Komm mit ins Zahlenland - Beliebt und gerne missverstanden
Wie es dazu kam
„Komm mit ins Zahlenland“ lautete im Jahre 2003 – also vor 15 Jahren - unsere elementarpädagogische Antwort auf die ernüchternden Ergebnisse der allerersten PISA-Erhebung. (Friedrich, Galgóczy u. Schindelhauer, 2011)[1] Diese Ergebnisse wurden am 04.12.2001 der Öffentlichkeit vorgestellt und erschütterten die deutsche Bildungslandschaft einem Erdbeben gleich. Kurioserweise entfaltenden sie auch eine Wirkung, die sofort Folgen auch auf die Frühpädagogik hatte. Kurios waren diese Auswirkungen deshalb, weil die PISA-Studie damals nicht etwa den Kindergärten oder den Grundschulen Defizite attestierte, sondern der Sekundarstufe I, also der Schulstufe, die mit der 5. Klasse beginnt. Die festgestellten Bildungsmängel ließen sich deshalb methodisch weder aus dem Primarbereich noch aus dem Elementarbereich ableiten. Schließlich wurden Schülern der Klassenstufe 9 schlechte Ergebnisse bescheinigt.
Wie dem auch sei, jedenfalls wurde als positiv zu bewertende Wirkung eine Intensivierung der Bildungsdebatte der frühen Kindheit gestartet und innerhalb dieser zunächst eine „Mathematikdefizitmisere“ diagnostiziert, welche mangels Konzepten und konkreten Professionalisierungsmöglichkeiten nicht sofort geschlossen werden konnte. In der Zeit „vor PISA“ nämlich war das Thema einer frühen mathematischen Bildung in Deutschland verbarrikadiert. Nicht zuletzt galt das Scheitern eines solchen Unterfangens auch schon als bewiesen, schließlich gab es in den 1960er bereits Jahren schon einen solchen Versuch: Fachwissenschaftler der Mathematik konzipierten in Folge des sogenannten Sputnik-Schocks[2] damals die sogenannte Mengenlehre und versuchten sie in den Grundschulen und auch ansatzweise in den Kindergärten zu etablieren. Dieser Versuch scheiterte bekanntlich, zu abstrakt waren die mathematischen Inhalte.
In diese „didaktische Lücke“ stieß nun 2003 unsere Veröffentlichung „Komm mit ins Zahlenland“. Als Buch avancierte es innerhalb kurzer Zeit zu einem Bestseller und die dem Buch zugrundliegende Konzeption verbreitete sich als Frühförderkonzept in Windeseile.
Die Grundideen
Uns Autoren war es damals (und ist es uns auch heute) wichtig, pädagogischen Fachkräften und Eltern ein didaktisches Instrumentarium in Form eines Ideenpools an die Hand zu geben, welches mehrdimensional bzw. interdisziplinär angelegt ist.
Das Adjektiv didaktisch verwende ich in diesem Kontext ganz bewusst in Abgrenzung zu lerntherapeutischen Trainingsprogrammen, die in aller Regel zunächst Defizite diagnostizieren, um diese dann mittels präzise vorgeschriebener Übungspläne zu beheben. Uns ging und geht es vielmehr darum, die spielpädagogische und mathematikdidaktische Handlungskompetenz der Fachkräfte so zu erweitern, dass diese mathematische Inhalte eigenverantwortlich in ihren Alltag gewinnbringend einbauen können.
Solch ein Konzept impliziert nahezu zwingend eine Mehrdimensionalität. Dies bedeutet hier einerseits die Kinder so anzusprechen, dass die mathematischen Angebote ihrer kognitiven Entwicklung, ihrer geistigen Haltung bzw. ihrem Weltbild entsprechen und andererseits dabei so vorzugehen, dass dabei zentrale mathematische bzw. mengen- und zahlenbezogenen Inhalte korrekt wiederzufinden sind.
Das Konzept fußt also sowohl auf allgemeinen entwicklungspsychologischen bzw. spielepädagogischen als auch auf fachdidaktischen Überlegungen. Letztlich spielen noch Überlegungen aus der zur damaligen Zeit vieldiskutierten „Neurodidaktik“ eine Rolle.
Im Folgenden möchte ich diese drei Bereiche anhand kleiner Beispiele explizieren und auf mögliche Missverständnisse jeweils in den Fußnoten eingehen.
Das Zahlenland im Kontext der kognitiven Entwicklung
Der Begriff des Zahlenlandes legt nahe, dass unsere Grundzahlen als beseelte Wesen in einem Phantasieland leben. Anders lässt sich der Begriff kaum interpretieren. Die Idee dazu hatten jedoch nicht wir, sondern ein Bilderbuchautor namens Hans Zoozmann, der sie in seinem Bilderbuch „Der Nullrich – Eine Reise ins Zahlenland“ konsequent verfolgte.
Mit großer Wahrscheinlichkeit kannte er Rolf Oerter nicht. Dennoch hat er, vermutlich ohne jeden wissenschaftlichen Hintergrund einen sehr zentralen Punkt bezüglich der kindlichen Wahrnehmung intuitiv so umgesetzt, wie sie Oerter beschreibt: „Die Beseelung der Umwelt und ihr dynamisierter Charakter sind das Produkt einer wichtigen kognitiven Leistung des Kindes …. Diese Art der Weltanschauung kann durch zwei Begriffe gekennzeichnet werden: durch das physiognomische Sehen und durch die Personifizierung.“ Und weiter: „Diese Physiognomie der Dinge … wird im Laufe der Entwicklung durch die sachliche Dingerkenntnis ergänzt.“ (Oerter, 1970, S. 304 ff.).
Auf diesem Bild - es stammt aus dem genannten Buch und es ist gut siebzig Jahre alt - erschrickt die Hauptfigur Nullrich angesichts einer Eule. Unschwer erkennen wir beide gerade zitierten Aspekte wieder: Die Null tritt als Person (eben als Nullrich) in Erscheinung und die Ziffernbilder der Eins und der Drei werden in die Gesichter des Jägers und der Eule „hineingesehen.“
Diese Aufnahme, sie ist 70 Jahre jünger und wurde vor erst vor wenigen Monaten gemacht, zeigt zwei Mädchen in einem Zahlenlandprojekt, die mit einer personalisierten Acht und einer ebenso personalisierten Zwei spielen.
Alle Kinder dieser Welt lieben Geschichten und Phantasiespiele (siehe Ausblick), sowohl früher als auch heute und wir müssen weder Pädagogik noch Psychologie studiert haben um begründet zu spekulieren, dass dem auch weiterhin so sein wird. Ob man dies nun als Fachwissenschaftler will oder nicht, solch animistisches Denken, den unbelebten Dingen Leben zu attribuieren, stellt keine geistige Behinderung dar, sondern ist vielmehr unabdingbarer Teil einer gesunden psychischen Entwicklung.
Spielen ist ein Lebenselixier unserer Kinder und alleine schon deshalb nicht in der Lage, den Aufbau zielführender mathematischer Kompetenzen zu behindern, auch wenn sie mit solchen typisch kindlichen Spielelementen verbunden werden.
Wichtig ist es hier zu betonen, dass dieses Moment des Geschichtenerzählens und -nachspielens als Methode jedoch keinesfalls ausreicht, Kinder mathematisch umfassend zu fördern, auch wenn dies gelegentlich als so intendiert unterstellt wird.[3] Auch wenn Spielen und Lernen zwei Seiten der gleichen Medaille darstellen, so bedarf es dazu zwingender Weise der oben erwähnten zweiten Dimension unseres Konzeptes, nämlich der Integration fachdidaktischer Inhalte. Auf diese Notwendigkeit, fachdidaktischer Inhalte im Rahmen der Elementarpädagogik zu integrieren wurde stets dezidiert hingewiesen (Friedrich, G. 2005).
Das Zahlenland im Kontext fachdidaktischer Inhalte
Welcher Art sollte nun die grundlegenden mathematischen Einsichten, das mathematische Wissen sein, das Kinder idealerweise vor Schuleintritt in der Kita lernen sollen? Glücklicherweise hat hier die Fachdidaktik in den letzten Jahren einen relativ klar umrissenen Kanon an fachlichen Inhalten isoliert, der wichtig erscheint, einen guten Schulstart vorzubereiten. Hier geht es z.B. um die Kenntnis und den Zusammenhang verschiedener Zahlaspekte (z.B. Ordnungs- und Anzahlaspekt oder Operatoraspekt), Zahlzerlegungen, simultane Zahlerfassung oder um das Erkennen von Mustern, geometrischen Formen, Reihenfolgen, Klassifikationen oder Sortierungen und noch einiges mehr.
In den nunmehr über 15 Jahren praktischer Erfahrungen in Zahlenlandprojekten wurde eine Ideensammlung kreiert und vorgestellt, die es ermöglicht, diese zentralen Gesichtspunkte abzudecken (z.B. Friedrich, 2017). Sie stammt teilweise originär aus dem Projekt selbst, teilweise aber auch aus guter fachdidaktischer Tradition. Denn es ist eine besondere Stärke unseres spielpädagogischen Ansatzes, dass er als offenes didaktisches Rahmenkonzept darauf angelegt ist, weitere Inhalte flexibel zu integrieren.[4]
Im Rahmen dieses Artikels kann eine Bildauswahl typischer Zahlenlandszenen dies exemplarisch andeuten.
Ein Kind verziert den sogenannten Zahlenweg von 1 bis 10. Auf der Fliese mit der Zahl 1 geht es darum genau einen Gegenstand – eine Murmel, einen Tannenzapfen etc. – bei dem Blatt mit der Zahl 2 dann zwei Gegenstände, abzulegen. Bei diesem einfachen Spiel erlernen die Kinder den Zusammenhang von Zahlen, die Mengen benennen, und die, die eine Reihenfolge beschreiben.
Bewegung als Stützfunktion des Lernens: Gerade und ungerade Zahlen werden auf dem Zahlenweg Schritt für Schritt erkundet. Auch die Rechenoperationen des Addierens und Subtrahierens lassen sich auf dem Zahlenweg bewegungsunterstützt üben und - so eine neurodidaktische Spekulation (siehe nächster Punkt) – in einer erweiterten kognitiven Landkarte vernetzen.
Diese Bild zeigt ein weiteres Element unseres Konzeptes: Die Zahlengärten, hier der 6er-Garten. Unschwer ist zu erkennen, wie vielfältig und mathematisch kreativ auch im Sinne der oben erwähnten Fachinhalte solch eine Verzierung ausfallen kann, z.B. mittels geometrische Formen, die auch die simultane Zahlerfassung, die Zahlzerlegung, 1:1 Zuordnungen und Muster mit umfassen.
Auf diesem Bild kehren wir wieder zum Ausgang zurück: Kinder spielen im Freispiel im Zahlenland. Der „Mächtigkeit der Fünf“ wir hier dadurch Rechnung getragen, dass die Zahlenhäuser ab der Fünf aufwärts stets als Addition konstruiert werden: 6= 5+1, 7=5+2, 8= 5+3 usw.
Das Zahlenland im Kontext einer „Neurodidaktik“
In etwa zur gleichen Zeit, in der die eingangs beschriebene PISA-Studie für Furore sorgte, tauchte in der Wissenschaftslandschaft ein neuer Begriff auf, der zu Recht bis heute kontrovers diskutiert wird: Die Neurodidaktik. Die Zielsetzung einer solchen Disziplin ließe sich als Versuch einer Brückenbildung zwischen relevanten Ergebnissen aus der Hirnforschung und der Pädagogik umschreiben.
Nun dürfen wir die Erwartungen an die wissenschaftliche Präzision einer solchen Disziplin gewiss nicht überstrapazieren, dennoch gibt es gewisse „neurodidaktische Plausibilitäten“, die unserem Konzept zugrunde liegen. (Friedrich, G., 2006)
Erwähnen möchte ich an dieser Stelle lediglich die gezielte Ansprache der Kinder über das episodische Gedächtnis. Dieser Gedächtnisspeicher wird durch konkrete Situationen und besondere Erlebnisse bzw. Ereignisse geprägt (bei uns: Zahlengeschichten, Lieder, Bewegungsspiele), die einen Neuigkeitswert besitzen und uns deshalb bedeutsam erscheinen. Solche Ereignisse können nun nicht nur besonders gut erinnert werden, sondern ebenso der Ort, an denen sie stattgefunden haben. Dieser Tatsache wird in unserem Konzept dadurch Rechnung getragen, in dem jede Zahl einem festen Raum im Ort erhält und dies im Sinne der denkbar konkretesten Interpretation des Begriffs des Zahlenraumes (Friedrich, G., 2006, S.280ff).
Objektivität und Ausblick
Ohne Zweifel bewegt sich die zuletzt aufgeführte „Disziplin“ im Bereich der nicht bewiesenen Hypothesen, auch wenn diese darin formulierten Annahmen Plausibilitäten aufweisen. Keine Spekulation sind indessen empirische Befunde.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das Konzept zweimal mit sehr guten Resultaten evaluiert worden ist (Friedrich u. Munz, 2006 und Pauen u. Herber, 2009).
Handelt es sich bei der erst genannten Untersuchung um eine isolierte Evidenzprüfung[5], so vergleichen Pauen und Herber in einem 5-jährigen Projekt verschiedene Förderkonzepte und kommen dabei in ihrer Studie ebenso zu einer positiven Beurteilung unseres Konzeptes.
In den zurückliegenden Jahren hat sich das Zahlenlandkonzept zu einem festen Bestandteil der täglichen Arbeit in vielen Einrichtungen fest etabliert. Und dies nicht nur in Deutschland. In China, Brasilien, Polen, Amerika, Israel, Tschechien, Estland und vielen weiteren Ländern besuchen Kinder mit unserem Konzept „lebendige“ Zahlen.[6]
Vielleicht ist es deshalb ja auch nur ein typisch deutsches Phänomen, dass Fachwissenschaftler befürchten ihre Deutungshoheit zu verlieren, wenn Kindern keine tradierten, sondern eben auch neue, lustige Wege zur Welt der Zahlen und der Mathematik eröffnet werden.
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[1] Bei den PISA-Studien handelt es sich um internationale Vergleichsuntersuchungen in Bezug auf schulische Leistungen. Sie werden zwischenzeitlich alle drei Jahre durchgeführt.
[2] Am 04.10.1957 wurde der erste künstliche Satellit, er hieß Sputnik 1, von der damaligen Sowjetunion in die Umlaufbahn der Erde geschickt. In Zeiten des Kalten Krieges wurde dadurch „schockartig“ der technologische Überlegenheitsanspruch des Westens in Frage gestellt. Die Folge davon waren bildungspolitische Veränderungen, vor allem im naturwissenschaftlichen und mathematischen Bereich, zunächst in den USA, welche, zeitlich etwas verzögert, auch bei uns in Deutschland angestrebt wurden.
[3] So geht beispielweise Lederer in seinem Artikel “Unsinn im Zahlenland” hart aber letztlich eben ohne vollständige Kenntnis des Konzeptes mit den Zahlenlandgeschichten ins Gericht. Minutiös betrachtet er die Geschichten aus der Perspektive eines mathematisch gebildeten Erwachsenen und moniert dabei Vieles, z.B. auch die Geschichte, in der die personifizierte Zwei „alles alles zweimal zweimal sagt sagt“. Er fragt ironisch aber letztlich eben ohne Verständnis für kindlichen Humor, wie dieses Prozedere dann bei der Drei aussehen mag. Seine Behauptung „Angenommen wird, dass die Kinder die mathematischen Informationen nebenbei (mit dem Vorlesen der Geschichten, G.F.) mitlernen“ ist nun aber völlig absurd. (Leder, 2015, S. 6) Genau dies wird nämlich nicht angenommen. Seine weitere Kritik baut ausschließlich auf diesem Missverständnis, dieser Verkürzung auf und zielt deshalb ins Leere.
[4] Vor diesem stets betonten Hintergrund und angesichts der fachlichen Bandbreite ist irritierend, wenn einzelne Marginalien aus dem Konzept herausgepickt werden, um daran dann scheinbare Schwachstellen des Gesamtkonzeptes verdeutlichen zu wollen. So auch Krajewski und Klotz, wenn sie beispielsweise monieren, dass die Puppe der Eins eine Zipfelmütze, die der Zwei eine Brille mit zwei Gläsern trägt: „So ist es für Kinder nicht nachvollziehbar (oder sichtbar), warum eine Zipfelmütze weniger sein sollte als eine Brille, obwohl die Zipfelmütze deutlich größer ist.“ (Krajewski u. Klotz, 2017, S. 270) Das Strickmuster solcher Kritik vollzieht sich stets in Form eines Kategorienfehlers, indem einzelne Elemente der spielpädagogischen Ebene aus dem Kontext isoliert benutzt werden, um vermeintlich Schwachstellen auf der zweiten, der fachdidaktischen Ebene zu formulieren.
[5] Frei nach Christian Morgenstern, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, wird bezüglich der Studie von Friedrich und Munz unterstellt, dass die Wirksamkeitsprüfung vermutlich nicht neutral verlief und die positiven Ergebnisse deshalb auf dem sogenannten „Testleitererwartungseffekt“ basieren könnten. Ohne jedwede Basis wird einfach mal so behauptet, die Vor- und Nachtests seien von den Erzieherinnen durchgeführt worden, die die Kinder selbst gefördert hätten (Krajewski u. Klotz, 2017, S. 270). Die war jedoch nicht der Fall.
[6] Ein Beispiel an dieser Stelle: In England z.B. „schaffte“ es das Konzept auf die Titelseite einer renommierten Fachzeitschrift. https://www.ifvl.de/wp-content/uploads/2019/11/PrimaryMaths2015_NumberlandArticle.pdf