
Monas Weg
Knapp vier Jahre lang war Mona, ein Mädchen mit schwerer Behinderung, in einer Regelkita in Saarlouis. Über Monas Zeit in der Kita und den Übergang in die Grundschule berichtet Diemuth Hock-Forth.
"Was ist das für ein komischer Stuhl?", fragt eines unserer Kinder, als wir erste Vorbereitungen treffen, um Mona, 4 Jahre alt, in unseren Kindergarten aufzunehmen. In der Kinderkonferenz besprechen wir dann mit unseren Kindern, dass Mona bald zu uns in die Kita kommt. Sie kann nicht laufen und nicht sprechen. Sie muss sich in einem Rollstuhl fortbewegen und ist dabei immer auf Hilfe angewiesen. "Mona braucht, um sitzen zu können, einen Spezialstuhl, den habt ihr ja bereits gesehen. Sie kann ihre Bewegungsabläufe nicht kontrollieren. Das heißt, sie kann nicht wie ihr nach etwas greifen, wenn sie etwas haben möchte. Sie kann zwar ihre Arme und Beine bewegen, aber sie rudert und zappelt manchmal mit ihren Armen.
"Ich hab das schon gesehen, als sie mit ihrer Mama hier war, sie macht so .", sagt ein Kind und zeigt dabei die Bewegung.
"Mona kann auch nicht alleine essen, weil sie nicht kauen kann", erkläre ich weiter. "Also ist sie noch ein Baby", bemerkt ein anderes Kind. "Nein. Sie hat eine Behinderung. Wisst ihr, was das ist?" - "Ja, die können nicht richtig sprechen." - "Ja, auch das manchmal. Es gibt zum Beispiel Kinder, die genauso alt sind wie ihr, aber nicht sprechen können und es vielleicht auch niemals lernen. Es gibt Kinder, die kommen mit Behinderung auf die Welt, aber es gibt auch Menschen, die durch eine Krankheit oder einen Unfall mit einer Beeinträchtigung leben müssen. Mona ist so, wie sie jetzt ist, seit sie ein Baby war. Jetzt ist sie 4 Jahre alt."
"Ach so, wie D.", bemerkt ein Kind. "Ja, aber D. konnte selbst laufen, Mona hat einen Rollstuhl. Ihr seid sehr wichtig für Mona. Denn von euch kann sie viel lernen. Sie wird sich von euch Kindern abgucken, wie ihr euch bewegt und was ihr so macht." - "Und wie wir reden." - "Genau."
Schnell ist Mona im Kindergarten voll und ganz integriert. Begleitet wird sie von einer Integrationspädagogin. Mona kommt stets lachend und vor Freude ganz aufgeregt in unsere Einrichtung. Die Eltern und Kinder begrüßen sie mit Namen, was Mona mit freundlichen Lauten beantwortet. Sie kommuniziert recht erfolgreich mit ihren Augen. Eine Gruppe von fünf bis sieben Kindern bewegt sich regelmäßig um Mona herum. Eine ganz besondere Freundin findet sie im ersten Jahr in Katharina, die bereits ein Vorschulkind ist. Jeden morgen wartet Katharina auf Mona. Endlich sieht sie Mona um die Ecke biegen und ruft freudig: "Mona kommt, Mona kommt!" Schnell lernt sie, Mona die Jacke auszuziehen und ihr von dem Spezialkinderwagen, mit dem sie morgens zu Fuß gebracht wird, in ihren Rollstuhl zu helfen. Spezielle Halterungen ermöglichen es Mona, aufrecht zu sitzen. Rasch hat Katharina herausgefunden, wie sie Monas Arme bewegen muss, um sie festschnallen zu können. Sie begleitet Mona in alle Bereiche unserer Kita. Auch zu Hause besucht Katharina Mona manchmal. Ihr Vorbild erleichtert es vielen anderen Kindern, mit Mona umzugehen.
In den knapp 4 Jahren, in denen Mona bei uns war, gab es immer wieder ganz besondere Freundschaften - zu Mädchen wie zu Jungs. Oft stritten die Kinder darum, wer Mona helfen und wer sie im Rollstuhl herumfahren darf.
Anfangs waren wir unsicher, ob wir Monas Gesten und Laute wirklich richtig deuten. Oder ob wir in ihr Verhalten ein Wunschdenken hineininterpretieren, weil wir uns wünschten, dass Mona sich wohlfühlt. Die Kinder waren es, die uns zeigten, was Mona braucht oder möchte. Ein Beispiel: Wir waren mit den Kindern im Außengelände und Mona sah zu, wie die Kinder die Bobbycar-Bahn hinuntersausten. Sie gab Laute von sich und fing an, wild zu gestikulieren. Ein Kind sagte: "Mona möchte auch dort hinuntersausen." Und so war es. Jauchzend vor Freude sauste sie schließlich im Rollstuhl hinunter. Sie wollte gar nicht mehr damit aufhören. Genauso beschwerte sie sich, wenn sie auf dem Boden, im Rindenmulch, lag und wieder in den Rollstuhl zurück musste. Sie äußerte ihren Trotz. Die Gestik für Wut und Trotz war deutlich zu unterscheiden von ihren Gebärden der Freude.
Kurz darauf erlebten wir, wie Mona reagiert, wenn sie etwas gar nicht mag, sogar Angst davor hat. Denn jedes Mal, wenn Kinder ihr ein Stofftier gaben, wurde sie sehr unruhig und wimmerte laut. Wieder war es ein Kind, das feststellte: "Sie mag keine Kuscheltiere." Und genau das bestätigte sich. An der Tür unseres Schneckenzimmers voller Kuscheltiere zeigte Mona ihre Abwehr, indem sie versuchte, heftig den Kopf zu schütteln.
Nach diesen Erlebnissen waren wir ganz sicher, dass wir ihre Kommunikationswege richtig deuten, und somit wissen, was Mona Spaß macht und was sie nicht mag.
Eine Bereicherung für die gesamte Kitaarbeit
Unser Kindergarten arbeitet sehr eng mit einer Ergotherapeutin zusammen. Kinder mit Behinderungen zu begleiten und zu fördern ist ihre tägliche Arbeit. Sie ist ehrenamtlich in unserer Kirchengemeinde tätig und das Engagement im Kindergarten ist ihr ein besonderes Anliegen.
Mona ist ihre Patientin, und als es darum ging, die Mutter zu beraten, ob und in was für einen Kindergarten Mona gehen soll, hat sie ihr geraten, dass Mona zu uns kommt. Für die Ergotherapeutin ist das Lernen am Modell anderer Kinder eine wesentliche Therapieunterstützung. Das zeigt ihre jahrelange Praxiserfahrung und folgendes Beispiel aus Monas Zeit in unserer Kita: Sie lag mit anderen Kindern auf dem Boden. Die Kinder wälzten sich umher und streichelten Mona. Und sie schaffte es, sich ebenfalls auf den Bauch zu drehen. Alle Kinder nahmen Anteil an diesem Erfolgserlebnis. In der Ergotherapie wäre sehr viel Unterstützung notwendig gewesen, um diese motorische Leistung zu erreichen. Durch das Vorbild der anderen Kinder hat sie automatisch gelernt, etwas auszuprobieren.
Die Vernetzung von Ergotherapie und Kindergarten ist sehr zu befürworten und müsste insgesamt in den Konzeptionen von Kitas viel mehr ausgebaut werden.
Die Erfahrungen mit Mona haben uns gezeigt, dass die Integration von Kindern mit Behinderungen eine Bereicherung für die gesamte Arbeit im Kindergarten ist. Die Beziehungsarbeit, die hier stattfindet, ist ein Gewinn für alle Beteiligten.
Kinder haben keine Berührungsängste. Wir erleben, dass das Thema Behinderung oftmals bei den Erwachsenen ein Tabuthema ist; aus Hilflosigkeit, Unsicherheit und Verlegenheit: Wie gehe ich auf Menschen, die Einschränkungen haben, zu, so dass meine Aufmerksamkeit nicht als Mitleid verstanden wird? Diese Unsicherheit führt nicht selten dazu, dass wir lieber wegschauen. Häufig haben Kinder nur in der Kita Gelegenheit, Kontakt zu Kindern mit Handicap aufzunehmen.
Unsere Kinder sprachen zwar sehr feinfühlig über Mona, gingen aber mit ihrem Anderssein ganz selbstverständlich um. Kindergartenkinder stigmatisieren Kinder mit Behinderung nicht. Sie erleben die Behinderung als Persönlichkeitsmerkmal. Zu Mona haben sie eine Beziehung aufgebaut und konnten lernen, dass Menschen mit Behinderung zum Leben dazugehören. Die Kinder erzählten zu Hause von Mona, und die Eltern trauten sich, uns nach Mona zu fragen. Die Unbefangenheit der Kindergartenkinder zeigt, wie wichtig es ist, einen offenen Umgang mit Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft zu ermöglichen.
Bürokratische Hürden überwinden
Um Mona in unsere Kita aufnehmen zu können und eine Begleitung durch eine Integrationspädagogin zu bekommen, musste ein amtliches Verfahren eingeleitet werden. Zuständig ist dafür im Saarland die Arbeitsstelle für Integration, kurz AFI genannt. Das Verfahren läuft so: Der Integrationsantrag wird bei der AFI gestellt. Diese leitet ihn weiter an das Landesamt für Gesundheit und Soziales. Dort wird die Höchststundenzahl der zusätzlichen Betreuung festgelegt. Der Wochenumfang darf im Höchstfall 9 Stunden nicht überschreiten. Im Fall Mona war klar: Sie braucht eine 2 zu 1 Betreuung, die mit unserem Kitapersonalschlüssel nicht zu leisten ist.
Mona wird an 9 Stunden in der Woche von einer Integrationspädagogin und einem Zivildienstleistenden begleitet. Die Kostenfrage der zusätzlichen Betreuungsstunden ist somit geklärt.
Mit dem Integrationsantrag ist das Kind - gleich, welchen Schweregrad die Behinderung hat -, in den Mühlen der Bürokratie und damit vom Krankheitsbild her eingestuft. Es ist nun amtlich, und das hat Folgen für den weiteren Lebensweg des Kindes. So kann die Integrationsmaßnahme nicht allein von den Eltern wieder beendet werden. Ist die Integrationsmaßnahme bis zum Schuleintritt nicht beendet, ist es für die Eltern sehr schwer, ihr Kind in einer Regelschule einzuschulen. Mit anderen Worten: Die Frage, in welche Grundschule sie ihr Kind einschulen, bleibt nicht mehr den Eltern allein überlassen.
Einerseits erleben viele Eltern die Integrationsmaßnahme, ist sie erst einmal angelaufen, als Gewinn für ihr Kind: Es kann wohnortnah einen Kindergarten besuchen - zumindest dann, wenn ein Kindergarten in Wohnortnähe Kinder mit Integrationsmaßnahme aufnimmt.
Andererseits ist genau dieser Weg, das Kind als Kind mit Behinderung einstufen zu lassen, nicht einfach. Die Hoffnung, dass womöglich ein Wunder geschieht und das Kind ohne Beeinträchtigung leben kann, rückt in immer weitere Ferne. Für viele Eltern ist es ein langer und schwieriger Prozess, zu akzeptieren, dass sie ein Kind mit Einschränkungen haben. Die bürokratischen Hürden der Antragstellung geben Eltern das Gefühl, ihr Kind werde abgestempelt. Deshalb müsste insgesamt das Antragswesen auf Integrationshilfe hinterfragt werden. Die Unterstützung wird so zur bürokratischen Hemmschwelle und kann den Weg in die Isolation der betroffenen Familie bedeuten.
Der andere Fall ist, dass Eltern von Kindern mit Behinderung überhaupt nicht, wissen, dass ihre Kinder in einem normalen Regelkindergarten gefördert werden können. Vernetzungsangebote wie in unserem Fall mit der Praxis für Ergotherapie sind längst nicht üblich, dabei zeigt unsere Erfahrung, wie hilfreich sie sein könnten.
Bereits bei der Wahl des Kindergartens sind Eltern auf Beratung und Unterstützung angewiesen. Monas Mutter bekam Unterstützung durch die Ergotherapeutin, die in Monas Fall davon abriet, sie in einer speziellen Einrichtung anzumelden, in der nur Kinder mit Behinderungen sind. Dies muss natürlich immer individuell entschieden werden. Entscheidend sind die Situation des Kindes und die Zusammenarbeit der Institutionen.
Mona kommt in die Schule - aber in welche?
Lange ist nicht klar, in welche Schule Mona gehen darf und ob sie mit ihren Freundinnen zusammenbleiben kann. Ein wahrer Spießrutenlauf beginnt. Welche Grundschule nimmt Mona auf? Brauchen sie für die Quote noch ein Kind mit Behinderung oder haben sie ihr Soll erfüllt? Brauchen sie als Klassenteiler dringend noch einen Schüler mehr? Solche Überlegungen sind leider Realität. Denn Kinder mit Behinderung sind weder in Kitas noch in Grundschulen selbstverständlich. Trotz des neuen Gleichstellungsgesetzes der UN-Konvention, wonach alle Kinder mit Behinderung das Recht haben, in eine Regelgrundschule eingeschult zu werden, müssen Eltern nicht selten juristische Wege beschreiten, um dieses Recht durchzusetzen.
Um ein Kind in eine Regelschule einschulen zu können, muss vorher ein Gutachten erstellt werden. In Monas Fall wurde ein Integrationslehrer einer Förderschule für Behinderte beauftragt, Mona einen Vormittag lang in unserem Kindergarten zu beobachten. Danach schrieb er das Gutachten über sie.
In dem Gutachten geht es darum, zu prüfen, ob das Kind überhaupt dem Lehrplan einer Regelgrundschule folgen kann oder in eine spezielle Förderschule eingeschult werden soll. Die Entscheidung trifft dann ein sogenannter Förderausschuss, der in der Regel aus der zukünftigen Klassenlehrerin und der Rektorin der ausgewählten Regelgrundschule, dem Gutachter, den Eltern und der Integrationspädagogin des Kindergartens besteht. Diese Personen sind stimmberechtigt, es wird mehrheitlich entschieden. Beratend dürfen weitere Personen dazu geladen werden. Es ist sinnvoll, sich im Vorfeld ein Stimmungsbild zu verschaffen, da die künftige Klassenlehrerin einverstanden sein muss. Weiterhin wird überprüft, ob die Grundschule behindertengerecht ausgestattet ist.
In Monas Fall wurde ich als eine Vertreterin des Kindergartens zur Beratung in den Förderausschuss eingeladen. Sehr rational beschrieb der Integrationslehrer in seinem Gutachten, dass er nicht glaubt, dass Mona den Anforderungen des Lehrplans einer Regelgrundschule folgen kann. In der beratenden funktion vertrat ich den Standpunkt, dass es hier nicht darum gehen darf, ob Mona lesen und schreiben lernt wie die anderen Kinder. Vielmehr seien die sozialen Kompetenzen ein wesentliches Ziel der Grundschule und müssten bei dieser Entscheidung im Vordergrund stehen. Die Integration eines Kindes mit Behinderung bedeute eine Bereicherung für alle Beteiligten. Der Ausschuss kam daraufhin relativ schnell zu einer Einigung und entschied positiv - Mona wurde in die Regelgrundschule aufgenommen.
Für alle Kinder ist der Übergang in die Grundschule eine Schnittstelle, leider auch oftmals eine Bruchstelle. Bei Kindern mit Behinderung bedeutet die Einschulung in die Grundschule, dass die Arbeit der AFI beendet ist. Die Integrationspädagogin als wichtige Bezugsperson fällt mit dem Schuleintritt weg. Natürlich ändern sich beim Wechsel in die Grundschule die Bezugspersonen für alle Kinder. Aber bei Kindern mit Behinderung fällt die Beziehungsarbeit noch viel stärker ins Gewicht.
Konkret in Monas Fall gestalteten sich die ersten Monate in der Schule sehr schwierig. Für die Unterstützung im Unterricht ist 2 bis 3 Stunden in der Woche ein Integrationslehrer da. Zur täglichen Unterstützung gibt es verschiedene Vereine, die Integrationshelfer stellen. Diese brauchen keine pädagogische Ausbildung. Mona erhielt durch den Verein "Miteinander leben lernen" eine Begleitung. Ihre Integrationshelferin ist keine Fachkraft, was in Monas Fall den Umgang mit ihrer Behinderung sehr erschwert hat. Wieder war es die Ergotherapeutin, die ehrenamtlich tätig wurde und die Integrationshelferin unterstützte.
Die Einschulung eines Kindes mit Einschränkungen in eine Regelschule muss immer individuell entschieden werden. Solange es nicht selbstverständlich ist, also zur "Normalität" wird, ist die Gefahr der Ausgrenzung da. Insbesondere bei Schulkindern, die nie Erfahrungen mit Kindern mit Behinderung machen durften, können diese leicht zu Mobbingopfern werden.
Erfahrungen zeigen, dass Kinder, bei denen die Hilfsbedürftigkeit so offensichtlich zu sehen ist wie bei Mona, eher Hilfe, Unterstützung und Zuwendung von anderen Kindern erfahren, während Kinder, bei denen die Behinderung nicht offensichtlich ist, eher gehänselt werden. Durch die Brutalität der Ausgrenzung werden diese Kinder zu Opfern - was sicherlich auch an unseren gesellschaftlichen Strukturen liegt. In unserer Kultur ist es leider nicht selbstverständlich den Schwächeren zu akzeptieren. Deshalb entscheiden sich viele Eltern für eine spezielle Förderschule, um ihre Kinder zu schützen. Dabei würden beide Seiten, sowohl Behinderte als auch nicht Behinderte, voneinander profitieren und Wertvorstellungen könnten im praktischen Tun umgesetzt werden.
Mona ist in ihre Klasse integriert. Auf ihre Bedürfnisse wird Rücksicht genommen, und so bleibt sie hoffentlich beschützt.
Wünschenswert wäre, dass all die Erfahrungen, die die Kinder mit Mona machen durften, selbstverständlich werden und viele andere Kinder dies auch erleben können.
Diemuth Hock-Forth
Dipl.-Sozialpädagogin, Leiterin der evangelischen Kita Saarlouis, Fachkraft für den Situationsansatz.
Aus: Welt des Kindes, Heft 6, November/Dezember 2009