mehrere Kinder

Kinder und Jugendliche: Zukunft mit Perspektive - mehr Handlungsspielraum für Kommunen

Hilde von Balluseck

18.04.2011 Kommentare (0)

Unter diesem Titel fand am 9./10. April der Kommunalkongress 2011 der Bertelsmann Stiftung in Berlin statt. Der folgende Bericht ergänzt die Ausführungen auf dem Kongress mit Hintergrundinformationen aus den Homepages des Deutschen Landkreis- und des Deutschen Städtetages.

Anlass für das Thema des Kongresses waren die finanziellen Belastungen der Kommunen durch Sozialausgaben, die ihre Handlungsspielräume –auch im Hinblick auf die frühkindliche Bildung und Betreuung - reduzieren. Es sind aber gerade die Investitionen in den ersten Lebensjahren, die den Kommunen später Kosten für SchulabbrecherInnen, für fehlende Integration in den Arbeitsmarkt und dadurch Komplettausfall der Lohnsteuer ersparen.

Die Kommunen, auf politischer Ebene vertreten durch den Landkreistag und den Städtetag (für die kreisfreien Städte), klagen seit langem über zusätzliche Aufgaben, die sie zu übernehmen haben, wofür aber keine zusätzlichen Gelder zur Verfügung gestellt werden. Die Frühpädagogik ist davon insofern betroffen, als Gelder, die für Pflichtaufgaben der Kommunen ausgegeben werden, für die Verbesserung der frühkindlichen Betreuung, Erziehung und Bildung oder für Förderunterricht in den Schulen nicht mehr zur Verfügung stehen. „Die kommunalen Sozialausgaben stiegen 2010 um voraussichtlich 4,8 Prozent. Im laufenden Jahr wird ein weiteres Plus von 2 Prozent erwartet – und eine Gesamthöhe von 43,1 Milliarden Euro...“ (www.Städtetag.de). Die Verteilung der Steuereinnahmen unter den Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Kommunen) entspricht in keiner Weise der gestiegenen Belastung der Kommunen. Von daher sind Änderungen dringend erforderlich. Diese Themen durchzogen alle Beiträge und Arbeitsgruppen des Kongresses. Anwesend waren über 500 TeilnehmerInnen aus Politik und Verwaltung, vom Bürgermeister über ParteienvertreterInnen bis zu StadträtInnen, Lehrkräften und TrägervertreterInnen. Die bunte Mischung der TeilnehmerInnen führte in den Foren und in den Pausen zu ergiebigen Gesprächen untereinander, in denen Erfahrungen ausgetauscht werden konnten. Hilfreich waren dabei auch die köstlichen Mahlzeiten.

Das Ziel der Bertelsmann Stiftung war es, mehr Aufmerksamkeit auf die Phasen kindlicher Entwicklung zu lenken, in denen Bildung und soziale Unterstützung die Folgen von Depravierung und Armut noch relativ leicht beeinflussen können, während im Jugend- oder Erwachsenenalter die Interventionen weitaus teuerer werden.

Die beiden fesselnden Vorträge von Nikolaus Schneider, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, und von Torsten Albig, Oberbürgermeister von Kiel, fokussierten auf die unterschiedlichen Aspekte dieser Problematik. Schneider sprach als Seelsorger, der sich um das Wohl unterprivilegierter Kinder und Familien sorgte. Er wies auf die dramatischen Folgen von Armut bei Kindern hin. Wissenschaftlich belegt ist ja nicht nur die triviale Tatsache, dass Kinder in Armut beim Konsum nicht mithalten können. Viel wichtiger ist die Erfahrung der Ohnmacht der Eltern und die eigene Machtlosigkeit, nicht zuletzt vermittelt durch weniger verbale Selbstdarstellungskompetenzen bis hin zur Sprachlosigkeit. Bildung kann hier helfen – wenn es denn genug Fördermöglichkeiten für die Kinder gibt, wenn die Personalschlüssel adäquat sind, und wenn ErzieherInnen und Lehrkräfte lernen, mit armen Familien wertschätzend umzugehen. Wichtig sei auch, so Schneider, dass Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen Schichten sich begegnen – sei es in der Kita, in der Schule oder in der Kinder- und Jugendarbeit. Dies ist nun allerdings, wie man aus den Segregationstendenzen von Großstädten weiß, ein frommer Wunsch.

Torsten Albig sprach aus der Sicht des Oberbürgermeisters einer Großstadt. Während Schneiders Vortrag durch seinen liebevollen Blick auf diejenigen bestach, die oft verachtet oder gar vergessen werden, skandalisierte Albig den Umgang mit Finanzen. Er schäme sich, dass wir Abermilliarden für die Bankenkrise ausgegeben hätten, aber dass seine Stadt mangels Geld in der Kasse keine zusätzlichen Sozialarbeiterstellen bewilligen könne. Sein flammendes Plädoyer gegen die Sachzwänge für die Kommunalpolitik beeindruckte. Er stellte die Frage: Wie sind die Städte im Staat verortet? Obwohl ein Großteil der BundesbürgerInnen in Städten lebe, sei dies nicht der erste Ort, über den in diesem Staat nachgedacht werde, sondern der letzte. Wir müssten solider werden, aber wo wir damit anfangen, das sind die Kinder, so Albigs Vorwurf. Am Beispiel des Rechtsanspruchs auf einen Krippenplatz machte er deutlich, wie absurd die Politik sich verhält. Der Rechtsanspruch gilt ab 2013, er soll aber nur für 35 Prozent der Kinder einlösbar sein. Schon heute ist absehbar, dass mehr Eltern als zunächst prognostiziert Interesse an einem Kita-Platz für Unter-Dreijährige haben. Wie soll die Kommune das (finanzielle) Problem lösen?

Daneben stellte Albig die Rechnung für die jungen Menschen auf, die keinen Hauptschulabschluss machen. Werden sie dauerhaft aus der kommunalen Kasse subventioniert entsteht eine Fördersumme von 100 Millionen € über 50 Jahre.Insofern wäre der Ausbau der Kitas langfristig weitaus billiger, denn nicht nur die Grundsicherung, auch Strafanstalten für junge Menschen mit krimineller Karriere kosten viel. Es sind die „Kosten versäumter Bildung“ (Albig). 

Daher brauchen die Kommunen mehr Macht, und sie müssen dagegen kämpfen, dass die Soziallasten bei ihnen landen und Betreuungsplätze kommunal finanziert werden. Sie Kommunen müssten über einen längeren Zeitraum planen, nicht im Rahmen von Legislaturperioden. Denn die sozialpolitischen Folgen einer verfehlten Bildungspolitik zeigten sich erst nach 20 Jahren. „Wenn wir Bildung ernst nehmen, dann braucht das Land mehr Stadt und weniger Staat“. Diese Äußerung weist auf das eingangs erwähnte Problem der Verteilung der Steuern unter Bund, Länder und Gemeinden hin.

In den Foren wurden methodisch vielfältig und lebendig spezifische Probleme erörtert. Die Ergebnisse waren wohl überall ähnlich: Es geht um mehr Prävention und weniger Nach-Tarocken hinter versäumter Bildungspolitik. In einer Podiumsdiskussion wurden dann Forderungen erhoben wie Erziehungspartnerschaft mit Eltern, Lernförderung an Schulen, Akzeptanz gegenüber den Unterprivilegierten und Wahrnehmung von Potentialen.

In unterschiedlicher Weise wurde das Bildungspaket für bedürftige Kinder auf dem Podium und in Pausengesprächen kritisiert. Die lineare Anweisung des Bildungspakets nimmt auf die Eigeninitiative der Kommunen keine Rücksicht, sie wird, so die Prognose diverser TeilnehmerInnen zu einem Chaos führen, weil nicht immer klar ist, wer wofür zuständig ist. Manche Podiumsdiskutanten und Vortragende wie auch manche TeilnehmerInnen waren der Meinung, das Bildungspaket würde besser vom Jugendamt verwaltet. Dem wurde entgegen gehalten, dass das Jugendamt für die Schule nicht zuständig sei. Und nicht alle Städte sind so genial wie Leipzig, wo Jugendamt und Schulverwaltung zusammengelegt wurden. Von daher erschien der Vorschlag, die Verwaltung des Bildungspakets den Kommunen – je nach ihrer Struktur – zu überlassen, als der sinnvollste.

Beanstandet wurde die Vielfalt von Projekten, die ins Leben gerufen und dann wieder zugunsten neuer Ansätze fallen gelassen werden. So z.B. wurden die Eltern-Kind-Häuser oder Familienzentren nach Amtsantritt der neuen Familienministerin in den Hintergrund gedrängt zugunsten von Mehrgenerationenhäusern. Es sei von uns aus hinzugefügt, dass die fehlende Kontinuität der Arbeitsverträge in Projekten ein weiterer Hemmschuh für positive Entwicklungen im Sozialbereich ist. Denn die Expertise, die die MitarbeiterInnen entwickeln, muss im nächsten Projekt wieder neu erarbeitet werden. Und eine langfristige Wirkung kann von einer kurzen Projektlaufzeit nicht erwartet werden. Eine langfristige Planung verlangt verlässliche Rahmenbedingungen, die durch die „Projekteritis“ (Jugendamtsleiter Siegfried Haller aus Leipzig) nicht zustande kommen.

Die Vorträge am Dienstag konnten die Qualität des ersten Tages leider nicht halten. Außerdem hielt die Bertelsmann Stiftung – nahm man die Vorträge des ersten Tages hinzu – eine einigermaßen paritätische Verteilung der Geschlechter bei den Vortragenden nicht ein. Zunächst referierte Jörg Dröger, Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung, über die Folgen unzureichender Bildung. Die Studie wurde am folgenden Tag ins Netz gestellt, an ihr hat auch Jutta Allmendinger mitgewirkt. Erstaunlich genug, dass darin der Geschlechteraspekt unter den Tisch fiel. Es sind ja in der Tat mehr Jungen als Mädchen, die keinen Schulabschluss machen, die psychische Auffälligkeiten aufweisen, die die Jugendgefängnisse bevölkern etc. Hier wäre eine Thematisierung der Gefährdung des männlichen Geschlechts durchaus angebracht gewesen. Dass eine renommierte Sozialforscherin, die bislang auch als geschlechterkritische Wissenschaftlerin von sich reden machte, dazu schweigt, kann nur verwundern.

Die Kausalitäten, die Jörg Dröger in seinem Vortrag herstellte, waren mehr als fragwürdig, ging er doch z.B. so weit, zu unterstellen, dass mehr Bildung weniger Morde bewirkt. Selbst wenn dies durch seine statistischen Verfahren eine gewisse Plausibilität beanspruchen könnte, so ist doch die gesamte gesellschaftliche Ungleichheit nicht primär ein Bildungs- sondern ein Machtproblem. Die Fragwürdigkeit der Zahlenexperimente nahmen auch TeilnehmerInnen wahr, mit denen ich während der Kaffeepause sprechen konnte.

Fachlich war der folgende Vortrag von Jürgen Borchert, Sozialrichter in Hessen, überzeugender. Er wies darauf hin, dass es eigentlich keine wirkliche Umverteilung an die Familien gibt. Dass in der Sozialpolitik die Familie nur als Konsumfaktor, nicht aber als Produzentin von Leistungen gesehen wird, ist in der Tat ein grundlegender Fehler. Leider war der Vortrag didaktisch misslungen, weil er zu viele Details, und diese auch noch in einer unprofessionellen power-point-Präsentation enthielt, so dass es schwierig war, ihm zu folgen. Mal abgesehen von seiner Hetze gegen die Kinderlosen (auch mit einem Kind fällt man bei ihm noch durch den Rost!), war Borchert im Recht, wenn er den erschreckenden Vergleich brachte, dass ein Schweinezüchter als Produzent gilt, eine Familie jedoch nur als Konsument. Schade, dass diese klugen Gedanken nicht besser sortiert und etwas weniger polemisch an die anwesenden Männer und Frauen gebracht wurden.

Leider brachte Rita Süßmuths Vortrag eher Allgemeinplätze als einen neuen Gedanken.

In der abschließenden Podiumsdiskussion wurden noch einige Forderungen laut, von denen nur einige hier aufgeführt werden sollen:

  • Aufhebung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik und eine stärkere Vereinheitlichung
  • Bundeseinheitliche Personalschlüssel in Kindertageseinrichtungen
  • Besetzung der Schulleiterstellen durch die Kommunen
  • Größere Autonomie der Schulen

Nicht benannt wurde der Wahnsinn von Vergleichsarbeiten in Schulen, wie sie zurzeit in Berlin geplant sind. Die Lehrkräfte an den Grundschulen haben dort protestiert, weil damit Schulen ein negatives Image erhalten, die von ihrem Einzugsgebiet her vor allem SchülerInnen aus unteren Schichten unterrichten.

Alle – RednerInnen wie TeilnehmerInnen - waren sich einig, dass eine Umverteilung der Finanzen zugunsten der Kommunen ansteht. Torsten Albig ging in seinem einführenden Vortrag darüber hinaus, indem er auch mehr Mut von den PolitikerInnen und Verwaltungen der Städte forderte, damit sie langfristig planen und finanzieren. Siegmar Gabriel sollte, wenn er schon eventuelle KanzlerkandidatInnen der SPD ins Spiel bringt, Herrn Albig nicht vergessen.

Teuer hergestellte Filmchen und der Auftritt einer Jugend-Band sollten das Programm auflockern. Das war allerdings gar nicht nötig, weil die Themen so spannend waren. Sinnvoller wäre eine stärkere Einbeziehung des Publikums nach den Vorträgen und in den Podiumsdiskussionen gewesen. Hier fehlten partizipative Elemente.

Ursula Weidenfeld führte geschickt und intelligent durch die Tagung, ohne ein böses Wort zu verlieren (was nicht immer einfach war). Insgesamt eine anregende, teilweise bewegende Tagung, die hoffentlich den kommunalen VertreterInnen Anregungen für ihre politischen Entscheidungen gibt und den Druck auf die Bundesregierung verstärkt, den föderalen Bildungswahnsinn zu beenden und die eingehenden Steuern anders zu verteilen.

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