
Nachwuchs im Nachteil
Ein Artikel aus dem DJI-Bulletin 2/2010
Die Kluft zwischen Kindern und Jugendlichen, die im deutschen Bildungssystem erfolgreich sind oder scheitern, ist groß. Die entscheidenden Weichen werden bereits vor dem Schulbeginn gestellt. Warum vor allem die frühe Bildung hilft, soziale Ungleichheiten abzuschwächen.
Der Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen hängt in Deutschland bis heute stärker mit der sozialen Herkunft zusammen als in vielen anderen Industrieländern (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010; PISA-Konsortium 2007). Im Bereich schulnaher Kompetenzen 15-Jähriger hat sich dieser Zusammenhang seit der ersten internationalen PISA-Vergleichsstudie im Jahr 2000 zwar etwas verringert, nichtsdestotrotz ist Deutschland von Chancengerechtigkeit im Bildungssystem weit entfernt. Soziale Disparitäten der Bildungsbeteiligung und des Kompetenzerwerbs sind daher seit Jahren im Fokus des öffentlichen Interesses und der Bildungsforschung.
Bildungsbenachteiligungen im Lebenslauf
Vor allem Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten und/oder mit Migrationshintergrund werden als benachteiligte Gruppen identifiziert. Diese Benachteiligung zeigt sich in allen Phasen der Bildungsbiografie: Kinder aus unteren sozialen Schichten sowie mit Migrationshintergrund weisen bereits am Ende der Grundschulzeit durchschnittlich geringere Kompetenzen auf, teilweise sogar Leistungsrückstande von mehr als einem Jahr. Im Alter von 15 Jahren ergibt sich in Bezug auf die Lese- und Mathematikkompetenzen ein ähnliches Bild. Der Migrationshintergrund hat dabei stets einen eigenen Einfluss, so dass sich selbst bei gleichem sozialem Status der Schülerinnen und Schüler Leistungsunterschiede zeigen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010).
Deutlich werden die Effekte der Herkunft auch bei den Übergangsentscheidungen der Kinder und Jugendlichen, zunächst beim Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe I, der im deutschen Schulsystem aufgrund der relativ geringen Durchlässigkeit nach oben eine Schlüsselrolle in der Bildungslaufbahn zukommt. Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsniveau und/oder mit Migrationshintergrund wechseln bei gleichen Leistungen nach der Grundschule seltener ins Gymnasium und sind in Förderschulen überrepräsentiert. Letztere verlassen die Schule mehr als doppelt so häufig, ohne mindestens einen Hauptschulabschluss erreicht zu haben, während deutsche Kinder dreimal häufiger die allgemeine Hochschulreife erwerben.
Unabhängig von der Art des erreichten Schulabschlusses schaffen ausländische Jugendliche deutlich seltener den direkten Wechsel in die berufliche Ausbildung. Viele verbleiben zunächst zur Berufsvorbereitung und Weiterqualifizierung im sogenannten Übergangssystem (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Manche Studien geben sogar Hinweise darauf, dass Migrantinnen und Migranten bei der Lehrlingsselektion systematisch benachteiligt werden (Imdorf 2010). Im Anschluss an die berufliche Ausbildung sind sie außerdem häufiger von Jugendarbeitslosigkeit betroffen und öfter fachlich inadäquat beschäftigt.
Trotz steigender Studierendenzahlen hängt die Wahrscheinlichkeit, dass junge Menschen ein Studium beginnen, unverändert vom Bildungsniveau der Eltern ab. Vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund, die im deutschen Schulsystem die Hochschulreife erworben haben und eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen, nehmen seltener ein Studium auf. Die erwarteten Kosten der Hochschulausbildung sowie Finanzierungsprobleme tragen in erster Linie zum Studienverzicht von Jugendlichen aus nicht-akademischen Elternhäusern bei (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010; Becker 2010).
Primäre und sekundäre Herkunftseffekte
In der gesamten Bildungsbiografie benachteiligter Kinder und Jugendlicher finden sich demnach Hinweise auf die kaum veränderte Wirkung von primären Herkunftseffekten – den direkten Einflüssen der sozialen Schichtzugehörigkeit auf gemessene Leistungen und Abschlüsse – sowie den sekundären Herkunftseffekten, die unabhängig von der Kompetenzentwicklung die Wirkungen der sozialen Herkunft auf Bildungsentscheidungen und deren Folgen für den individuellen Bildungserfolg umfassen (Boudon 1974). Inwiefern soziale Ungleichheit im Bildungssystem nicht nur durch selektive Übergangsentscheidungen, sondern auch durch verschiedene Lern- und Entwicklungsmilieus entsteht, konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden (Maaz/Baumert/Trautwein 2009). Insgesamt gesehen wird allerdings deutlich, wie immens der Effekt familiärer Einflüsse auf die individuellen Zukunftschancen ist.
Offensichtlich schafft es das Bildungssystem in Deutschland bis heute nicht ausreichend, soziale Ungleichheiten abzuschwächen und Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Milieus vergleichbare Lebenschancen einzuräumen, wie erneut auch die nationalen Bildungstests bestätigt haben (Köller/Knigge/Tesch 2010). Daher stellt sich die Frage, wie die unterschiedlichen Bildungsinstitutionen nicht-privilegierte Kinder und Jugendliche besser unterstützen, fördern und integrieren können.
Der Autor Prof. Dr. Thomas Rauschenbach ist Direktor und Vorstandsvorsitzender des Deutschen Jugendinstituts (DJI) sowie Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Dortmund (TU). Er ist Mitglied der neunköpfigen Autorengruppe, die für den Nationalen Bildungsbericht verantwortlich ist. Mariana Grgic und Dr. Matthias Schilling gehören dem Konsortium »Nationale Bildungsberichterstattung« an. Die Soziologin Grgic ist Wissenschaftlerin in der DJI-Abteilung »Kinder und Kinderbetreuung«. Schilling ist Geschäftsführer der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der Technischen Universität Dortmund, mit der das DJI einen Forschungsverbund unterhält. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Sozialstatistiken, Prognosen und frühkindliche Bildung.
Kontakt: grgic@dji.de, rauschenbach@dji.de, Matthias.Schilling@fk12.tu-dortmund.de
Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel. Bielefeld
Becker, Birgit (2010a): Ethnische Unterschiede bei der Kindergartenselektion: Die Wahl von unterschiedlich stark segregierten Kindergärten in deutschen und türkischen Familien. In: Becker, Birgit / Reimer, David: Vom Kindergarten bis zur Hochschule. Die Generierung von ethnischen und sozialen Disparitäten in der Bildungsbiographie. Wiesbaden, S. 17–47
Becker, Birgit (2010b): Wer profitiert mehr vom Kindergarten? Die Wirkung der Kindergartenbesuchsdauer und Ausstattungsqualität auf die Entwicklung des deutschen Wortschatzes bei deutschen und türkischen Kindern. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 1/2010, S. 139–163
Becker, Rolf (2010): Warum bildungsferne Gruppen von der Universität fernbleiben und wie man sie für das Studium an der Universität gewinnen könnte. In: Krüger, Heinz-Hermann / Rabe-Kleberg, Ursula / Kramer, Rolf-Torsten / Budde, Jürgen (Hrsg.): Bildungsungleichheit revisited. Bildung und soziale Ungleichheit vom Kindergarten bis zur Hochschule. Wiesbaden, S. 223–234
Biedinger, Nicole / Becker, Birgit (2010): Frühe ethnische Ungleichheit: Der Einfluss des Kindergartenbesuchs auf die deutsche Sprachfähigkeit und die allgemeine Entwicklung. In: Becker, Birgit / Reimer, David: Vom Kindergarten bis zur Hochschule. Die Generierung von ethnischen und sozialen Disparitäten in der Bildungsbiographie. Wiesbaden, S. 49–79
Boudon, Raymond (1974): Education, opportunity, and social inequality: Changing prospects in Western society. New York
Imdorf, Christian: Wie Ausbildungsbetriebe soziale Ungleichheit reproduzieren: Der Ausschluss von Migrantenjugendlichen bei der Lehrlingsselektion. In: Krüger, Heinz-Hermann / Rabe-Kleberg, Ursula / Kramer, Rolf-Torsten / Budde, Jürgen (Hrsg.): Bildungsungleichheit revisited. Bildung und soziale Ungleichheit vom Kindergarten bis zur Hochschule. Wiesbaden, S. 259–274
Köller, Olaf / Knigge, Michel / Tesch, Bernd (2010): Sprachliche Kompetenzen im Ländervergleich. Waxmann
Kratzmann, Jens / Schneider, Thorsten (2009): Soziale Ungleichheiten beim Schulstart. Empirische Untersuchungen zur Bedeutung der sozialen Herkunft und des Kindergartenbesuchs auf den Zeitpunkt der Einschulung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 2/2009, S. 211–234
Maaz, Kai / Baumert, Jürgen / Trautwein, Ulrich (2009): Genese sozialer Ungleichheit im institutionellen Kontext der Schule: Wo entsteht und vergrößert sich soziale Ungleichheit? In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, Sonderheft 12 »Bildungsentscheidungen«, S. 11–46
PISA-Konsortium Deutschland (2007): PISA 2006. Die Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie. Münster
Roßbach, Hans-Günther / Kluczniok, Katharina / Kuger, Susanne (2008): Auswirkungen eines Kindergartenbesuchs auf den kognitiv-leistungsbezogenen Entwicklungsstand von Kindern. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 11 »Frühpädagogische Förderung in Institutionen«, S. 139–158