mehrere Kinder

„Kinderarmut“ als Modethema

Christoph Butterwegge

17.11.2014 Kommentare (0)

Am 1. Januar 2015 wird das im Volksmund nur als „Hartz IV“ bekannte Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zehn Jahre alt. „Armut“, lange ein Tabuthema, das fast nur in der Vorweihnachtszeit auf die Agenda gesetzt wurde, ist durch Hartz IV fast zu einem Topthema deutscher Massenmedien geworden, das seither zahllose Talkshows beschäftigt. Dies dürfte nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein, dass Kleinkinder nunmehr die größten Armutsrisiken trugen, d.h. ausgerechnet jene Altersgruppe, deren Mitglieder unter sozialer Ausgrenzung manchmal ihr ganzes Leben lang leiden. Denn im Unterschied zu den Erwachsenen haben Kinder noch keine geeigneten Bewältigungsstrategien entwickelt und sind nicht in der Lage, ihre persönliche Situation im gesellschaftlichen Kontext zu reflektieren. Außerdem kann man sie weder für ihre missliche Lage selbst verantwortlich machen noch ihnen Leistungsmissbrauch vorwerfen. Da sie geradezu den Prototyp der „würdigen Armen“ bilden, wird auch (noch) kein „aktivierender Sozialstaat“ bemüht, um ihnen durch „Fördern und Fordern“ mehr Eigenverantwortung abzutrotzen.

Hartz IV erhöhte nicht bloß die Geldknappheit in zahlreichen Familien der Bundesrepublik, sondern zog auch einen Boom der Medienberichterstattung darüber nach sich. Während sich audiovisuelle Medien überwiegend auf situative Erfahrungs- und Stimmungsberichte konzentrierten, die rein deskriptiv zu vermitteln suchten, was Armut hierzulande bedeutet und welche Auswirkungen sie im Alltag von Hartz IV betroffener Familien hat, zeichneten viele Printmedien ein umfassenderes Bild. Vor allem die Lokalzeitungen, aber auch überregionale Tageszeitungen und wöchentlich erscheinende Nachrichtenmagazine veröffentlichen seit dem Inkrafttreten von Hartz IV immer häufiger Artikel über sozial benachteiligte Familien und das Leid ihres Nachwuchses. Viele der einfühlsamsten Beiträge über die Armut von Müttern und ihren Kindern haben übrigens Journalistinnen verfasst, die das Schicksal der Kleinen nicht kaltließ. Nur selten erschienen Beiträge aus der Betroffenenperspektive. So schilderte Undine Zimmer im Zeit-Magazin (v. 6.10.2011) unter dem Titel „Meine Hartz-IV-Familie“ mit bewegenden Worten, wie ihre Eltern sie trotz eines jahrzehntelangen Sozialhilfebezugs verantwortungs- und liebevoll erzogen haben, wobei sie gründlich mit verbreiteten Ressentiments aufräumte: „Hartz-IVler sind nicht in der Position, ihre Geschichten erzählen zu können, sie haben keine Lobby, und so bleibt der Begriff ‚Hartz IV‘ in Deutschland mit ein, zwei Klischeebildern assoziiert, die der Politik dabei helfen, diese Menschen weiter zu entrechten, und der Mittelklasse dabei, sich emotional von Leuten zu distanzieren, die ihnen vielleicht näher sind, als sie glauben.“

Den öffentlichen Diskurs über Kinderarmut durchziehen zwei Grundmuster, die jedoch selten „in Reinkultur“ vorkommen: Entweder wird am Einzelfall demonstriert, welche konkreten Auswirkungen die Armut beispielsweise auf Mehrkinderfamilien in „sozialen Brennpunkten“ hat, wodurch man mehr oder weniger erfolgreich Mitleid für die Betroffenen bei den Leser(inne)n weckt. Sich moralisch über die erschreckende Not und das wachsende Elend in einem reichen Land zu empören, hilft jedoch wenig, da (Kinder-)Armut konstitutiver Bestandteil des bestehenden Wirtschafts- bzw. Gesellschaftssystems ist und die Bundesregierung nichts dagegen tut, sie durch ihre Arbeitsmarktreformen und andere Maßnahmen sogar noch vermehrt. Oder die Medien-macher/innen ziehen (offizielle) Statistiken heran, um damit zu belegen, wie problematisch eine hohe Armutsquote unter Kindern für Deutschland bzw. für seinen „Wirtschaftsstandort“ ist und welche Nachteile das für die heimische Industrie hat. Doch was taugt der sicherlich gut gemeinte Appell an die nationale Verantwortungsgemeinschaft, wenn die überproportional von Armut betroffenen Halbwüchsigen eben (noch) keine „Leistungsträger/innen“ der Volkswirtschaft, sondern als „teure Kostgänger/innen“ eines „überbordenden Wohlfahrtsstaates“ diskriminierte Unterschichtangehörige sind?

Als das Bundessozialgericht den Kinderregelsatz nach Hartz IV am 27. Januar 2009 für verfassungswidrig hielt und die Angelegenheit dem höchsten deutschen Gericht in Karlsruhe zur Entscheidung vorlegte, war die Presse des Lobes voll. Dabei hatten die Kasseler Richter gar nicht geurteilt, dass der Satz zu niedrig, sondern nur, dass die Form seiner Ermittlung zu beanstanden sei, weil der Gleichheitsgrundsatz sowenig beachtet werde wie die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Zudem zog sich die Bundesregierung mit dem Hinweis aus der Affäre, dass sie im Rahmen des damals bereits auf dem Gesetzgebungsweg befindlichen „Konjunkturpaketes II“ eine dritte Alterskategorie für Kinder beim Sozialgeld eingeführt und den Regelsatz für die 6- bis 13-Jährigen von 60 auf 70 Prozent des Eckregelsatzes (eines alleinstehenden bzw. alleinerziehenden Erwachsenen) angehoben habe. Verschwiegen wurde, dass den jüngeren sowie den älteren Kindern und den Jugendlichen dadurch nicht geholfen, aber auch, dass die genannte Maßnahme auf zweieinhalb Jahre befristet war.

Erregte zunächst das jämmerliche Schicksal der armen Kinder die Gemüter, wandte sich die Aufmerksamkeit mit erheblicher Verspätung auch den armen Jugendlichen zu. Laut einer Studie des DGB, über welche die Tagespresse im Februar 2009 berichtete, gab es neben der immer noch hohen Jugendarbeitslosigkeit auch vermehrt Jugendarmut, was nicht überrascht: Wer einen Ausbildungsplatz hatte oder ein Praktikum machte, wurde oft so schlecht bezahlt, dass er unter die Armutsgrenze rutschte. In der Medienöffentlichkeit grassiert immer noch die absurde Idee, der Arbeitslosengeld-II-Bezug sei ein bevorzugtes „Ausbildungsziel“ junger Menschen. Beispielsweise ließ Bild am 14. August 2006 unter dem Titel „Immer mehr Kinder wollen statt eines Berufes die Unterstützung des Staates: Wenn ich groß bin, werd‘ ich auch Hartz IV … wie Mama und Papa“ eine 15-jährige Sabrina zu Wort kommen: „Ich weiß, dass es nicht einfach ist, eine Arbeit zu finden. Ich würde gerne Geld verdienen, wenn ich groß bin. Aber wenn ich später keinen Job kriege, kann ich mir auch gut vor-stellen, nur von Hartz IV zu leben. Da hat man ja auch alles und es geht einem gut.“ Aus diesem (authenti-schen?) Zitat spricht aber weniger eine schlechte Arbeitsmoral als purer Realitätssinn, verbunden mit einer großen Anpassungsbereitschaft und der Fähigkeit junger Menschen, sich über ihre miesen Berufsperspektiven durch Schönfärberei des tristen Lebens als Transferleistungsempfänger/innen hinwegzutrösten.

Mit noch größerer Verzögerung schlug sich auch die „(Re-)Seniorisierung“ der Armut, von welcher seit geraumer Zeit die Rede ist, im öffentlichen und Mediendiskurs nieder. Altersarmut wurde jedoch so gut wie nie mit den Arbeitsmarkt-, sondern fast ausschließlich mit den beiden Rentenreformen seit der Jahrtausendwende, die man Walter Riester und Bert Rürup zuschreibt, sowie mit dem demografischen Wandel als quasi natürlicher Erklärung für politökonomische Entwicklungsprozesse in Verbindung gebracht. In der Medienberichterstattung über Altersarmut zeichnet sich ab, dass die Senior(inn)en – jahrhundertelang ebenso „würdige Arme“ wie die Kinder – künftig zu „unwürdigen Armen“ erklärt werden könnten, denn wer als Erwerbstätiger nicht privat für das Alter vorsorgt, also „riestert“, eine Kapitallebensversicherung abschließt oder auf andere Weise spart, wird für seine materielle Situation im Ruhestand nach dem Motto „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ selbst verantwortlich gemacht. Hierin drückt sich eine Abkehr von Solidarität, sozialem Verantwortungsbe-wusstsein und Wohlfahrtsstaatlichkeit seit den Hartz-Reformen aus.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich ist sein Buch „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ (290 Seiten; 16,95 Euro) bei Beltz Juventa erschienen.

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