Erzieherin mit Kindern

Moral und Emotion - Herausforderungen in der Kinder- und Jugendhilfe

Elisabeth Helming

28.10.2014 Kommentare (0)

Inhalt
  1. Worum geht’s in moralischen Urteilen?
  2. Welche fundamentale Fähigkeit führt zu moralischen Urteilen – Reflexion oder Emotion?
  3. Menschen sind zutiefst emotionale Wesen
  4. Was hat das mit der Kinder- und Jugendhilfe zu tun?
  5. Emotionale Selbstregulation – Systemische Denkansätze
  6. Psychologische Kosten des Aufwachsens in Armut
  7. Systemische Praxis
  8. Literatur

Überarbeitete Version eines Vortrags auf dem Fachtag des Context-Instituts am 10.10.2014: "...und hinterm Horizont geht es weiter". Systemische Wege und Abwege.

Worum geht’s in moralischen Urteilen?

Bei moralischen Urteilen geht es um das, was wir in einem fundamentalen Sinn für richtig und falsch halten, was erlaubt ist, was nicht. In der Philosophie spricht man von drei wesentlichen Aspekten (z.B. Prinz 2007; Nichols 2004):

  • Wohlergehen/Anderen keinen Schaden zufügen
  • Reinheit
  • Fairness/Gerechtigkeit

Es geht also darum, Anderen keinen Schaden zuzufügen, was ihr Wohlergehen betrifft, - (im Englischen no harm); Reinheit aufrechtzuerhalten (purity) (darauf weisen all unsere metaphorischen Begriffe hin, „verderbte“[1] Jugend, moralischer Schmutz, usw.), und Fairness walten lassen, d.h. gerecht zu handeln. Dabei gibt es in der aktuellen Philosophie, die ja inzwischen auch auf empirische Fundierung achtet, eine Debatte, ob nicht Fairness und Reinheit Prinzipien zweiter Ordnung sind, die im Vermeiden, anderen Schaden zuzufügen, beinhaltet sind. Darüber kann man diskutieren, das führt hier aber zu weit.

Was wir jeweils als Wohlergehen bzw. Schaden zufügen, Reinheit oder Fairness definieren, ändert sich natürlich im Laufe der Geschichte und Entwicklung einer Gesellschaft – obwohl es auch da Grenzen der Beliebigkeit gibt, insbesondere wenn es darum geht, anderen zu schaden oder nicht zu schaden.

Bereits kleine Kinder wissen um diese Regeln, so zeigt aktuelle empirische Forschung. Sie können bspw. sehr wohl unterscheiden zwischen moralischen und konventionellen Regeln (Nichols 2004, S. 6). Also sie finden es bspw. falsch, wenn eine Autorität es erlauben würde, andere zu schlagen. Und wenn man sie fragt, warum soll man das nicht tun, dann sagen sie: „Weil es andere verletzt“ oder „Weil es unfair ist“; sie thematisieren also eine Verletzung einer Person. Wenn man sie fragt, warum man nicht auf den Boden spucken soll, – was sie nicht so schlimm finden, wenn eine Autorität es erlaubt oder es in einem anderen Land erlaubt wäre – als Beispiel für eine Verletzung einer konventionellen Regel, dann sagen sie: „Das tut man halt nicht“, also sie thematisieren die Verletzung der sozialen Ordnung.

Das Gerede von Werteerziehung macht mich, wenn ich diese Forschungsergebnisse bedenke (und nicht nur in dieser Hinsicht, vgl. Wahl 2007), immer sehr skeptisch. Michael Tomasello (2010, 2011) hat bspw. gezeigt, dass schon sehr kleine Kinder unglaublich kooperativ sind, kooperieren wollen, eine Voraussetzung auch für moralisches Verhalten und sich um Andere Kümmern.

 Psychopathen dagegen unterscheiden nicht zwischen konventionellen und moralischen Regeln. Sie können durchaus benennen, was moralisch falsch wäre, aber sie sagen in beiden Fällen (konventionelle/moralische Regeln), „Das tut man nicht“, d.h. thematisieren lediglich die Verletzung der gesellschaftlichen Ordnung – und nicht die von Personen (Nichols 2004).

Natürlich gibt es auch Graubereiche und Überschneidungen zwischen diesen Prinzipien. Konventionelle Regeln können zu moralischen werden, in Bezug auf Homosexualität z.B., aber die Be­grün­dung bezieht sich dann auf die Verletzung eines der Grundprinzipien (bspw. „Reinheit“ – wenn es um Sexualität geht).

Welche fundamentale Fähigkeit führt zu moralischen Urteilen – Reflexion oder Emotion?

Die meisten Philosophen und Psychologen haben lange geglaubt, dass die fundamentale Fähigkeit, die uns zu unseren moralischen Urteilen führt, Vernunft und Verstand sind: Dass wir zu solchen zu Schlussfolgerungen durch einen Prozess des Reflektierens kommen – so z.B. Kant, der Emotionen für zu flüchtig und wechselhaft hielt, als dass man darauf moralisches Verhalten aufbauen könne (und noch nicht einbezog, dass Emotionen ja auch hochgradig strukturiert sind, Mustern folgen). Neurobildliche Studien über Moral haben jedoch gezeigt, dass es Aktivität in den Emotionsstrukturen gibt, wenn es um moralische Regeln geht. Auch psychologische Forschungsergebnisse legen nah, dass im Kern unserer moralischen Urteile Emotionen liegen (Prinz 2007, Nichols 2004).

  • Moralische Urteile sind immer mit Affekten verbunden
  • Was wir empfinden, bestimmt, wie wir uns in sozialen Beziehungen moralisch positionieren (Klatetzki 2014).

Es gibt spannende Experimente zu diesem Zusammenhang: Moralische Urteile werden bspw. wesentlich strenger, wenn man unangenehme Gefühle induziert (eine Studie von Eskine/Kaczinski/Prinz 2011). Also bei den Versuchspersonen – ohne dass es diesen bewusst ist – z.B. durch schlechte Gerüche in einem Raum Ekel hervorruft. Dann wurden die Probandinnen und Probanden gefragt, ob sie in einem Überlebensszenario Kannibalismus in Ordnung finden würden; also es ging darum, ob Menschen nach einem Unfall um zu überleben andere – tote – Körper essen dürfen. Die Versuchspersonen sagten eher „Nein, das ist nicht richtig“, wenn ihnen unangenehme Gefühle gemacht wurden, wie eben durch schlechte Gerüche, unangenehme Musik oder unangenehme Geräusche, wie z.B. dass jemand sich erbricht. Das kannibalistische Verhalten wurde in diesem Fall wesentlich strikter als moralisch falsch beurteilt und abgelehnt. Es gibt umgekehrt auch Studien, in denen positive Emotionen hervorgerufen wurden im Zusammenhang mit moralischen Haltungen. Z.B. haben Liljenquist/ Zhong/Galinsky (2010) gezeigt, dass die Studienteilnehmerinnen und Teilnehmer eher bereit waren, sich in Wohltätigkeitsveranstaltungen zu engagieren oder auch mehr Vertrauen in andere zeigten in einem Zimmer mit einem sauberen Geruch, als in einem Zimmer mit einem neutralen Geruch; sie haben damit also auch positivere moralische Haltungen hervorgerufen.

Wie beim Geschmack wissen wir, dass etwas falsch ist, wenn wir etwas Bestimmtes dazu fühlen, wir haben moralische Urteile in Form unserer Emotionen „verkörpert“. Wir können diese Emotionen nicht verhindern, weil sie auf primitiveren Gehirnstrukturen beruhen als unsere kognitiven Fähigkeiten. (Psychopathen bspw. unterscheiden ja moralische und konventionelle Regeln nicht und zeichnen sich auch aus durch eine hochgradige Flachheit von eigenen Affekten – wobei sie Emotionen anderer Personen durchaus erkennen können.)

Nach einem ersten emotionalen Aufruhr kommt jedoch meistens Kognition ins Spiel, sei es, dass wir die Emotion rechtfertigen oder auch nicht: Wir finden unsere Emotion und die damit verknüpften moralischen Urteile angemessen oder nicht. Und natürlich sind unsere Emotionen und damit auch moralischen Urteile durch unsere Kultur beeinflusst. Kultur ist ein emotionaler „learning ground“ (Prinz 2007). Ehre, die mit „Reinheit“ der Person zu tun hat,[2] auch „Reinheit“ vor der Ehe, das sind in unserer Gesellschaft bspw. nur noch bedingt moralische Prinzipien, aber es gibt noch Menschen, die daran glauben und sich entsprechend verhalten. Das alles läuft relativ implizit ab.

Menschen sind zutiefst emotionale Wesen

  • Emotionen repräsentieren „concerns“, etwas, das uns bewegt, uns angeht, negativ: beunruhigt, was uns Sorgen macht, Verluste, Gefahren, Angriffe; positiv: Interesse, Freude, Zugewandtheit
  • Sie sind bedeutsame Detektoren unserer Beziehung zur Welt
  • Positive Emotionen stellen sich ein, wenn wir eine Situation als für unser Wohlergehen förderlich bewerten
  • Negative Emotionen stellen sich ein, wenn wir unser oder das Wohlergehen von Anderen als bedroht oder beschädigt einschätzen

(Prinz 2007; Klatetzki 2014)

Was hat das mit der Kinder- und Jugendhilfe zu tun?

Kinder- und Jugendhilfe hat im Kern damit zu tun, dass die wichtigste moralische Grundregel verletzt wird: dass jemandem Schaden zugefügt wird, das Kindeswohl in irgendeiner Hinsicht gefährdet ist. Wie genau diese Gefährdung definiert wird, ist jetzt nicht so wichtig, sondern häufig geht es darum, dass die Gesellschaft annimmt, dass bestimmte Eltern tendenziell nicht in der Lage sind, für das Wohlergehen ihrer Kinder zu sorgen, dass sie den Kindern nicht das zukommen lassen, was Kinder – nach unserer Auffassung – an gutem Aufwachsen brauchen. Und wir nehmen es ja nicht nur an, sondern haben meist gute Gründe für diese Annahme, bzw. sollten sie haben. Oder Kinder und Jugendliche fügen sich selbst in irgendeiner Form Schaden zu, gehen destruktiv mit sich und anderen um, so dass sie in ihrer Entwicklung gefährdet sind. Es geht aber auch um Fairness und „Reinheit“. Und all das löst Emotionen aus.

Nimmt man zum Beispiel, was bei einem Hausbesuch einer aufsuchenden Familienhilfe geschieht: Der Tisch ist vergleichsweise nach den eigenen Kriterien einigermaßen dreckig, die Tasse z.B., aus denen die Fachkraft Kaffee angeboten bekommen hat. Punkt 1: Ekel – unangenehme Situation – unangenehme negative Emotion und damit ein negativeres moralisches Urteil in Bezug auf diese Familie bzw. die Eltern. Da kommt dann so etwas wie „Unreinheit“ als moralische Kategorie ins Spiel. Armut riecht nicht unbedingt gut – so Harry Ferguson (2011) in seinem spannenden Buch über „Child Protection Practise“, eines der wenigen Bücher, das sich intensiv damit beschäftigt, was bei Hausbesuchen passiert. Oder umgekehrt ein Beispiel aus Conen (2014): Eine Fachkraft erkennt die gravierende Gefährdung von Kindern nicht; diese seien sauber, so auch die Wohnung (ebd. S. 36). Oder eine Fachkraft ist insgeheim empört, dass die von Hartz IV-abhängige Mutter Zigaretten raucht – das Geld könnte sie doch auch den Kindern zu Gute kommen lassen (Fairness-Verletzung).

Eine weiterer Aspekt in Bezug auf moralische Emotionen bezieht sich darauf, dass wir – so zeigen empirische Forschungsergebnisse – umso strenger uns empören und verurteilen und bestrafen wollen, je mehr wir Intentionen unterstellen. Es ist nicht unbedingt der Schaden, der entstanden ist, der eine Rolle spielt, sondern wie wir die Intentionen des Schadenverursachers bewerten.

Der Umgang mit diesen Emotionen ist eine Grundbedingung und Herausforderung in der Kinder- und Jugendhilfe. Tsokos/Guddat (2014) spielen bspw. in ihrem Buch „Deutschland tötet seine Kinder“ (der schlimmstmögliche moralische Vorwurf) mit unseren moralischen Emotionen: Sie unterstellen den Fachkräften intentionale, absichtliche Verletzung moralischer Regeln: Fachkräfte werden des „Nichtwissenwollens“ beschuldigt, dass „Hundertausende Gewaltverbrecher in unserem Land frei herum“ laufen, damit sind misshandelnde Eltern gemeint; Fachkräfte werden als faul charakterisiert, die nur auf ihr eigenes Wohl achten (Fälle vom Tisch haben wollen). Und Tsokos/Guddat unterstellen, dass diese Eltern „Sadisten“ („Tipps für Sadisten“, heißt ein Kapitel) sind, die also bewusst und mit Lust ihre Kinder quälen. Sie verwenden viele rhetorische Fragen, die auf unsere moralischen Emotionen zielen: „Dürfen wir Kinder, deren körperliche, seelische und soziale Gesundheit mit siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit massiv geschädigt werden wird, einfach aufs Geratewohl ihren ‚Betreuern‘ überlassen – solange, bis die Schädigung tatsächlich eingetreten ist?“ (ebd. S. 41 f). Und sie selber sind damit natürlich moralisch die Guten, auf der richtigen Seite. Das ist ein drastisches Beispiel, aber ich denke, in den momentanen Forderungen nach mehr Kontrolle von Eltern spiegeln sich (neben anderen Aspekten, vgl. Helming 2013) auch tendenziell unreflektierte moralische Emotionen, die implizit Bestrafungsimpulse enthalten. Also ganz deutlich sehe ich das in den Vorkommnissen um die Haasenburg, im Umgang mit diesen biographisch so schwer belasteten Kinder und Jugendlichen, deren ja als absichtlich „ungehorsam“ deklariertes Verhalten letztlich gnadenlos bestraft wurde, mit vielen Rechtfertigungen, dass man sich so verhalte, um eine positive Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen, man so also langfristig für ihr Wohlergehen sorgen würde. Moralische Emotionen können in extreme Destruktivität münden.[3] Das Problem ist auch, dass diese Art von Emotionen, wie sie Tsokos/ Guddat hervorrufen wollen, viel stärker sind als moralische Emotionen im Sinne einer Empörung über soziale Ungerechtigkeit, also Auflehnung gegen die Verletzung des Fairness-Prinzips. Man könnte sich ja auch in die Richtung ereifern, dass – und das zeigen ja alle empirischen Daten – Eltern, die in den Fokus der Kinder- und Jugendhilfe geraten – doch zum allergrößten Teil in Situationen langfristiger sozialer Benachteiligung leben, in gravierenden Unterversorgungslagen. Empörung über die Verletzung des Fairness-Prinzips scheint doch eher eine vermittelte Emotion.

Auch in der Geschichte Sozialer Arbeit ging es häufig (bis auf Ausnahmen) eher um moralische Schuldzuweisungen Armen gegenüber: Die „Fürsorge“ früherer Zeiten ging ja auch mit der Verachtung für Armut und auch den entsprechenden moralischen Schuldzuweisungen einher: „Bettelei, Trunksucht, Glücksspiel, Unwissenheit, miserable sanitäre Verhältnisse, all diese Erscheinungen extremer Armut wurden von den zeitgenössischen Armutstheoretikern (Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, d.Vf.) nicht als Resultat der spezifischen Strukturen des Londoner Arbeitsmarktes, sondern als moralischer Zerfall interpretiert. Nicht Armut, sondern Pauperismus war das Problem: Die Demoralisierung der Armen, der nur mit energischen Erziehungsmaßnahmen entgegengewirkt werden konnte“ (Sachße 1994, S. 248f).

Insbesondere wenn man unterstellt, dass Eltern mit Absicht destruktiv handeln, dann sind sie natürlich auch „die Anderen“, weil wir sind ja „die Guten“ – und wenn Letzteres auch nur, weil wir uns empören. Da kommt dann ein zweiter emotionaler Prozess dazu: Die Stigmatisierung dieser Anderen, der Armen, macht sie zu Außenseitern, deren direkter Kontakt uns einerseits kontaminieren kann (Ferguson 2011) und mit denen eine Kooperations-Beziehung andererseits auch schwerer vorstellbar ist. Wenn wir Menschen einer anderen „Gruppe“ zuordnen, ein weiterer psychischer Mechanismus, sind wir bspw. weniger großzügig. Selbst unbedeutende Zuordnungen zu einer bestimmten Gruppe (bspw. durch das Ziehen von Zahlen aus einem Glas oder durch die zufällige Verteilung von T-Shirts verschiedener Farben – eine Gruppe „blau“, eine Gruppe „grün“) sind ausreichend, damit Erwachsene Mitglieder der eigenen Gruppe bevorzugen und ihnen bspw. mehr Ressourcen zuteilen (Locksley et al. 1980). Das Interessante an solchen Studien ist, dass hier keine weiteren Merkmale gegeben sind, die eine Bevorzugung der eigenen Gruppe erklären können: Die Gruppenzuordnungen sind vollständig neuartig und es besteht kein vorhergehendes Wissen über den jeweiligen Status der Gruppe in der Gesellschaft. Zudem ist die Kategorisierung wertneutral und es besteht kein Wettbewerb zwischen den Gruppen. Menschen sind derartig selektiv in Bezug auf ihre Kooperationsbereitschaft, weil Gruppenzugehörigkeit ein Indikator für mögliche Koalitionen ist: Sie erlaubt es, schnell auf der Basis von sichtbaren Merkmalen Informationen über die Wahrscheinlichkeit gelingender Kooperationen abzuschätzen (Tomasello 2010, 2011).

Emotionale Selbstregulation – Systemische Denkansätze

Die beschriebenen emotionalen Muster können wir nicht kontrollieren oder gar unterdrücken, aber wir können aus diesem emotionalen Bezugssystem reflexiv aussteigen. Selbstkontrolle arbeitet gegen Emotionen und Handlungstendenzen, statt sie reflexiv einzubinden – und ermüdet (vgl. Kuhl 2010 zum Unterschied von Selbstkontrolle und Selbstregulation).

Einen der ganz großen gedanklichen Fortschritte in dieser Hinsicht sehe ich in den Ansätzen von systemischer Theorie und Praxis. Ein entscheidender Faktor dabei ist das Verständnis der eigenen Emotionen und der Perspektive anderer („Theory of Mind“), das bedeutet auch das Verstehen um das Gewordensein von Müttern, Vätern, Kindern und Jugendlichen, Männern und Frauen, Mädchen und Jungen, jungen Frauen und jungen Männern.

„Wie kommt es dazu, dass ein Mensch neugierig, offen und tolerant auf andere zugeht oder abgeschottet, misstrauisch und aggressiv? Wie kommt es dazu, dass ein Mensch an anderen aus fremden Kulturen interessiert ist oder sich voller Vorurteile von ihnen abwendet? Wie kommt es, dass ein Mensch darauf vertraut, seine eigenen Interessen mit anderen in friedlicher, aber vielleicht langwieriger Diskussion auszuhandeln, während der andere gerne kurzen Prozess machen würde, um seine Interessen autoritär und gewalttätig durchzusetzen? Kurz: Woher entstehen die persönlichkeitsbedingten und biographischen Voraussetzungen für Toleranz und Intoleranz, Friedlichkeit und Gewaltneigung, Autoritarismus und Demokratie?“ (Wahl 2007, S. 3f).

Mit solchen Gedanken wird ein anderer Aspekt moralischen Denkens gestärkt: der Fairnessgedanke, die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Armut trägt in vielen Fällen ursächlich zu Problemen von Eltern und Kindern bei und behindert ihre Entwicklung, auch wenn es keine lineare Kausalität gibt. „Trotzdem gibt es einige Anhaltspunkte, die insbesondere zeigen, dass die innerfamiliären und (bei Eltern) innerpsychischen Vermittlungsprozesse, die den Zusammenhang zwischen relativer Armut und Beeinträchtigungen kindlicher Entwicklung herstellen (für eine Forschungsübersicht siehe Dearing 2008) teilweise dieselben sind wie diejenigen Prozesse, die Vernachlässigungsereignissen vorausgehen. Zu derartigen Prozessen gehören etwa depressive Verstimmungen und Hoffnungslosigkeit der Eltern. … Einkommensarmut eskaliert aber in der Regel nur dann zur Kindesvernachlässigung, wenn weitere Faktoren hinzutreten oder sich aufgrund der Armut entwickeln und die Fürsorgefähigkeiten von Eltern erheblich einschränken“ (Kindler 2011, S. 278).

Insbesondere sind chronische Formen von Armut problematisch, da sie vermutlich viele Eltern nachhaltig entmutigen und niederdrücken (vgl. Lietzmann/Tophoven/ Wenzig 2011; Chassé/Zander/Rasch 2003; Walper 2008).

Psychologische Kosten des Aufwachsens in Armut

GRafik: Psychologische Kosten des Aufwachsens in Armut

Systemische Praxis

Aus diesen moralischen Emotionen handelnd auszusteigen, erfordert es, systemisch zu denken, d.h. Biographie, Familiengeschichte und ökologische Rahmenbedingungen einzubeziehen, was zudem in Studien als effektiver Ansatz herausgearbeitet wurde (vgl. C4EO 2010).

  • Biographisch: Einbezug der Lebensgeschichte der Eltern mit ihren Erfahrungen von Benachteiligung, in welcher Form auch immer, sei es durch soziale Deprivation, durch Genderdummheiten, Vorerfahrungen von emotionaler oder physischer Gewalt (vgl. ausführlich dazu Helming 2002a). Diese Erfahrungen führen zu einem gravierenden Mangel an Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit.
  • Familiengeschichtlich: Berücksichtigung der Verstrickung von Eltern in ihre eigene Herkunftsfamilie und Beachtung der destruktiven Loyalitäten. So wiederholte sich in Interviews mit Müttern, deren Kinder in Obhut genommen worden waren, die Erzählung von sehr destruktiven Botschaften der Herkunftsfamilie, wie z. B. Frau T. Sie spricht davon, dass sie einmal überhört hat, wie ihre Mutter gesagt hat: „Mit so einer Tochter werden wir nicht fertig, die täten wir am liebsten wegschmeißen oder so. Und das hab ich mir halt schon früher gemerkt“ (zit. nach Helming 2002a,b). Dennoch hält sie einen verstrickten Kontakt mit ihrer Mutter (vgl. auch Conen 1997, 2014).
  • Ökologisch: Berücksichtigung der sozialen Benachteiligung, Organisation von sozialer Unterstützung, Förderung der Integration von Eltern und Kinder in die Kommune, z. B. in die Kita, in Elterngruppen usw., oder z.B.Vermittlung von analphabetischen Eltern in einen Alphabetisierungskurs, oder von Kindern und Jugendlichen in Hausaufgabenbetreuung oder einen Sportverein usw.

Ökologisch heißt für mich aber auch die Frage zu stellen, wie die Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe organisiert ist: Welche Rahmenbedingungen haben Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, um wirklich in einem förderlichen Sinn arbeiten zu können? Ein Thema, dass Sie, Frau Conen, ja in den letzten Jahren sehr bewegt und auf deren Defizite Sie – zum Glück – kämpferisch nicht müde werden, aufmerksam zu machen.

Marie-Luise Conen (2014) fasst eine systemische Betrachtungsweise folgendermaßen zusammen: „Aus einer systemischen Betrachtungsweise resultiert jedoch der Gedanke, dass Menschen Fähigkeiten, Ressourcen, Stärken und Kompetenzen in sich haben. Nur gibt es Gründe, warum sie diese Kompetenzen und Fähigkeiten nicht leben können, für die sie blockiert sind, für die sie keinen Zugang finden. … Erst in einer auf das gesamte System bezogenen Hilfe ist es möglich, zu helfen, dass sich die problemaufrechterhaltenden Muster ändern.“ (Conen 2014, S. 15).

Systemisch denken bedeutet, Problemverhalten nicht als moralisch böse, also als intentional destruktiv zu beurteilen, sondern als Verhalten, „das in seinem (ursprünglichen) Kontext ein sinnvolles Verhalten darstellt“ (Conen 2014) – statt zu verurteilen, wie es die Emotionen in diesem Kontext vielleicht zunächst nahelegen. Mit einer moralischen Verurteilung durch die Kinder- und Jugendhilfe würde zudem die Möglichkeit der Kooperation mit den Eltern zunichte gemacht. Wenn wir moralisch beschuldigt werden, antworten wir zumeist eher aggressiv, finden Rechtfertigungen oder sind zutiefst beschämt, aber werden keineswegs in eine „vertrauensvolle“ Kooperation einsteigen. All das unterstützt nicht dabei, Verantwortung zu übernehmen und Muster zu ändern, zudem das Verhalten ja im Kontext durchaus Sinn hatte.

Haltungen und das Verhalten von Fachkräften haben eine wesentliche Wirkung in Bezug darauf, ob Familien Unterstützung aktiv annehmen können. Die eigene Praxis der Beziehungsherstellung und die der Adressierung von KlientInnen gilt es sich bewusst zu machen (vgl. C4EO 2010; NZFH 2012). Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2000 weist bspw. darauf hin (Martin/Garvis/Davis 2000): Eine gute Beziehung zwischen PatientIn und BehandlerIn ist für den Therapieerfolg unabdingbar, ein Effekt, der unabhängig von der Therapieform besteht – ein Ergebnis, das auf Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe übertragbar ist.

Auch die Eltern haben in ihrer Sozialisation eine gravierende Verletzung ihrer psychischen Grundbedürfnisse erfahren müssen, die Klaus Grawe in seinem Buch „Neuropsychotherapie“ (2004) ausführlich darstellt. Dies sind Punkte, an denen systemische Praxis ansetzt:

  • Bindung: Es gibt sehr viel Forschung inzwischen dazu, wie bedeutsam sichere Bindungsbeziehungen sind, auch für Erwachsene. Unsichere Bindungsbeziehungen führen zu erschwerter Emotionsregulation, verminderter Stresstoleranz, geringeren Selbstwirksamkeitserwartungen.
  • Orientierung und Kontrolle: Hierbei geht es darum, die Erfahrung zu machen, dass man mit dem eigenen Verhalten Wirkungen im Sinne bestimmter Ziele herbeiführen kann (Selbstwirksamkeitsüberzeugungen).
  • Selbstwertschutz/Selbstwerterhöhung: Bewusstsein seiner selbst als Individuum, Fähigkeit zu reflexivem Denken. Liebe Frau Conen, Sie haben ja in ihren Schriften immer wieder auch darauf hingewiesen, dass Klientinnen und Klienten aus diesem Grund, aus Selbstwertschutz, Schutz vor Enttäuschung und Abwertungen, oft auch skeptisch sind gegenüber den wohlwollenden Helfern und Helferinnen.
  • Lustgewinn/Unlustvermeidung: Hier geht es um das Motivationssystem, aktiv auf die Welt zuzugehen, Freude am Entdecken usw., das in der Resignation von langfristiger Armut sozusagen „eingeschlafen“ ist.

Systemische Praxis bedeutet, überraschende Lösungen zu finden, und das Verhalten von Eltern zu verstehen als deren „Problemlösung“, wenn sie auch für die Kinder und Jugendlichen (und die Eltern) nicht gerade entwicklungsförderlich ist – im Sinne von Francis Picabias geflügeltem Wort: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann“; und das mit Humor und Leichtigkeit, einer gewissen humorvollen Distanz zu sich selbst und zu anderen und in dem Wissen um die eigenen Grenzen.

Literatur

C4EO – Centre for Excellence and Outcomes in Children and Young People’s Services (Hrsg.) (2010): Safeguarding – Knowledge Review 1: Effective Practise to protect children living in “highly resistant families”. Online verfügbar unter: http://archive.c4eo.org.uk/themes/safeguarding/default.aspx?themeid=11&accesstypeid=1 [27.10.2014].

Chassé, Karl August/Zander, Margherita/Rasch, Konstanze (2003): Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen. Wiesbaden: VS-Verlag.

Conen, Marie-Luise (1997): Sexueller Missbrauch aus familiendynamischer Sicht – Arbeitsansätze in der SPFH. In: Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) Bonn, S. 384-400. Online verfügbar unter: www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/spfh/14-Sozialpaedagogische-familienhilfe-bei-besonderen-situationen-und-problemlagen/14-1-sexueller-missbrauch-aus-familiendynamischer-sicht-arbeitansaetze-in-der-spfh.html. [21.1.2013].

Conen, Marie-Luise (2014): Kinderschutz: Kontrolle oder Hilfe zur Veränderung? Ein systemischer Ansatz. Reihe Soziale Arbeit kontrovers (SAk, Bd.9). Berlin: Deutscher Verein.

Dearing, Eric (2008): Psychological Costs of Growing Up Poor. In: Annals of the New York Academy of Sciences, 1136. Jg., S. 324-332.

Eskine, Kendall J. / Kacinik, Natalie A. / Prinz, Jesse J. (2011): Disgust Influences Moral Judgment. In: Psychological Science 2011, 22/3/295. Online verfügbar unter: http://pss.sagepub.com/content/22/3/295.

Ferguson, Harry (2011): Child Protection Practise. Houndmills Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan.

Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.

Helming, Elisabeth (2002a): Die Eltern – Erfahrungen, Sichtweisen und Möglichkeiten. In: Bereitschaftspflege/Familiäre Bereitschaftsbetreuung. Empirische Ergebnisse und praktische Empfehlungen (BMFSFJ (Hrsg.) (2002) Schriftenreihe des BMFSFJ, Band 231, S. 139 – 275; darin u.a.: Grundsätze und Methoden der Elternaktivierung. S. 254-275.

Helming, Elisabeth (2002b): Grundsätze und Methoden der Elternaktivierung. In: BMFSFJ (Hrsg.), Handbuch Bereitschaftspflege/Familiäre Bereitschaftsbetreuung. Stuttgart, 2002, S. 254 – 275. Online Verfügbar unter: www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/Handbuch_Familiaere_Bereitschaftspflege.pdf [27.10.2014].

Helming, Elisabeth (2013): Arroganz der Kontrolle oder Wege der Anerkennung. In: Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e.V. (Hrsg.): Aufbruch – Hilfeprozesse gemeinsam gestalten. Köln: Kinderschutz-Zentren, S. 49-94.

Kindler, Heinz/Helming, Elisabeth/Meysen, Thomas/Jurczyk, Karin (Hrsg.) (2011a): Handbuch Pflegekinderhilfe. München. Online verfügbar unter: www.dji.de/pkh

Kindler, Heinz (2011b): Perspektivklärung und Vermeidung von Abbrüchen von Pflegeverhältnissen. In: Kindler et al. (Hrsg.): S. 344–374. Online verfügbar unter: www.dji.de/pkh [27.10.2014].

Kinney, Jill/Haapala, David/Booth, Charlotte (1991): Keeping Families Together. The Homebuilders Model. New York: Aldine de Gruyter.

Kuhl, Julius (2010): Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie. Motivation, Emotion und Selbststeuerung. Göttingen/Bern/Wien u.a.: Hogrefe Verlag.

Lietzmann, Torsten/Tophoven, Silke/Wenzig, Claudia (2011): Bedürftige Kinder und ihre Lebensumstände. Grundsicherung und Einkommensarmut. IAB Kurzbericht 6/2011; http://doku.iab.de/kurzber/2011/kb0611.pdf [21.1.2013].

Locksley, Anne/Ortiz, Vilma/Hepburn, Christine (1980): Social categorization and discriminatory behavior: Extinguishing the minimal intergroup discrimination effect. Journal of Personality and Social Psychology, 39, 773–783.

Martin, Daniel J./ Garske, John P. / Davis, M. Katherine (2000): Relation of the Therapeutic Alliance With Outcome and Other Variables: A Meta-Analytic Review. In: Journal of Consulting and Clinical Psychology, 2000, Vol. 68, No. 3, 438-450.

Nichols, Shaun (2004): Sentimental Rules. Oxford: University Press.

NZFH (Hrsg.) (2012): Dokumentation des Workshops „Befunde und Einschätzungen zum deutschen Kinderschutzsystem – Wissenschaft, Praxis & Politik diskutieren Empfehlungen zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz. Online verfügbar unter: http://www.fruehehilfen.de/no_cache/serviceangebote-des-nzfh/materialien/publikationen/einzelansicht-publikationen/titel/werkstattbericht-befunde-und-einschaetzungen-zum-deutschen-kinderschutzsystem/?sword_list[]=Befunde&sword_list[]=und&sword_list[]=Einsch%C3%A4tzungen&sword_list[]=zum&sword_list[]=deutschen&sword_list[]=Kinderschutzsystem&no_cache=1 [27.10.2014].

Prinz, Jesse J. (2007): The emotional construction of morals. Oxford: University Press.

Sachße, Christoph (1994): Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871 -1929. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Tomasello, Michael (2010): Warum wir kooperieren. Berlin: Edition Unseld, 36.

Tomasello, Michael (2011): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft.

Tsokos, Michael/ Guddat, Saskia (mit Gößling, Andreas) (2014): Deutschland misshandelt seine Kinder. München: Droemer Verlag.

Wahl, Klaus (2007): Biographische Entwicklung von sozialer Offenheit und Toleranz. Vortrag beim 1. Dresdner Dialog des Deutschen Youth For Understanding Komitees, 24. März 2007. Manuskript.

Walper, Sabine (2008): Sozialisation und Armut. In: Hurrelmann, K. (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung. Weinheim: Beltz, S. 203-216.



[1]    Verdorben sind ja zuallererst Lebensmittel …

[2]    Der „Ehrbegriff“, in dem ja auch eher eine Verletzung im sozialen Zusammenhang thematisiert ist, wurde in unserer Gesellschaft vielleicht mit dem Konzept der „Würde“ der Person abgelöst.

[3]    Ein Beispiel dafür findet sich in der Biographie von Andreas Altmann: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend. München: Piper Verlag, 2011.

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