Männer in Kitas, Erzieher unter Generalverdacht und warum die Sexualpädagogik in jede Kita gehört
Derzeit gibt es umfangreiche Bemühungen um eine Erhöhung des Männeranteils in Kitas. Es ist gut, so die Argumentation, wenn Kinder sowohl weibliche wie männliche Erwachsene erleben, um sich selbst ihre Rolle als Junge oder Mädchen zu „basteln“. Nicht alle ExpertInnen sind der Meinung, wie unser Interview mit Tim Rohrmann und Heidi Keller zeigte. Aber unabhängig von dieser gewünschten geschlechtlichen Vielfalt bei den Rollenvorbildern gibt es das Problem, dass viele Eltern und auch weibliche Fachkräfte sexuelle Übergriffe von männlichen Erziehern gegenüber den Kindern befürchten. Und da es in den meisten Kitas keine Diskussion über sexualpädagogische Inhalte und Methoden gibt, ist die Unsicherheit groß. Dieses Thema greift unser Beitrag auf.
Jens Krabel von der Koordinationsstelle Männer in Kitas hat sich im Rahmen seiner Forschung mit den damit zusammenhängenden Problemen befasst. In einem schriftlichen Interview antwortet er auf Fragen, die viele Erzieherinnen bewegen.
Außerdem nimmt Parvaneh Diafarzadeh Stellung zu der Frage, wie Fachkräfte mit Eltern eine Erziehungspartnerschaft aufbauen können, wenn es unterschiedliche Einstellungen zur kindlichen Sexualität gibt.
Männer in Kitas
ErzieherIn.de: Wieso halten Sie es für wichtig, dass Kinder auch Männern als Fachkräften in der Kita begegnen?
Jens Krabel: An erster Stelle möchte ich festhalten, dass Kinder generell gut qualifizierte Fachkräfte, egal welchen Geschlechts, verdienen, die sie bei ihrer psycho-sozialen Entwicklung, bei ihren Bildungspozessen und Welterkundungen professionell begleiten. Bisher ist es jedoch häufig so, dass viele Männer, die eigentlich die notwendigen Kompetenzen, Fähigkeiten und Interessen für eine professionelle und fürsorgliche Begleitung von Kindern besitzen, nicht den Weg in das Arbeitsfeld „Kita“ finden. Grund hierfür sind in erster Linie veraltete stereotype Geschlechterbilder. Gemeinhin wird immer noch davon ausgegangen, dass Frauen aufgrund ihrer vermeintlich „natürlichen“ (weiblichen) fürsorgerischen Eigenschaften besonders gut für die Betreuung und Erziehung von Kindern geeignet seien – Männern wird diese Eigenschaft häufig abgesprochen bzw. scheint männliche Fürsorge innerhalb der gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktionen weniger vorstellbar zu sein (inklusive für die Männer selbst). In letzter Konsequenz führt das immer wieder dazu, dass für den Erzieherberuf geeignete Männer die Tätigkeit in einer Kita nicht mit ihrem Männlichkeitsbild vereinbaren können oder von LehrerInnen, BerufsberaterInnen, etc. nicht auf die Idee gebracht werden, Erzieher zu werden oder von FreundInnen, Verwandten, MitschülerInnen Spott erfahren, wenn sie den Berufswunsch „Erzieher“ äußern. Diese Männer gehen den Kindern bisher „verloren“. Deshalb entwickeln und unterstützen wir von der Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ Strategien und Maßnahmen zur Gewinnung qualifizierter männlicher Fachkräfte für Kitas.
ErzieherIn.de: Welche Bedeutung hat die Begegnung mit männlichen Fachkräften für die geschlechtliche Sozialisation von kleinen Kindern?
Jens Krabel: Kinder ab etwa drei Jahre verstehen, dass sie in einer Gesellschaft leben, in der Menschen in der Regel in Frauen und Männer unterschieden werden und ordnen sich demzufolge selber einem der beiden Geschlechter zu. Ab dieser Zeit setzen sie sich mit Geschlechter-Fragen auseinander und suchen Antworten auf Fragen, wie: „Was macht einen Jungen bzw. ein Mädchen aus?“, „Sind Mädchen anders als Jungen und wenn ja, worin unterscheiden sich Jungen und Mädchen?“. Bei der Beantwortung dieser Geschlechterfragen orientieren sich Kinder an gesellschaftlichen (oftmals stereotypen) Geschlechterbildern und -vorstellungen und realen Bezugspersonen, Frauen wie Männer. Männliche Fachkräfte in Kitas ermöglichen den Kindern sich ein differenzierteres Bild von Männern zu machen, indem sie sie beispielsweise als fürsorgliche, ihnen zugewandte Bezugspersonen erleben. Generell wünsche ich mir, dass Kita-Teams die Vielfalt der Eltern und Kinder widerspiegeln, mit denen sie im pädagogischen Alltag zu tun haben. Vielfältige weibliche und männliche Fachkräfte mit unterschiedlichen Migrationskontexten, sexuellen Orientierungen, etc. können für Kindertageseinrichtungen nur bereichernd sein.
Der Generalverdacht
ErzieherIn.de: Sie sprechen von einem Generalverdacht gegenüber Männern. Was genau ist damit gemeint?
Jens Krabel: Der Generalverdacht meint die pauschale Verdächtigung von Männern, die in Kitas arbeiten. Männern wird dabei unterstellt, sie seien potenzielle Missbraucher von Kindern.
ErzieherIn.de: Woher kommt dieser Generalverdacht?
Jens Krabel: Die pauschale Verdächtigung speist sich unter anderem aus den oben beschriebenen stereotypen Geschlechtervorstellungen, nach der sich Männlichkeit und Fürsorge scheinbar gegenseitig ausschließen. Wer sich schwer tut, in Männern kompetente und fürsorgliche Bezugspersonen für kleine Kinder zu sehen, entwickelt schnell ein Misstrauen gegenüber Männern, die mit kleinen Kindern arbeiten.
Auswirkungen des Generalverdachts
ErzieherIn.de: Hat dieser Generalverdacht Auswirkungen auf die Berufstätigkeit von Männern?
Jens Krabel: Meiner Erfahrung nach kann der Generalverdacht bei (jungen) Männern in der Berufswahlorientierung, bei Studierenden in der Ausbildung und bei männlichen Fachkräften in der Praxis zu Verunsicherungen führen. So entwickeln viele männliche Erzieher und Studierende bzw. Fachschüler in der Kita individuelle Strategien, um mit dem (oftmals nur subtil) präsenten Verdacht umzugehen, und achten selbst sehr genau darauf, beispielsweise Kinder nicht bei geschlossener Tür zu wickeln, Kinder nicht auf den Schoß zu nehmen, sie nicht allzu lange tröstend im Arm zu halten oder sie nicht aufs Klo zu begleiten.
ErzieherIn.de: Welche Auswirkungen hat der Generalverdacht auf Frühpädagoginnen und Eltern?
Jens Krabel: Nicht nur Männer, sondern auch Eltern, Kita-Leitungen und Erzieherinnen gehen auf unterschiedliche Weise mit dem Generalverdacht um. Dies äußert sich z.B. so, dass manche Eltern nicht wollen, dass ihre Kinder von einer männlichen Fachkraft gewickelt werden, oder dass auch Leitungskräfte bzw. Teamkolleginnen sich nicht ganz von dem Generalverdacht „freimachen“ können und aus einem diffusen Gefühl der Unsicherheit heraus männlichen Fachkräften oder Praktikanten bestimmte körpernahe Tätigkeiten mit Kindern nicht gestatten (wollen). Einige (wenige) Kita-Leiterinnen und Erzieherinnen sprechen sich auch aufgrund des Generalverdachts grundsätzlich dagegen aus, Männer mit ins Team aufzunehmen. Die pauschale Verdächtigung von Männern in Kitas lässt sich also nicht ignorieren.
Die Sorge von Eltern und Fachkräften
ErzieherIn.de: Können Sie die Verdächtigungen nachvollziehen?
Jens Krabel: Ich kann die Sorge von Eltern und Fachkräften um die Sicherheit ihrer Kinder sehr gut verstehen. Angesichts dessen, dass sexuelle Gewalt in Institutionen keine Einzelfälle darstellen, ist es nur allzu gut verständlich, dass Eltern und Fachkräfte an die Institution „Kita“ die „Vertrauensfrage“ stellen und nachvollziehen wollen, dass (ihre) Kinder an einem sicheren Ort betreut werden. Diese Vertrauensfrage darf jedoch nicht ausschließlich an die Männer gerichtet werden. Kindertageseinrichtungen müssen generell dafür Sorge tragen, dass pädagogische Fachkräfte keine Gewalt gegenüber Kindern ausüben – sei es sexuelle Gewalt oder jede andere Art physischer bzw. psychischer Gewalt – sowie die Grenzen der Kinder achten. Kindertageseinrichtungen sollten sich demzufolge mit der Frage beschäftigen, wie ein Schutzkonzept diese Sicherheit für Kinder gewährleistet und nicht der Frage nachgehen, wie sie Kinder vor Männern schützen können.
ErzieherIn.de: Der weitaus größte Teil von Tätern beim sexuellen Missbrauch sind Männer. Kann man es da den Fachkräften und Eltern übelnehmen, wenn sie einen solchen Generalverdacht entwickeln?
Jens Krabel: Ich bin weit davon entfernt, denjenigen Fachkräften und Eltern einen Vorwurf zu machen, die männliche Fachkräfte und sexuelle Gewalt gedanklich miteinander verbinden. Sie stehen damit auch nicht alleine da. In unserer repräsentativ angelegten Studie „Männliche Fachkräfte in Kindertagesstätten“, die wir in den Jahren 2008/2009 für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt haben, gaben 40% der Eltern, 43% der Kita-Leitungen und 48% der Träger-Verantwortlichen an, dass sie schon mal – mehr oder weniger intensiv – an die Gefahr eines Missbrauchs durch einen Erzieher gedacht hätten. Bemerkenswerterweise lässt sich bei diesen Erhebungsgruppen aber auch eine sehr hohe Zustimmung gegenüber Männern in Kitas feststellen. In unserer Studie halten es ca. 90% der Eltern, der Kita-Leitungen und der Träger-Verantwortlichen für wichtig, dass Kinder von weiblichen und männlichen Fachkräften betreut werden. Wir können also davon ausgehen, dass die meisten Fachkräfte und Eltern die gedankliche Verbindung von Männern in Kitas und sexuellem Missbrauch kritisch reflektieren und diese pauschale Verdächtigung nur selten dazu führt, männlichen Fachkräften den Weg in die Kita versperren zu wollen. Die Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ will diese kritische Reflexion anregen. So könnten Fachkräfte beispielsweise einmal die eigenen Männlichkeitsbilder reflektieren und sich die Frage stellen, wie selbstverständlich sie Männer und fürsorgliche Erziehungsarbeit zusammendenken können.
Wir müssen unterscheiden zwischen pädosexuellen Tätern, deren sexuelles Interesse auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet ist und erwachsenen Männern (und Frauen), die (Liebes)Beziehungen mit anderen Erwachsenen eingehen und Kindern gegenüber sexuelle Gewalt ausüben. Laut der Fachberatungsstelle Zartbitter sind nur 5 – 12% der Täter pädosexuell. Allerdings liegt der Anteil Pädosexueller in Institutionen vermutlich etwas höher. Pädosexuelle Täter verfügen in der Tat über ausgeklügelte Strategien, um in Kontakt zu Kindern sowie Jugendlichen zu kommen. Dies tun sie jedoch sowieso, mit oder ohne Werbekampagne für den Erzieherberuf. Deshalb ist es wichtig, dass sich Kitaverantwortliche und deren MitarbeiterInnen mit Schutzkonzepten, Generalverdacht und Täterstrategien beschäftigen. Aus meiner Sicht müssten sich deshalb alle Institutionen beispielsweise auch Sportvereine der Auseinandersetzung stellen, wie sie verhindern können, dass pädosexuelle Täter (ehrenamtliche) Trainerfunktionen ausüben.
Sexueller Missbrauch in Kitas
ErzieherIn.de: Worauf stützt sich der Verdacht empirisch, welche Forschungsergebnisse über Missbrauch in Kitas liegen vor?
Jens Krabel: Empirische Daten, die Aussagen über Häufigkeit und Formen sexueller Gewalt in der Institution Kita in Deutschland liefern könnten, liegen bisher kaum vor. Eine ungefähre Vorstellung über das Ausmaß sexueller Gewalt im Elementarbereich lässt sich nur erlangen, indem die Ergebnisse der (wenigen) Studien, die das generelle Vorkommen sexueller Gewalt in Deutschland untersucht haben (z.B. Bange 2004; Wetzels 1997; Bienek et al. 2011) sowie internationale Studien (z.B. Andrews) und die bisher einzige empirische Studie zur sexuellen Gewalt in deutschen Institutionen, (Helming et al. 2011, Kitas wurden leider nicht in die Untersuchung mit einbezogen) zusammengefasst werden. Aufschlussreich sind zudem die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (Fegert et al. 2011). Setzt man diese einzelnen Mosaiksteine zusammen, ergibt sich ein erstes sehr unscharfes Bild: Die meisten Studien, die Aussagen über das Alter der von sexueller Gewalt betroffenen Kinder machen, kommen zu folgendem Schluss: Der Anteil derjenigen, die im Vorschulalter Opfer sexueller Gewalt werden, liegt zwischen 8 und 14% (vgl. Engfer 2005). Kinder sind laut der Studien also insbesondere dann gefährdet, wenn sie die Kita verlassen und in die (Grund)Schule wechseln. Weitgehend Einigkeit herrscht unter den AutorInnen der Studien darüber, dass sexuelle Gewalt an Kindern vor allem von Männern ausgeübt wird. Der Anteil männlicher Täter wird auf 85-95% beziffert (Bienek et al. 2011, Fegert et al. 2011, Engfer 2000). Auffällig ist, dass Kitas in verschiedenen Erhebungen nur sehr selten als Tatorte sexueller Gewalt angegeben werden. Laut Bienek et al. handelt es sich „nur“ bei 0,6% der angegebenen Fälle um sexuelle Gewalttaten, die in Kitas stattgefunden haben. Weiterhin hebt die Untersuchung von Fegert et al. hervor, dass Opfer sexueller Gewalt selten berichteten, dass der Missbrauch in einer Kita stattgefunden habe.
ErzieherIn.de: Heißt dies, dass sexuelle Gewalt in Kitas eigentlich kein Thema ist?
Jens Krabel: Der Befund, dass sexuelle Gewalt in Kitas laut der Studien vergleichsweise selten ist, darf aus meiner Sicht nicht dazu führen, das Thema „Sexuelle Gewalt in Kitas“ zu verharmlosen. Denn erstens zeigen die Erfahrungsberichte von Fachstellen gegen sexuelle Gewalt, dass sexuelle Gewalt in Kitas durchaus immer wieder vorkommt. Seriöse Aussagen über die Vorkommenshäufigkeit sexueller Gewalt in Kitas allerdings sind (noch) nicht möglich, da es in Bezug auf die Institution Kita bisher kaum wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Zweitens müssen wir in Betracht ziehen, dass Menschen, die im Alter von 0 – 5/6 Jahren Opfer sexueller Gewalt wurden, sich nur schwer an die Gewalttat erinnern und deshalb diese im Rahmen von wissenschaftlichen Erhebungen nicht abgefragt werden können. Drittens ist es naheliegend, dass Kitas zwar nicht als konkrete Tatorte sexueller Gewalt fungieren, dafür aber als „Anbahnungsorte“ dienen. Erzieher/innen, Praktikanten (und Praktikantinnen) oder Ehrenamtliche könn(t)en die Kita nutzen, um sich mit Kindern und deren Eltern anzufreunden und dadurch den Kontakt zu den Kindern auch außerhalb der Kita zu erlangen, beispielsweise über eine private Betreuung zur Entlastung der Eltern. Viertens entscheidet nicht die Art der Institution darüber, ob sexueller Missbrauch wahrscheinlich oder weniger wahrscheinlich ist. Grundsätzlich gilt, dass institutionelle Strukturen sexuelle Gewalt erschweren oder aber erleichtern können. So hat sich gezeigt, dass beispielsweise autoritäre, hierarchische Strukturen dazu beitragen eine Kultur zu fördern, in der sexuelle Gewalt eher vorkommt. Die Koordinationsstelle erachtet es insofern als wichtigen Baustein eines Präventionskonzeptes, demokratische Strukturen in Institutionen zu fördern und partizipative Modelle – auch für Kinder – zu entwickeln, um potenziellen Tätern (und Täterinnen) das Ausüben sexueller Gewalt zu erschweren.
Was die Kita-Leitung tun kann
ErzieherIn.de: Wie können Kita-Leitungen mit diesem Widerspruch Generalverdacht contra faktische sexuelle Gewalt umgehen?
Jens Krabel: Kindertageseinrichtungen, die männliche Fachkräfte beschäftigen (wollen), sollten sich mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit der Generalverdacht die pädagogische Praxis von männlichen (und weiblichen) Fachkräften beeinflusst und wie sie damit umgehen wollen. Die Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ hat zum Umgang mit dem Generalverdacht auf der einen und Schutzkonzepten, die Kitas zu einem sicheren Ort für Kinder machen sollen auf der anderen Seite, bereits erste Ideen und Konzepte erarbeitet. Auf unserer Website finden sich zudem Praxisbeispiele und Erfahrungsberichte zu den Themen Generalverdacht und sexueller Gewalt in Kitas, siehe: http://mika.koordination-maennerinkitas.de/unsere-themen/generalverdacht/
Perspektivisch wird diese Seite auch noch weiter ausgebaut.
ErzieherIn.de: Was kann eine Kita-Leitung konkret tun, um sexuelle Übergriffe in der Kita zu verhindern?
Jens Krabel: In den letzten Jahren haben Fachstellen gegen sexuelle Gewalt, allen voran die Fachberatungsstelle „Zartbitter“, Konzepte erarbeitet, wie Institutionen Kinder strukturell vor sexueller Gewalt schützen können (Enders 2010, Zartbitter 2010). Wichtige Maßnahmen zum Kinderschutz – und ich möchte an dieser Stelle nur auf einige eingehen – sind beispielsweise die Einrichtung eines Beschwerdemanagements. Kinder und Eltern sollten die Möglichkeit haben, sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalttaten einer vertrauenswürdigen (externen) Person mitteilen zu können. Ein solches Beschwerdemanagement hilft, Fälle von sexueller Gewalt schon in einem anfänglichen Stadium zu erkennen und zu beenden. Weiterhin ist es wichtig, dass Kindertageseinrichtungen eine „Kultur der Mitbestimmung und Beteiligung“ für Kinder und ErzieherInnen etablieren. Im Fachdiskurs um Präventionskonzepte in pädagogischen Einrichtungen wird immer wieder hervorgehoben, dass Kinder ein Recht auf Partizipation haben. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass Kinder ihre eigenen (Sicherheits)Interessen vertreten und ihr Recht auf Selbstbestimmung – auch das Selbstbestimmungsr echt auf ihren eigenen Körper – erfahren können.
Sexualpädagogik in der Kita
ErzieherIn.de: Welchen Platz weisen Sie in diesem Zusammenhang der Sexualpädagogik in der Kita zu?
Jens Krabel: Kindertageseinrichtungen benötigen ein sexualpädagogisches Konzept, das ErzieherInnen einen pädagogischen Rahmen und Leitlinien für eine sexualpädagogische Praxis an die Hand gibt. Eine gelungene sexualpädagogische Praxis trägt zu einem positiven Selbstbild und Selbstwertgefühl von Kindern bei und kann Kinder darin (be)stärken, sich gegen (sexuelle) Grenzüberschreitungen zur Wehr zu setzen. Hierfür spielt die Förderung körperlicher Fähigkeiten und elementarer Körpererfahrungen eine wichtige Rolle. ErzieherInnen können Kinder darin unterstützen, einen positiven Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität zu entwickeln, indem sie beispielsweise lernanregende Erfahrungsräume für sinnliche Sinnes- und Körpererfahrungen schaffen oder Sexualitätsthemen wie Doktorspiele mit den Kindern besprechen und nicht verschämt „dethematisieren“. Die Beratungsstelle „Zartbitter“ plädiert beispielsweise dafür, Doktorspiele nicht zu verbieten, mit den Kindern jedoch bestimmte Regeln für Doktorspiele zu erarbeiten (Zartbitter 2009). Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die aktive Werbung um Offenheit für die Körperlichkeit und Lustfähigkeit von Kindern im Kita-Alter, auch 100 Jahre nach Siegmund Freud, bei vielen Menschen Angst und/oder Befremden hervorruft. Es wird daher auch immer Menschen geben, die aus ihrer Angst Feindseligkeiten, Unterstellungen und Diffamierungen hervorbringen. Der Generalverdacht gegenüber Männern kann ein möglicher Ausdruck dieser Angst sein. Die Pressekampagne, die sich im Jahre 2007 gegen die BZgA-Broschüre „Körper Liebe Doktorspiele“, ein Ratgeber für Eltern und Erziehende zur kindlichen Sexualentwicklung richtete, und dazu geführt hat, dass diese Broschüre nicht mehr vertrieben und die PDF-Datei aus dem Netz genommen wurde, ist eine andere mögliche Ausdrucksform. Beide Beispiele machen deutlich, dass es für Kitaverantwortliche und deren MitarbeiterInnen wichtig ist, sich mit den Themen Kindliche Sexualität, Sexueller Missbrauch und Generalverdacht sowie mit den möglichen Reaktionen der Eltern oder aber auch der Öffentlichkeit zu befassen.
Die Aufgaben von Erziehern
ErzieherIn.de: Was kann eine Kita-Leitung tun, um Männern, die sich für den Erzieherberuf engagieren, eine vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre zu ermöglichen?
Jens Krabel: Kita-Leitungen können männlichen Fachkräften beispielsweise durch die Außendarstellung der Kita (Flyer, Website, etc.) oder in Bewerbungsgesprächen signalisieren, dass männliche Fachkräfte in der Kita erwünscht sind. Des Weiteren ist es möglich, die Beschäftigung von männlichen Fachkräften als konkretes Ziel in der Konzeption zu formulieren.
ErzieherIn.de: Sollten weibliche und männliche Fachkräfte unterschiedliche Aufgaben übernehmen, um dem Generalverdacht zu begegnen?
Jens Krabel: Ich halte für wichtig, dass Kita-Leitungen Eltern und dem gesamten Team vermitteln, dass männliche und weibliche Fachkräfte prinzipiell für die gleichen pädagogischen Tätigkeiten zuständig sind. Es darf also keine Sonderregelungen für männliche Fachkräfte geben, die ihnen beispielsweise vorschreiben, dass sie Kinder nicht wickeln oder aufs Klo begleiten dürfen. Ich habe das ein oder andere Mal schon gehört, dass Kita-Träger männlichen Fachkräften bestimmte körpernahe Tätigkeiten verbieten, sei es dass männlichen Fachkräften nahe gelegt wird, sie sollten zu den Bring- und Abholzeiten Kinder nicht auf den Schoß nehmen, sei es, dass in den Arbeitsverträgen von männlichen Fachkräften festgelegt ist, dass sie Kinder nicht wickeln dürfen. Weiterhin könnten Kita-Leitungen den männlichen Fachkräften ihre Unterstützung anbieten, sollten Eltern oder Kolleginnen ihnen bestimmte (körpernahe) Tätigkeiten verbieten wollen. Zudem könnten ein klarer Umgang bzw. klare Regeln und eine offensive Aufklärungsarbeit seitens der Kita-Leitung dazu beitragen, diffuse Ängste zu kanalisieren und Transparenz für alle Beteiligten und damit auch die Grundlage für eine angenehme Arbeitsatmosphäre und ein vertrauensvolles Betreuungsverhältnis herzustellen.
Das Schutzkonzept in der Kita
ErzieherIn.de: Und was sollte eine Kita-Leitung tun, wenn dennoch der Verdacht auf sexuelle Übergriffe entsteht?
Jens Krabel: Seitdem Anfang 2012 das neue Bundeskinderschutzgesetz verabschiedet wurde, sind alle Kindertageseinrichtungen noch mal stärker in der Pflicht, sich mit dem Thema Kinderschutz auseinanderzusetzen und vorhandene Schutzkonzepte zu überprüfen bzw. diese neu zu etablieren. Dies hat zur Folge, dass viele Kita-Träger mittlerweile ein Schutzkonzept erarbeitet haben, das Kita-Leitungen Handlungsschritte vorschreibt, die sie bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt einleiten müssen. Kita-Leitungen sind deshalb auf jeden Fall gut beraten, Träger-Verantwortliche über den Verdacht in Kenntnis zu setzten und sich mit ihnen über das weitere Vorgehen abzustimmen. Ein wichtiger Handlungsschritt ist unter anderem das frühe Hinzuziehen einer erfahrenen Fachkraft, also beispielsweise eines Mitarbeiters/einer Mitarbeiterin einer Fachstelle gegen sexuelle Gewalt. Das Hinzuziehen einer erfahrenen Fachkraft wird mittlerweile vorgeschrieben, da Kita-Verantwortliche und ErzieherInnen immer wieder die Erfahrung machen mussten, dass bei Fällen sexueller Gewalt durch eine zu frühe Einbeziehung der Eltern ohne hinreichende vorherige fachliche Reflexion schwere Fehler gemacht wurden. Empfehlenswerte Handreichungen und Arbeitshilfen für Kindertageseinrichtungen zur Umsetzung des Kinderschutzauftrages sind beispielsweise die Arbeitshilfe zum Kinderschutz des Paritätischen Gesamtverbandes oder die Handreichung „Vorwurfsmanagement in Einrichtungen der ASB Kinder- und Jugendhilfe“.
Wie die Kita die Eltern einbezieht
ErzieherIn.de: Wie können Fachkräfte Eltern, die den Generalverdacht gegenüber Männern in der Kita haben, ihre Ängste nehmen?
Jens Krabel: Ich halte es auch in diesem Fall für wichtig mit Eltern – beispielsweise auf Elternabenden – ins Gespräch zu kommen. Kita-Leitungen und ErzieherInnen sollten dabei nicht mit der Tür ins Haus fallen und die Eltern direkt danach fragen, ob sie die männlichen Fachkräfte „generalverdächtigen“. ErzieherInnen könnten jedoch einen Abend gestalten, an dem beispielsweise über Geschlechterrollen oder geschlechterbewusste Pädagogik gesprochen wird. Im Rahmen eines solchen Gesprächs lassen sich dann leichter Fragen besprechen, wie beispielsweise: „Welche Geschlechterbilder habe ich? Spreche ich Männern und Frauen unterschiedliche Kompetenzen zu? Wer ist in der Familie für welche Tätigkeiten zuständig? Warum ist das so bzw. könnte das nicht auch anders gestaltet werden? In diesem Zusammenhang fällt es Eltern sicherlich leichter, auch Ängste und Verunsicherungen gegenüber männlichen Fachkräften zu artikulieren. ErzieherInnen sollten in solchen Gesprächen allerdings betonen, dass weibliche und männliche Fachkräfte die gleichen pädagogischen Aufgaben haben und Körperkontakt sowie körperliche Berührungen zwischen ErzieherInnen und Kindern Bestandteile einer professionellen pädagogischen Arbeit sind. Denn Körperkontakt entsteht zunächst bei körpernahen Pflegetätigkeiten wie Wickeln, Waschen, An- und Ausziehen sowie bei Klogängen, aber auch über den Ausdruck von Gefühlen bzw. Zuneigung und das Eingehen auf emotionale Bedürfnisse durch Kuscheln, Schmusen, Beruhigen, Trösten oder In-den-Schlaf-Wiegen.
ErzieherIn.de: Welche Bedeutung haben Leitlinien, die die Kita aus der Hand geben kann, für ein Schutzkonzept von Kindern?
Jens Krabel: Wenn Kindertageseinrichtungen Leitlinien zum Umgang mit Körperlichkeit und Grenzsetzungen bei Körperkontakt und körperlicher Nähe erarbeitet haben und für die Eltern transparent machen, ist dies hilfreich und vertrauensfördernd . Diese Leitlinien müssen selbstverständlich für die männlichen sowie die weiblichen Fachkräfte gelten.
ErzieherIn.de:Denken Sie, dass Kindertageseinrichtungen, die über ein Schutzkonzept für Kinder verfügen, Eltern eher die Angst vor grenzverletzenden und Macht missbrauchenden Erziehern (und Erzieherinnen) nehmen?
Jens Krabel: Generell lässt sich sagen, dass Kitas, die über ein Schutzkonzept verfügen, auch ihre männlichen Mitarbeiter vor dem Generalverdacht schützen. Denn die einzelnen Module eines solchen Schutzkonzepts, wie ich es teilweise oben vorgestellt habe, dienen dem Team, professionelle pädagogische Praktiken, Leitlinien und Verfahrensmechanismen in der Einrichtung zu etablieren, die pauschalen Verdächtigungen entgegenwirken. Darüber hinaus gibt ein Schutzkonzept Kita-Leitungen und ErzieherInnen ein gutes Argument an die Hand, sollten Eltern männliche Erzieher unbegründet „generalverdächtigen“. In so einem Fall können Kita-Leitungen und Team auf ihr Schutzkonzept hinweisen und deutlich machen, dass der Kita-Träger und die Kita selbst Rahmenbedingungen geschaffen haben, die sexuelle Gewalt an Kindern in der eigenen Einrichtung so weit wie möglich verhindern.
Die Sexualpädagogik in der Kita
ErzieherIn.de: Auch unter den Fachkräften gibt es unterschiedliche Vorstellungen zum Umgang mit Sexualität. Wie kann eine Kita-Leitung eine Übereinstimmung dieser Vorstellungen erreichen, so dass die frühpädagogische Arbeit nicht durch unterschiedliche Werte beeinträchtigt wird?
Jens Krabel: Eine Kita-Leitung sollte in einem ersten Schritt einen teaminternen Austausch über die Bewertung kindlicher Sexualität und die persönlichen Haltungen zum sexualpädagogischen Umgang mit Kindern initiieren. Dabei sollte die Kita-Leitung einen vertraulichen und geschützten Gesprächsrahmen schaffen, da die Sexualitätsvorstellungen der ErzieherInnen auch durch persönliche Erfahrungen beeinflusst sind. In einem solchen Austauschgespräch kann es nicht darum gehen, dass die ErzieherInnen ihre persönliche Haltungen und Wertvorstellungen angleichen müssen. Ein solches Gespräch bietet aber die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten in Bezug auf die sexualpädagogische Praxis herauszuarbeiten und Verständnis für unterschiedliche Haltungen zu gewinnen. Ein teaminterner Austausch kann auch der Startschuss für die Erarbeitung gemeinsamer sexualpädagogischer Leitlinien sein, die das Team dann beispielsweise auch den Eltern kommunizieren kann. Sexualpädagogische Leitlinien könnten beispielsweise darauf hinweisen, dass ErzieherInnen die sexuelle Neugier von Mädchen und Jungen akzeptieren und es ihnen ermöglichen, sich untereinander beim Wickeln zuzuschauen, sich für Körperöffnungen und Körperausscheidungen zu interessieren und sich gemeinsam Gedanken zu machen über Kacka, Pipi und was sie gerade erleben. Eine weitere Leitlinie könnte zum Beispiel sein, dass ErzieherInnen Beobachtungen von Grenzverletzungen gegenüber Kindern sofort ansprechen und verhindern (siehe, Wüstenberg 2012),
Das Interview führte Hilde von Balluseck
Literatur:
Andrews, Gavin/Corry, Justine/Issakidis Cathy/Slade, Tim/Swanson Heather (2001): Comparative Risk Assessment: Child Sexual Abuse (final report), Sydney, Australien: WHO, Collaborating Centre for Evidence and Health Policy in Mental Health.
Bange, Dirk (2004): Definition und Häufigkeit von sexuellem Missbrauch. In: Körner, Wilhelm/Lenz, Albert (Hg.): Sexueller Missbrauch. Band 1: Grundlagen und Konzepte. Göttingen et al.: Hogrefe Verlag, S. 29–37.
Bienek, Steffen/Stadler, Lena/Pfeiffer, Christian/Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (2011): Erster Forschungsbericht zur Repräsentativbefragung Sexueller Missbrauch 2011. www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb1semissbr2011.pdf [Zugriff: 22.01.2012].
Cremers, Michael,/Krabel, Jens (2012): Generalverdacht und sexueller Missbrauch in Kitas: Bestandsanalyse und Bausteine für ein Schutzkonzept. In: Cremers, Michael/Höyng, Stephan/Krabel,Jens/Rohrmann,Tim: Männer in Kitas. Verlag Barbara Budrich, S. 265-289.
Cremers, Michael/Krabel, Jens/Calmbach, Marc (2010): Männliche Fachkräfte in Kindertagesstätten – Eine Studie der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und Sinus Sociovision GmbH. Heidelberg/Berlin: BMFSFJ.
Enders, Ursula (2010): Prävention von sexuellem Missbrauch in Institutionen. Bausteine präventiver Strukturen in Institutionen. http://www.zartbitter.de/0/
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Engfer, Anette (2005): Formen der Misshandlung von Kindern – Definitionen, Häufigkeiten, Erklärungsansätze. In: Egle, Ulrich Tiber/Hoffmann, Sven Olaf/Joraschky, Peter (Hg.): Sexueller Mißbrauch, Mißhandlung, Vernachlässigung. Erkennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen früher Traumatisierungen. 3. Aufl. Stuttgart: Schattauer Verlagsgesellschaft, S. 3–19.
Engfer, Anette (2000): Gewalt gegen Kinder in der Familie. In: Egle, Ulrich Tiber/Hoffmann, Sven Olaf/Joraschky, Peter (Hg.): Sexueller Mißbrauch, Mißhandlung, Vernachlässigung. Erkennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen früher Traumatisierungen. 2. Aufl. Stuttgart: Schattauer Verlagsgesellschaft. S. 23–39.
Fegert, Jörg M./König, Lilith/König, Cornelia/Rassenhofer, Miriam/Schneider, Thekla/Seitz, Alexander/Spröber, Nina (2011): Kurzfassung der Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung der Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. http://beauftragter-missbrauch.de/course/view.php?id=28 [Zugriff: 13.06.2013].
Helming, Elisabeth et al. (2011): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. Rohdatenbericht. Im Auftrag der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann. München: DJI. www.dji.de/sgmj/Rohdatenberichttext_Endversion_Juni_2011.pdf [Zugriff: 13.06.2013].
Wüstenberg, Wiebke (2012): Körperkontakt beim Wickeln. Wie kann die Intimsphäre der Krabbelkinder geschützt werden? In: TPS, 3/2012, S. 8-11
Zartbitter (2010): „Kultur der Grenzachtung“ – oder: Wie Institutionen sich vor Missbrauch in den eigenen Reihen schützen können! http://www.zartbitter.de/
gegen_sexuellen_missbrauch/Fachinformationen/6000_schutz_vor_missbrauch_
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Zartbitter (2009): Doktorspiele oder sexuelle Übergriffe. http://www.zartbitter.de/
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uebergriffe.php [Zugriff: 13.06.2013].
Unser Interviewpartner: Jens Krabel, Diplom-Politologe, arbeitet seit 2010 als Projektkoordinator in der Koordinationsstelle „Männer in Kitas“. Seit Juni 2013 ist er zudem mitverantwortlich für die Evaluation des vom BMFSFJ geförderten Pilotprogramms „Lernort Praxis“. Kontakt: krabel@koordination-maennerinkitas.de
Erziehungspartnerschaft mit muslimischen Eltern – auch in der Sexualpädagogik
von Parvaneh Djafarzadeh
Bei der Einführung eines sexualpädagogischen Konzepts in der Kita müssen die Eltern einbezogen werden. Viele Eltern sind dem Thema gegenüber sehr reserviert, weil sie davon ausgehen, dass kindliche Sexualität nicht existiert. Gleichzeitig wollen sie aber um jeden Preis ihre Kinder vor sexuellen Übergriffen schützen.
Wenn in einer Kita viele Kinder mit der muslimischen Religion aufwachsen, sind die Fachkräfte – wenn sie nicht selbst Muslime sind – gefordert, unterschiedliche Glaubenswelten miteinander in Einklang zu bringen. Oberstes Ziel dabei ist, und das kann den Eltern vermittelt werden, der Schutz des Kindes und seine Bildungs- und Entwicklungschancen.
Es ist zunächst einmal wichtig, dass muslimische Eltern über die sexuelle Entwicklung von Kindern informiert werden. Im Rahmen eines Elternabends sollten Informationen vermittelt werden, die den Eltern die Möglichkeit geben, anzuerkennen, dass Kinder, wenn auch in anderer Form als Erwachsene , sexuelle Bedürfnisse haben, dass sie Formen sexueller Aktivität entwickeln, und dass die Lust, die sie dabei empfinden, natürlich ist und nichts mit Erotik zu tun hat.. Wenn muslimische Eltern über das Thema mehr erfahren, interessieren sie sich dafür genau so wie alle anderen Eltern. Da auch unter Erwachsenen das Thema schambesetzt ist, ist ein getrennt geschlechtlicher Elternabend sinnvoll, bei dem eine weibliche Fachkraft den Müttern erläutert, welche Bedeutung Sexualität in der kindlichen Entwicklung hat.
Bei einem zweiten Elternabend sollten beide Eltern eingeladen werden, um über den Schutz des Kindes zu sprechen. Dabei können Fachkräfte betonen, dass
Eltern die wichtigsten Bezugspersonen von Kindern sind und für alle Belange ihrer Kinder da sein sollten. Wenn sie aber ihren Kindern Gespräche über Sexualität verweigern, lassen sie diese unter Umständen in Situationen im Stich, in denen die Kinder Unterstützung brauchen. Muslimische Eltern sind häufig erfüllt von der Angst, dass ihre Kinder mit Informationen konfrontiert werden, die sie überfordern. Fachkräfte können hier argumentieren dass Kinder umso selbstsicherer sind, je mehr sie um den eigenen Körper und seine Funktionen wissen.Informierte und selbstbewusste Kinder werden seltener Opfer sexueller Gewalt.
Eine Tabuisierung des Themas Sexualität und Intimität seitens der Eltern, so kann man weiter argumentieren, führt oft dazu, dass ein Kind sich seinen Eltern nicht anvertraut, wenn es sexuelle Übergriffe oder gar Gewalt erlitten hat.
Ein Gespräch mit muslimischen Eltern über diese Themen bedarf es eines geschützten Rahmens. Dies bedeutet für viele von ihnen geschlechtergetrennte Räume und ein möglichst homogenes Publikum, also Angehörige der eigenen Religion. Dies ist in einer Kita nicht zu leisten. Möglich sind aber separate Informationsabende, wobei eine muslimische Mitarbeiterin sehr hilfreich ist. Auch Musliminnnen anderer Organisationen könnten einbezogen werden.
Darüber hinaus sollten Eltern Bilderbücher und sexualpädagogische Materialien gezeigt werden, die die Fachkräfte nutzen und/oder Eltern übergeben werden können. Die meisten vorhandenen Materialien beinhalten zu offenherzige Bilder und schrecken die Eltern eher ab. Deshalb bedarf es möglichst vieler verschiedener Bücher mit vielfältigen Inhalten, die auch optisch unterschiedliche Zielgruppen ansprechen.
Mehr zu diesem Thema in:
Djafarzadeh, Parvaneh (2010): Geschützter Rahmen, offene Haltung. In: AMYNA e.V. (Hrsg.): Prävention geht alle an! München, S. 77–84
Djafarzadeh, Parvaneh (2012): „Mut zur Vielfalt, Mut zur Prävention – Arbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund“ in IzKK-Nachrichten 2012.Heft 1 (DJI). Abgedruckt in https://www.erzieherin.de/mut-zur-vielfalt-mut-zur-praevention.php?searched=djafarzadeh&advsearch=oneword&highlight=ajaxSearch_highlight+ajaxSearch_highlight1
Literatur, die auch Eltern empfohlen werden kann:
Strohhalm e.V. (Hrsg.2006): „Kindliche Sexualität zwischen altersangemessenen Aktivitäten und Übergriffen". Hinweise für den fachlich-pädagogischen Umgang. Bernau
Strohhalm e.V. (Hrsg. 2004): "Wie können Mädchen und Jungen vor sexuellem Missbrauch geschützt werden?" Berlin
Erhältlich türkisch-deutsch und arabisch-deutsch
Zur Sexualerziehung: Schmidt, Elke; Djafarzadeh, Parvaneh; Rudolf-Jilg, Christine (2011): Pelin und Paul. Ein Buch über Mädchen und Jungen, den Körper und mehr. Hrausgegeben von AMYNA e.V., München.
Zur präventiven Erziehung: Djafarzadeh/Breen in: AMYNA e.V. (Hrsg., 2007). Abulimaus ist höflich. Ein Kinderbuch auch für Eltern. München . Zu beziehen über AMYNA e.V.
Zum Thema Prävention: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen/publikationsliste,did=5810.htm
Die Autorin: Parvaneh Djafarzadeh, Dipl. Pädagogin, Interkulturelle Trainerin und Beraterin bei AMYNA - Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch. Kontakt. info@amyna.de
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