Kinder mit ihrer Lehrerin betrachten einen Globus

Lernen in Neuseeland

28.10.2009 Kommentare (2)

Wie lebhaft und lebendig Lernen sich vollziehen kann, zeigt das folgende Beispiel aus Neuseeland. Wir danken der Redaktion von Betrifft Kinder für die Genehmigung zur Veröffentlichung.

Das Lernen feiern

Mosaiksteine aus einer fernen Bildungslandschaft

In einer Serie, die mit diesem Beitrag (in Betrifft Kinder, Heft 9/2009) beginnt, berichtet Sibylle Haas über ihre Erlebnisse in Neuseeland. In Teil 1 geht es um das Lernen in der Grundschule, im Kindergarten und auf Fortbildungen.

Wenn in Deutschland die Schule ausfällt, freuen sich die meisten Kinder. Einen Tag lang nicht hingehen müssen, das ist toll.
Als ich meiner Gastgeberin in Neuseeland, die früher Grundschullehrerin war, davon erzähle, schaut sich mich ungläubig an: „Bei uns haben die meisten Kinder das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn sie nicht zur Schule gehen können."
Das trifft sicherlich besonders dort zu, wo der neue Lehrplan von 2007 mit Leben erfüllt wird. Darin spielt Selbstorganisation eine große Rolle: „Schüler, die sich selbst organisieren können, sind unternehmungslustig, erfinderisch, zuverlässig und belastbar. Sie setzen sich ihre Ziele, machen Pläne, organisieren Projekte und setzen hohe Maßstäbe an sich selbst..."

Lernen in der Grundschule

In der Discovery School in Christchurch, einer Schule, die selbst organisiertes und entdeckendes Lernen konsequent lebt, frage ich Schüler, warum sie in dieser Schule zufrieden sind. Die Antwort: „Hier interessiert man sich dafür, was ich denke und wie es mir geht."
In dieser Schule gibt es drei Mal im Quartal mittwochs ab 13.00 Uhr eine Versammlung aller 200 Schüler mit ihren Lehrern, auf der Lernergebnisse aller Bezugsgruppen - jede Bezugsgruppe, auf Englisch: home base, umfasst drei Altersjahrgänge - vorgestellt werden. Familien sind willkommen. „Celebration of Learning" nennt man diese Treffen dort, „das Lernen feiern".
Schon allein diese Formulierung faszinierte mich so, dass sie mein Titel für diese Serie wurde. Lernen wird als positive, befriedigende und immer wieder herausfordernde Aufgabe für alle erlebt. Es ist also keine Pflichtaufgabe, für deren Erfüllung möglichst viel abfragbares Wissen angehäuft werden muss, sondern umfasst das, was wir mit dem ganzheitlichen Bildungsbegriff meinen.
Bei der „Celebration of Learning" werden nicht nur große Projekte vorgestellt, auch kleine Lernfortschritte werden gewürdigt. Damit rückt eine weitere Schlüsselkompetenz - neben Selbstorganisation, dem Self-managing - in den Vordergrund: an einer Lerngemeinschaft teilhaben, sich zugehörig fühlen und etwas beitragen (Participation, Belonging, Contribution). Lernen wird also nicht als individuelles Mühen um allein erarbeitete Leistung verstanden, sondern als ein Beitrag, der aus der Gemeinschaft gewachsen ist, dort einen Stellenwert hat und allen nützt.
Die Eltern werden, so oft es geht, in das Schulleben einbezogen. Es gibt regelmäßig Gespräche zwischen Lehrern, Schülern und Eltern, in denen Vereinbarungen getroffen werden. Immer wieder werden die Eltern gebeten, freitags Arbeitsgruppen zu Themen anzubieten, die sie wichtig finden und gut beherrschen: klettern oder Obst und Gemüse einkochen, fotografieren, mit dem PC arbeiten oder nähen.
Auf der website der Schule konnte ich nachlesen, dass der Schulleiter sich Sorgen macht, weil die Angebote der Eltern zahlreicher sein könnten. Ja, Ideale zu leben ist überall mühsam...

Lernen im Kindergarten

Das Curriculum für die frühe Kindheit gilt in Neuseeland für Kinder von 0 bis 5 oder 6 Jahren. Die gesetzliche Schulpflicht gilt ab dem 6. Lebensjahr, die meisten Kinder werden aber an ihrem 5. Geburtstag eingeschult - also nicht alle an einem Tag, sondern das ganze Jahr über.
Der Rahmenplan von 1996 hat den Namen „Te Whaariki". Das heißt „Flechtmatte" und stellt im übertragenen Sinne dar, wie unterschiedliche Werte miteinander zu einem Ganzen verflochten werden. Das Wort ist ein Begriff der Maori, der ersten Einwohner Neuseelands, und bezeichnet einen aus neuseeländischem Flachs geflochtenen Gebrauchsgegenstand. Wie die Flachsstränge, die verflochten werden, ziehen sich die Leitgedanken und Schlüsselkompetenzen durch den Rahmenplan, stützen und ergänzen einander, überschneiden sich und stellen ein stabiles Gerüst dar. Dazwischen lassen sich die Besonderheiten des Kindes, der Familie und der jeweiligen Einrichtung einflechten.
Die vier Leitgedanken, die principles, werden jeweils mit einem englischen Begriff und der Entsprechung aus dem Gedankengut und Wertesystem der Maori beschrieben: Ganzheitliche Entwicklung gehört dazu und empowerment - vielleicht am besten mit Ermächtigung, Ermutigung oder Bekräftigung übersetzt. Beziehungen zwischen den Beteiligten - den Kindern, Eltern und Erzieherinnen - werden als wechselseitig und aufeinander reagierend verstanden. Die Familie, die Großfamilie und die community, also die Gemeinde, gehören als soziales Umfeld dazu.
Mit diesen Leitgedanken werden die fünf Grundlagen für das Lernen verflochten: Wohlbefinden und das Gefühl der Zugehörigkeit, eine neugierige Forscherhaltung, die Fähigkeit, sich mitzuteilen und für die Lerngemeinschaft etwas beizutragen.
Hier zeigt sich, dass die Art, wie gelernt wird, für wichtiger gehalten wird ist als das Was. Von den 20 Heften mit Materialien zur praktischen Arbeit mit dem Curriculum handeln nur fünf Hefte von den Themen, die bei uns in den Bildungsbereichen ausgeführt sind: Grundlagen der kulturellen Symbolsysteme, die über Buchstaben und Zahlen hinausgehen, Lese- und Schreibfähigkeit, Mathematik, Kunst und technische Medien. Alle anderen Hefte widmen sich den oben erwähnten Leitgedanken und Grundlagen, der Lern-Atmosphäre und der Achtung der Interessen des einzelnen Kindes und seiner Familie vor ihrem kulturellen Hintergrund.
Gefeiert werden in diesem System die kleinen und doch großen Schritte der Entwicklung: das erste Sich-Aufrichten in den Stand und der erste Schritt, die Entdeckung des Namens EVA im Hinweisschild über einen Notfallplan, EVACUATION PLAN, das genüssliche Schwelgen in Matsch und Farben mit dem ganzen Körper, die gemeinsame Freude über Erfahrungen, an denen auch die Eltern teilhaben. All das nimmt im Alltag viel Raum ein, ohne Wenn und Aber.

Lernen auf Fortbildungen

Mich interessiert, weshalb viele Teams in Neuseeland es freiwillig auf sich nehmen, über ein Jahr lang im Rahmen eines vereinbarten Vertrages Fortbildungsveranstaltungen zu besuchen, Fachbücher zu lesen, praktische Aufgaben zu erfüllen und die Ergebnisse nach einem Jahr zu dokumentieren und zu präsentieren. Es macht Spaß, sich weiterzubilden, sagen die Kolleginnen, die Arbeit geht danach leichter von der Hand, Kinder, Eltern und Träger reagieren positiv auf die vorgenommenen Veränderungen, und es tut dem Selbstbewusstsein gut.
„Was tust du für deine professionelle Weiterentwicklung?" ist eine Frage, die nicht nur in Vorstellungsgesprächen gestellt wird. Sie hat Gewicht, stellt einen ethischen Wert dar, denn Lehren und Lernen hängen zusammen, auf allen Ebenen. Nur sehr wenige Einrichtungen werden zu einem Fortbildungsprozess verpflichtet, und zwar diejenigen, die im Rahmen externer Evaluation schlecht abgeschnitten haben.
Am Ende des Fortbildungsjahrs werden die Ergebnisse vorgestellt und gefeiert. Die neuen Teilnehmerinnen für den nächsten Jahreskurs werden auf dieser rasanten Abendveranstaltung mit darstellendem Spiel und Tanz auf den beginnenden Prozess der Veränderungen durch Lernen eingestimmt. Das Foto zeigt einen kleinen Ausschnitt davon.

Nachrichten aus einer fernen Welt

Für mich ist das Feiern des Lernens eine Nachricht aus einer sehr fernen Welt. Ich frage mich, weshalb Schule und Lernen oder die Lektüre von Fachbüchern bei uns häufig einen negativen Beigeschmack haben. In der Schule beginnt der Ernst des Lebens, heißt es bei uns. Das bedeutet: Schluss mit lustig. Lesen, Lernen, was Neues ausprobieren, sich Herausforderungen stellen und Spaß haben - das scheint sich irgendwie auszuschließen. Angst vor Versagen, vor Fehlern, vor Bloßstellungen und Peinlichkeiten, vor allem im institutionellen Rahmen von Schule, wo wenig Selbstbestimmung gewährt wird, werden Gründe dafür sein. Sitzt uns immer noch das autoritäre Schulsystem des Kaiserreichs und der nachfolgenden Diktaturen im Nacken? Oder ist es das protestantisch-moralinsaure Denken: Was Spaß macht, kann nicht zu viel nütze sein, ohne Fleiß kein Preis, Mühsal ist der Welten Lohn?
Die Geschichten aus Neuseeland haben mir gezeigt: Es geht auch anders. Jeder einzelne Mensch ist gefragt, die Freiräume auszuloten, die es gibt, und sie gemeinsam mit anderen Menschen zu vergrößern.

In Teil 2 der Serie berichtet Sibylle Haas darüber, wie man in Neuseeland Vertrauen in die Fähigkeiten der Lernenden setzt: Pass auf, fall nicht, verbrenn dich nicht! Oder: Du schaffst das schon!

Sibylle Haas leitet die Mal- und Lernwerkstatt des Eigenbetriebs Kindertagesstätten Nordwest in Berlin und ist darüber hinaus als freie Fortbildnerin tätig.

Kontakt: sibylle.haas@freenet.de

Literatur und Links

Der Lehrplan für Grundschulen in Neuseeland: The New Zealand Curriculum 2007: www.learningmedia.co.nz
Das Bildungsprogramm für die frühe Kindheit: Early Childhood Curriculum Te Whaariki, Ministry of Education, Wellington 1996: www.learningmedia.co.nz
Discovery 1, Schule in Christchurch : www.discovery1.school.nz
Eines der Institute für Erzieherfortbildung: Educational Leadership Programm: www.elp.co.nz
Margret Carr: Assessment in Early Childhood Settings - Learning Stories. Paul Chapman Publishing, London 2001
Deutsches Jugendinstitut (Hrsg): Bildungs- und Lerngeschichten. verlag das netz, Weimar/Berlin 2007

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Kommentare (2)

27 Februar 2010, 10:54

Hallo Corinna Lanholf,

ich habe selbst keinerlei Kontakte nach Neuseeland. Ich würde mich an Ihrer Stelle an die Botschaft oder das Konsulat von Neuseeland in Deutschland wenden, zu finden unter http://www.neuseeland-neuseeland.com/neuseeland-botschaft/

Mit freundlichen Grüßen
Hilde von Balluseck

Corinna Langholf 25 Februar 2010, 22:13

Guten Abend!
ich interessiere mich sehr dafür ,für einige Zeit in Neuseeland als ausgebildete Erzieherin zu arbeiten. Haben Sie vielleicht einige Tipps bzw Adresse, die mir das recherchieren und bewerben einfacher gestalten! Mit einem dicken dank für Ihre Antwort! Corinna Langholf

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