fremdes
  • Dialog und Austausch auf Augenhöhe

Würdigung kultureller Vielfalt

  • Wertschätzung und Respekt für Verschiedenheit
  • Anregung, den Horizont über das eigene Lebensumfeld hinaus zu erweitern, mit einem Blick in die Welt hinaus etwas über die Vielfalt von Lebensgewohnheiten zu erfahren und andere Lebenswirklichkeiten kennen zu lernen
  • Identifikationsmöglichkeiten bieten: authentische Einblicke in Lebensalltag gewähren, die tatsächliche bunte Vielfalt zeigen

Empathie, Einfühlungs- und Mitfühlungsvermögen

  • Sich in die Schuhe des anderen stellen
  • Einfühlungsvermögen auch für Menschen, die anders leben, anders aussehen oder andere Fähigkeiten bzw. Einschränkungen haben
  • Förderung von inklusivem Denken und Handeln
  • Stärkung, um mehr Menschlichkeit zu zeigen
  • Nicht-Akzeptieren von Ungerechtigkeiten und Ausgrenzung
  • Nicht-Akzeptieren von Abwertung und in die Ecke stellen, wenn Aussehen, Verhalten, Leistungen etc. scheinbar nicht genügen
  • Ermutigen zum Einschreiten bei unfairem und ausgrenzendem Handeln
Viele Wege führen nach Rom
  • Anerkennen der Eigenständigkeit anderer Kulturen mit anderen Weltsichten
  • Bereitschaft, nicht nur sich selbst, die eigene Vorgehens- und Lebensweise als Maß aller Dinge zu betrachten
  • Keine Bevormundung anderer, kein Verkünden von Rezeptwissen
  • Kein „hoppla-jetzt-komm-ich“
  • Kein „ich weiß schon, was Ihr braucht und für Euch gut ist“
  • Kein „ich weiß schon, wohin Ihr Euch entwickeln sollt“
  • Förderung von (selbst-)kritischem Denken

Kulturunterschiede und Kulturgemeinsamkeiten

  • Nicht die Herkunft als wichtigstes Unterscheidungskriterium nehmen
  • Kultur erklärt viel, aber bei weitem nicht alles; deshalb keine „Kulturifizierung“ vornehmen
  • Die spezifische Person, Situation und Kultur berücksichtigen: Jede Kultur besteht aus Individuen, die unterschiedliche Bedürfnisse, Neigungen und Fähigkeiten haben; jede Situation ist anders; es gibt viele Kulturen.
  • Nicht das Andere überbetonen (kein „othering“)
  • Wir-Gefühl, Gemeinsinn fördern: auch das Gemeinsame im Blick haben

Stereotype und Vorurteile

  • Keine schablonenhaft vorgefertigten Bilder von anderen und deren Rollen, Verhaltensweisen und (Nicht-)Fähigkeiten
  • Keine einseitigen, abwertenden, diskriminierenden Inhalte oder Illustrationen
  • Anregung, kritisch über Vorurteile und Diskriminierung nachzudenken
  • Mut machende Beispiele, sich gegen Diskriminierung zu wehren
Identität bewahren
  • Förderung der Identitätsentwicklung
  • Stärkung des Selbstwertgefühls
  • Eigene Persönlichkeit nicht aufgeben, aber Einstellungen hinterfragen

Weiterführende Informationen finden sich auf den Websites von:

Baobab Books
Bundeszentrale für politische Bildung
EeneMeeneKiste
Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung / Vorurteilsbewusste Kinderbücher
Heinrich Böll Stiftung
Verband Binationaler Familien und Partnerschaften

 

Die Autorin:

Dr. Irene Pill MA

hat den Masterstudiengang „Interkulturelle Kompetenzen“ an der Donau-Universität Krems absolviert und ist promovierte Historikerin. Sie verfügt über langjährige Erfahrung als interkulturelle Dozentin und Trainerin u. a. an der Fernfachhochschule Schweiz.
Im Rahmen ihrer universitären Tätigkeit beschäftigt sie sich seit Jahren intensiv mit interkultureller Kinderliteratur und hat für die Pill Mayer Stiftung das Projekt „Interkulturelle Bücherbox“ ins Leben gerufen.

www.irenepill.com

www.pillmayerstiftung.org 

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