Lernen in Neuseeland, Teil 2
Aus: Betrifft Kinder, Heft 10/09
Vertrauen in die Fähigkeiten der Lernenden
Die Fortbildnerin Sibylle Haas lebte drei Monate lang in Neuseeland, hatte viele Kontakte mit Kolleginnen dort, besuchte zehn Kindergärten, drei Schulen und lernte einen Teil des neuseeländischen Bildungssystems kennen. In einer Beitragsserie, die in Heft 8-9/09 begann, berichtet sie über ihre Erlebnisse, richtet den Blick sozusagen vom anderen Ende der Welt auf die hiesige Bildungslandschaft und möchte neue Perspektiven eröffnen.
Im Garten balancieren Kinder mit großen Schubkarren barfuss über schräge Holzbretter. Bäume und ein Baumhaus laden zum Klettern ein. Ein künstlicher Bachlauf mit runden Steinen lockt die Jüngsten und verspricht besondere Erfahrungen beim Krabbeln. Eine Werkbank mit einer Kiste voller Holzreste und Werkzeug erfreut sich großer Beliebtheit bei den älteren Kindern. Unter einer ausklappbaren Kletterwand liegen Plastik-Matratzen, damit im Falle eines Falles...
Die Welt ist voller Abenteuer und will erobert werden. Sie ist keine von Gefahren bereinigte Spiellandschaft, in der man sich nie wehtun darf, sondern Lern- und Übungsfeld, denn Sicherheit und Selbstbewusstsein wachsen durch Herausforderungen.
Manchmal kam es mir so vor, als ob man in diesem fernen Land im pazifischen Ozean, das erst Ende des 19. Jahrhunderts von Europäern besiedelt wurde, die lange brauchten, ehe sie es sich in der unberührten Natur gemütlich machen konnten, anders mit Gefahren und Risiken umgeht als bei uns. Natürlich fallen auch in Neuseeland Kinder hin, holen sich Schrammen, tun sich weh, weinen und werden getröstet. Der Trost wird meist mit einer kurzen Erklärung verbunden: „Das kommt schon mal vor, probier es weiter, du schaffst das..." Also nicht: „Pass auf, sonst tust du dir weh. Lass das sein, denn dafür bist du noch zu klein."
Zu pauschal und zu vereinfacht? Mag sein. Aber lassen wir uns doch mal auf ein inneres Forschungsvorhaben ein: Wie oft greifen wir ein, wenn ein Kind „gefährliche" Erfahrungen machen möchte? Und wie gefährlich sind diese Erfahrungen wirklich? Wie reagieren wir, wenn ein Kind sich wehtut? Ermuntern wir es zu neuen Erfahrungen? Oder unterstützen wir, bewusst oder unbewusst, den resignierten Rückzug?
Heißklebepistolen - eine Herausforderung
In einigen Kindergärten sah ich Kinder, die begeistert mit Heißklebepistolen arbeiteten: Sie montierten Holzstücke und Materialcollagen, ließen die Klebefäden in eine Wasserschale gleiten und formten daraus wundersame Gebilde, mit Glitzer und farbigen Plastikteilen verziert. Auf meine Frage, ob das für die Kinder nicht gefährlich sei, ob sie sich nicht verletzen könnten, bekam ich die schlichte Antwort: „Es kommt schon mal vor, dass die Kinder sich wehtun. Aber das passiert selten und ist schnell wieder vergessen. Sie müssen doch lernen, mit Werkzeug umzugehen..."
In einem Lern-Geschichtenbuch las ich: „Es ist nicht neu für dich, Paula, etwas zu bauen. Du bist viel selbstständiger und schöpferischer geworden. Wundervolle Werke mit der Klebepistole, schöne Edelsteine und Bilder sind für dich eine Möglichkeit, deine Ideen auszudrücken. Ich habe gemerkt, wie du die Herausforderung, die Klebepistole zu benutzen, gemeistert hast. Du probierst immer weitere Wege aus... Wir werden dich beim Forschen begleiten und dich ermutigen, an neuen Projekten teilzunehmen. Da du selbstständiger geworden bist, fragen wir uns, was du noch tun kannst...
Liebe Eltern, hat Paula ein besonderes Interesse zu Hause? Wir würden es gern mit ihr teilen."
In der Grundschule
In der Discovery 1School in Christchurch, einer Grundschule, die sich dem entdeckenden Lernen besonders konsequent widmet, wird den Schülern zugetraut, ihre eigenen Fragen und Themen zu bearbeiten. Eine Gruppe von Neun- bis Elfjährigen - hier gibt es nur homegroups, also Lerngruppen, die drei Altersjahrgänge umfassen - stellte sich die Aufgabe, herauszufinden, warum Rauchen verboten wird. Die Kinder bereiteten dazu ein Interview mit einem Arzt vor, beschäftigten sich in diesem Zusammenhang mit Rechtschreibregeln, recherchierten im Internet und überlegten, wie sie ihren Bericht gestalten könnten.
Eine andere Gruppe setzte sich mit der Frage auseinander: Wenn es schon Hühnerfarmen gibt, wie könnten sie möglichst artgerecht eingerichtet werden? Die Lehrerin verfolgte die Prozesse im Hintergrund und unterstützte bei Bedarf.
Mit den Erwachsenen beginnen
Zurück zu den Jüngsten: Was machen wir mit unseren Ängsten, die Kinder könnten sich verletzen? Was kann getan werden, um Eltern aufzuklären und zu beruhigen? Wie können wir ihnen vermitteln, dass wir Kindern Herausforderungen zumuten und ihrer zunehmenden Geschicklichkeit vertrauen? Haben wir wirklich Vertrauen?
Vertrauen fällt nicht vom Himmel. Es muss wachsen, aber es kann nur wachsen, wenn wir uns, den Kindern und Eltern dazu die Möglichkeit, die Zeit, den Raum und das Zutrauen schenken. Die Kolleginnen aus Neuseeland rieten mir: „Lass die Erzieherinnen mit den scheinbar so gefährlichen Werkzeugen vertraut werden. Dabei entdecken sie auch deren Reiz und können sie besser einschätzen. Mach das mit den Eltern ebenso..." Ein Weg, der sich lohnt, fanden sie.
Lernen und Lehren hängen eng zusammen. Die Maori, die ersten Einwanderer in Neuseeland, haben ein Wort dafür: ako. Lehren heißt immer auch, sich selbst auf Blockaden und Hemmnisse zu überprüfen, sich nicht auf der Weisheit des Alters und den Erfahrungen des Lebens auszuruhen, sondern beweglich zu bleiben.
Robyn, eine meiner wunderbaren Gastgeberinnen in Neuseeland, berichtete, was sie bei ihrem Berlinbesuch besonders beeindruckte. „Meine Lerngeschichte in Berlin war Fahrrad fahren", sagte sie. Dass ich als Gastgeberin ihre Freude am Fahrradfahren wahrgenommen und ihr zugetraut hatte, mit mir quer durch die Stadt zum Workshop zu radeln, hatte sie beeindruckt. Dass sie die Herausforderung meisterte, machte sie stolz und zufrieden. Robyn ist Anfang 60. Sie kann das Lernen immer noch und immer wieder feiern.
In Auckland - der größte Ballungsraum Neuseelands und ein multikulturelles Sammelbecken für Einwanderer aus vielen Nationen - gibt es ein Eingliederungsprojekt für politisch verfolgte Einwanderer. Einen Nachmittag lang saß ich in der Erwachsenenklasse zwischen Menschen aus Burma und China, Afghanistan und Persien, Äthiopien und dem Sudan. Während ihre Kinder im Kindergarten betreut werden, erhielten sie die Chance und auch die Aufgabe, Englisch zu lernen, den Umgang mit Behörden zu üben, sich am Computer auszuprobieren und den Führerschein zu machen. Die Lehrkräfte trauten ihnen all das zu, hatten Geduld und Verständnis für Probleme, die sich durch die Verarbeitung persönlicher traumatischer Erfahrungen und des Kulturschocks ergaben, den fast alle Einwanderer in der neuen Umgebung erlitten. Sie forderten die Menschen aber auch zu neuen Erfahrungen heraus, nach dem Motto: „Wenn ihr schon mal hier seid, werden wir euch dabei helfen, euch bei uns wohl zu fühlen und verantwortliche Aufgaben zu übernehmen. Dazu müsst ihr dies und jenes lernen."
Das Vertrauen in die Kraft des sozialen Umfelds, die Lernfähigkeit der Erwachsenen zu unterstützen, wuchs bei gemeinsamen Festen, bei der Gestaltung des Gartens auf dem Schulgelände, in Beratungsgesprächen und nicht zuletzt dadurch, dass ein muslimischer Fahrlehrer engagiert wurde, der sofort mit einer ganzen Fuhre fröhlich schnatternder Frauen losfuhr.
Vertrauen beflügelt
Es gibt noch viele Geschichten über das beflügelnde Vertrauen, das in die Lernenden gesetzt wird: So wurde mir zugetraut, mit Maureen eine Tasche aus Flachs nach der Tradition der Maori zu flechten und gleichzeitig etwas über die Geschichte der Berliner Mauer zu erzählen. Den Kindern wurde zugetraut, herausfinden zu können, woher der Stiefel des Riesen stammt, den sie im Wattenmeer gefunden hatten. Und dem kleinen blauen Pinguin, der krank war und von einer Farmersfrau aufgepäppelt wurde, traute man zu, sich wieder ins Meer zu wagen, als er zu Kräften gekommen war. Doch er kehrte zu der Frau zurück. Er wird es schaffen, meinte sie, und warf ihn mit aufmunternden Worten in die Wellen. Eine halbe Stunde später sahen wir ihn vom Paddelboot aus fröhlich in der Bucht schwimmen.
All diesen Lerngeschichten ist eine optimistische Grundhaltung gemeinsam, Zutrauen in die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten und die anderer Menschen, Offenheit für verschiedene Lösungswege. Eigentlich gar nicht so schwierig, sollte man meinen, und es kostet nicht mal was. Es braucht aber den Mut, hin und wieder über den eigenen Schatten zu springen.
Sibylle Haas leitet die Mal- und Lernwerkstatt des Eigenbetriebs Kindertagesstätten Nordwest in Berlin und ist darüber hinaus als freie Fortbildnerin tätig.