Kinderarmut in Deutschland: Immer noch und immer wieder ein Thema
Zum zweiten Mal nach 2012 hat die Nationale Armutskonferenz (nak) am 16. Oktober einen Schattenbericht zur Armut in Deutschland vorgelegt. Er trägt den Titel „Zehn Jahre Hartz IV – zehn verlorene Jahre“. Vor der Berliner Bundespressekonferenz betonte nak-Sprecher Dr. Frank Johannes Hensel, Armut sei „kein unglücklicher Zufall“. Er forderte mehr politische Entschiedenheit bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Deutschland. „Wir dürfen keine weiteren Jahre mehr verlieren!“
Denn inzwischen wachse jedes fünfte Kind in Deutschland in einer einkommensarmen Familie auf. Daran habe auch das von der Bundesregierung 2011 eingeführte Bildungs- und Teilhabepaket nichts ändern können. Hensel: „Die Notwendigkeit, nach 2012 erneut einen Schattenbericht veröffentlichen zu müssen, zeigt, dass Armut und soziale Ausgrenzung von der Politik als fast schon unabänderlich hingenommen werden.“
Der Schattenbericht, der als Sonderausgabe der Berliner Obdachlosenzeitung „Strassenfeger“ erscheint, lässt Betroffene zu Wort kommen, aber auch Armutsforscher und Personen, die im Umgang mit Armen erfahren sind, wie den neuen Berliner Erzbischof Dr. Heiner Koch.
Der Sprecher der nak warnte vor der Bundespressekonferenz zudem vor einem Anstieg der Altersarmut. „Bis zum Jahr 2030 wird – so politisch entschieden – das Rentenniveau auf 43 Prozent sinken. Die Folge wird sein, dass die Anzahl der Rentnerinnen und Rentner, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, deutlich steigt.“ Schon jetzt sei der Anstieg enorm: 2003, so Hensel, waren 250.000 Seniorinnen und Senioren auf Sozialleistungen angewiesen, mittlerweile sind es längst doppelt so viele.
Besonders hoch ist das Armutsrisiko bei Alleinerziehenden. Schon heute leben fast 40 Prozent aller Alleinerziehenden von Hartz IV – mit gravierenden Folgen für Kinder, so Prof. Dr. Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt: „Von den 1,89 Millionen Kindern und Jugendlichen im Hartz-IV-Bezug leben mehr als die Hälfte in Alleinerziehenden-Haushalten. Kinderarmut ist damit zur Hälfte auf die Armut von Alleinerziehenden zurückzuführen.“ Prof. Lenze kritisierte vor allem, dass die Kombination von Sozialleistungen, die helfen soll, ohne Hartz IV auszukommen, bei Alleinerziehenden ins Leere laufe. Sie forderte, den Unterhaltsvorschuss unbegrenzt zu gewähren und die besonderen Belastungen des Alleinerziehens gerade in prekären Einkommenslagen zu berücksichtigen.
Wie stark die Armut in Deutschland zunimmt, zeige sich auch an der Zahl der Wohnungslosen, sagte Werena Rosenke, Vize-Sprecherin der nak und stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. „2014 waren in Deutschland 335.000 Menschen ohne Wohnung, 18 Prozent mehr als 2012.“ Ursache sei auch der Verkauf von Sozialwohnungen an private Investoren. „Seit 2002 gibt es eine Million Sozialwohnungen weniger. Anstelle einer sozialen Wohnungspolitik wurde die Wohnung als Ware begriffen und dem Spiel des freien Marktes überlassen.“ Rosenke forderte eine drastische Erhöhung der Mittel für den Sozialen Wohnungsbau. „Wir brauchen jedes Jahr 150.000 neue Wohnungen für einkommensschwache Menschen.“
Der Schattenbericht ist zu finden unter http://nationalearmutskonferenz.de/data/Schattenbericht_2015_web.pdf
Dazu Birgit Merkel, stv. Vorsitzende des Zukunftsforum Familie e.V. (ZFF): „Das ZFF begrüßt, dass sich die nak klar für eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung für alle Kinder ausspricht. Denn ein Leben in Armut gefährdet Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe von Kindern. Menschen, die Familie leben und täglich Verantwortung übernehmen, für andere Sorge tragen und Zuwendung schenken trifft es oftmals besonders hart: Alleinerziehende, Familien mit mehr als zwei Kindern, aber auch Familien mit Migrationsgeschichte sind unter den Harz IV-Empfänger/-innen überproportional vertreten.
Familienarmut ist in erster Linie Einkommensarmut. Wiederholt hat das ZFF auch seine Kritik an der Ermittlung des Grundbedarfs von Kindern deutlich gemacht. Das Zukunftsforum Familie fordert, ein realitätsgerechtes einheitliches Kinderexistenzminimum zu definieren!
Die Politik muss die Kinder in den Mittelpunkt stellen. Das ZFF setzt sich seit 2009 in einem Bündnis aus Verbänden und Wissenschaftler/-innen für die Einführung einer Kindergrundsicherung ein. Nur so können die Widersprüche im gegenwärtigen Sozialsystem überwunden und die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen deutlich verbessert werden.“
Auch das Deutsche Kinderhilfswerk fordert die Bundesregierung auf, die Teilhabechancen von armen Kindern in Deutschland stärker in den Blick zu nehmen. Aus Sicht des Verbandes zeigen aktuelle Untersuchungen wie die Shell Jugendstudie eindringlich, dass die Anstrengungen zur Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland intensiviert werden müssen. „Die Bundesregierung widmet dem Thema Kinderarmut weiterhin nicht die nötige Aufmerksamkeit. Die positiven Änderungen beim Kinderzuschlag waren ein Silberstreif am Horizont, aber inzwischen herrscht bei der Bekämpfung der Kinderarmut wieder Dunkelheit. Weder die notwendige Einführung einer Kindergrundsicherung, noch Maßnahmen in der Gesundheits- oder Bildungspolitik zur Bekämpfung der Kinderarmut stehen anscheinend auf der bundesdeutschen Regierungsagenda“, sagt Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes.
Zur Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland hält das Deutsche Kinderhilfswerk die Einführung einer Kindergrundsicherung für einen wichtigen und notwendigen Schritt. Diese soll proportional zum Familieneinkommen gestaffelt werden. Erreicht werden kann dies durch einen sinnvollen Umbau des Kinderzuschlags, der allen Familien mit Kindern zugutekommen soll, für die nicht der Kinderfreibetrag im Einkommensteuerrecht greift. So wird sichergestellt, dass Familien mit weniger Einkommen stärker von der Kindergrundsicherung profitieren als Familien mit hohen Einkommen. Insgesamt würde durch eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung dem derzeitigen System familienunterstützender Leistungen zu mehr Ausgewogenheit verholfen.
Darüber hinaus sollte ein Nationaler Aktionsplan gegen Kinderarmut eine Vielzahl von Maßnahmen zu einem Gesamtkonzept bündeln. Neben der besseren direkten finanziellen Unterstützung von Kindern aus finanziell benachteiligen Verhältnissen gehören dazu beispielsweise die Stärkung der Kinder- und Jugendarbeit und Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung ebenso wie ein nach oben durchlässigeres Schulsystem, dass alle Kinder und Jugendlichen individuell und entsprechend ihrer Fähigkeiten optimal fördert.
Die AGJ hat zur Kinderarmut eine Stellungnahme verfasst, in der sie ähnliche Forderungen erhebt. Der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) hat das Diskussionspapier am 17./18. September in Berlin verabschiedet. Es ist zu finden unter https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Diskussionpapier_Kinderarmut.pdf