Pädagogischer Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Kindern - Eine Facette des Kinderschutzes im Kita-Alltag
Seit sich die Fachdiskussion des Themas „Pädagogischer Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Kindern“ angenommen hat – seit ca. 15 Jahren – erwecken Medienberichterstattung, aber auch der Fachdiskurs selbst den Eindruck, sexuelle Übergriffe unter Kindern nähmen stetig zu. Aber dieser Eindruck täuscht: Er hat mehr mit veränderter Wahrnehmung, mit Sensibilisierung als mit verändertem Verhalten zu tun. Die meisten Übergriffe haben so auch schon vor Generationen stattgefunden, wurden aber nicht als solche problematisiert. Die gesellschaftliche Toleranz gegenüber sexuellen, aber auch körperlichen Grenzverletzungen schwindet, das angestammte Recht der Stärkeren wird immer hartnäckiger hinterfragt.
Was wir heute als Gewaltvorfall sanktionieren, der Schulbehörde melden, in Elterngesprächen aufarbeiten und mit pädagogischen Maßnahmen flankieren, nämlich wenn ein Schüler von anderen verprügelt wird, war vor 50 Jahren der normale, hinzunehmende Schulalltag. Damals galt es auch als Jungenstreich, Mädchen den Rock hochzuheben, so dass alle ihre Unterhose sehen konnten – heute gilt unsere Aufmerksamkeit dem Erleben dieses Mädchens, der wir Derartiges nicht mehr als selbstverständliche Erfahrung zumuten wollen und entsprechend eingreifen.
Hier hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren viel verändert, viel im Sinne der Parteilichkeit für betroffene Kinder. Aber auch für übergriffige Kinder, denn ihr Verhalten wird als problematisch bewertet – auch für ihre eigene Entwicklung. Und sie erhalten eher Unterstützung, um dieses Verhalten zu beenden. Das Fachwissen zum pädagogischen Umgang mit sexuellen Übergriffen hat enorm zugenommen, heute muss man sich als pädagogische Fachkraft nicht mehr auf sein Gefühl verlassen, ob das, was sich da zwischen Kinder abspielt, eigentlich „normal“ ist, sondern kann sich auf eine klare Definition und auf fachliche Standards für den angemessenen Umgang stützen. In der Praxis ist dieses Wissen aber noch längst nicht flächendeckend angekommen, denn es gibt nur wenige Ausbildungsgänge, die dieses Thema berücksichtigen.
Vor diesem Hintergrund muss der Tenor der Berichterstattung über eine Mainzer Kita im Juni dieses Jahres erstaunen. Übergriffe in großer Zahl, über lange Zeit und mit sehr vielen betroffenen Kindern hatten dort stattgefunden. Das öffentliche Entsetzen galt den „Perversionen“ der Kinder, den gemutmaßten Pornografie-gespeisten Ursachen und dem scheinbar unbrauchbaren Team. Was nicht thematisiert, geschweige denn als Skandal bezeichnet wurde, war die Tatsache, dass man auch heute noch eine Erzieherausbildung durchlaufen kann, ohne auf dieses Thema, dem so gut wie jede und jeder in der Praxis begegnen wird, vorbereitet zu werden.
Besondere Bedeutung bei jungen Kindern
Beim Thema sexualisierte Gewalt unter Minderjährigen verdient das Kita-Alter besondere Aufmerksamkeit. Junge Kinder stehen am Anfang des sexuellen Lernens. Sie entdecken und entwickeln diesen Bereich ihres Lebens, ihrer Identität. Und dafür, welche Rolle Sexualität im sozialen Kontakt spielt, wie sich sexuelle Neugier ausdrücken darf, gibt es keinen inneren Kompass. Jungen Kindern müssen wir noch die Welt erklären – auch die sexuelle Welt. Sie sind auf Bezugspersonen angewiesen, die sie begleiten und Orientierung geben, damit Sexualität als ein Lebensbereich des Wohlergehens und der Lebensfreude erfahren und gefühlt wird. Bezugspersonen, die den Wert der körperlichen Selbstbestimmung vermitteln, die Bedeutung von Scham, den Respekt vor den Grenzen des anderen, und die auch dafür sorgen, dass der eigene Körper und die Sexualität als etwas Wertvolles erlebt werden, das nicht als Tauschware für Anerkennung, Liebe und soziale Bedeutung dient – und auch nicht als Waffe, mit der Macht über andere erlangt werden kann.
Machen Mädchen oder Jungen schon sehr früh die Erfahrung von sexuellen Übergriffen, die keiner bemerkt oder ernstnimmt, wachsen sie in einer Welt auf, in der es dazu gehört, von anderen unangenehm berührt zu werden, eine Welt, in der Stärkere und Ältere alles dürfen, dann ersteht in ihnen eine missbräuchliche Welt. Anders als bei älteren Kindern gibt es noch zu wenig andere Erfahrungen, an der sie die Erfahrung der sexuellen Gewalt messen, bewerten und letztlich relativieren könnten.
Man könnte zugespitzt sagen: Das Problem sind nicht so sehr die Vorfälle sexueller Übergriffe unter Kindern, sondern die Erfahrung, dass niemand hilft, nicht hinsieht, so dass es einfach weiter gehen kann. Die Erfahrung, dass selbst wenn die Übergriffe irgendwann wieder aufhören, kein Trost erfolgt und niemand die entscheidende Bewertung ausspricht, dass das Unrecht ist. Dieses Problem trifft beide Seiten: Auch die übergriffigen Kinder werden im Stich gelassen, auch sie brauchen die Erklärung der sexuellen Welt durch ihre Bezugspersonen. Lässt man übergriffige Kinder gewähren, erleben sie ihr Verhalten als legitim, als Möglichkeit, sich mit sexuellen Mitteln durchzusetzen oder die Befriedigung ihrer sexuellen Neugier mit Gewalt oder Manipulation zu erreichen. Und diese Erfahrung wird beeinflussen, was Sexualität für sie bedeutet.
Das Ziel, sexuelle Übergriffe unter jungen Kindern um jeden Preis zu verhindern, ist unrealistisch, überfordert Pädagoginnen und Pädagogen und läuft Gefahr, zugunsten lückenloser Kontrolle Konzepte der Selbständigkeit in Kindertageseinrichtungen zu untergraben. Selbstverständlich sollten alle Wege der Prävention genutzt werden, um das Risiko zu verringern, dass es zu solchen Vorfällen kommt. Aber die wirkliche Herausforderung besteht darin, sexuelle Übergriffe als solche richtig zu erkennen und fachlich angemessen mit den beteiligten Kindern, aber auch ihren Eltern und der Kindergruppe umzugehen, und so den Kindern Orientierung zu geben.
Angemessene Begrifflichkeit
Sexuelle Übergriffe unter Kindern sind ein Thema, das von begrifflicher Klarheit profitiert. Spricht man statt von „sexuellem Missbrauch unter Kindern“ von „sexuellen Übergriffen unter Kindern“, ist damit eine Positionierung in zweierlei Hinsicht verbunden. Zum einen wird deutlich, dass es sich nicht um ein strafrechtliches, sondern um ein pädagogisches Problem handelt, denn es betrifft strafunmündige Kinder! Zum anderen bezeichnet der Begriff „Missbrauch“ sexuelle Handlungen in Beziehungen, in denen sexuelle Handlungen grundsätzlich verboten sind, weil sie aufgrund von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen als schädigend gelten, z. B. von Erwachsenen gegenüber Kindern, von Therapeutinnen/Therapeuten gegenüber Patientinnen/Patienten usw. Genau das ist aber zwischen Kindern anders, zur kindlichen Sexualität gehört es, andere Kinder in ihre Entdeckungen einzubeziehen. Keineswegs ist jede sexuelle Handlung unter Kindern schädigend! Den Begriff „Missbrauch“ hier nicht zu verwenden, bedeutet, der kindlichen Sexualität ihren legitimen Raum zu geben.
Auch ein weiteres Begriffspaar sorgt für Klarheit und pädagogische Handlungsfähigkeit: Spricht man von „betroffenen“ und „übergriffigen“ Kindern anstatt von „Opfern“ und „Tätern“, kann man einer kontraproduktiven Dynamik vorbeugen. Denn häufig provozieren die Begriffe „Opfer“ und „Täter“ Abwehrreflexe der jeweiligen Eltern. Die einen bagatellisieren den Vorfall, weil sie ihr Kind vor dem Etikett „Täter“ verschonen wollen, die anderen empfinden den Übergriff an ihrem Kind als noch schwerwiegender, wenn es als „Opfer“ bezeichnet wird. Von einer angemessenen Begrifflichkeit profitiert letzten Endes die pädagogische Handlungsfähigkeit.
Welchen sexuellen Übergriffen begegnen pädagogische Fachkräfte im Alltag?
Einige Beispiele:
- In einer Kita will ein Fünfjähriger die Scheide seiner Freundin auf der Toilette ansehen. Als sie nicht will, verriegelt er die Tür und droht, nicht mehr mit ihr zu spielen, wenn sie nicht tut, was er sagt.
- Zwei dreijährige Mädchen ziehen sich in der Kuschelecke im Kindergarten aus und betrachten sich gegenseitig. Als die eine genauer gucken will, presst sie die Beine der anderen mit Gewalt weiter auseinander und fasst ihre Schamlippen an.
- Ein Zweijähriger darf mit den großen Vorschul-Jungen spielen und ist auch einverstanden, sich auszuziehen. Er erlaubt den beiden sogar, dass sie an seiner überstehenden Vorhaut ziehen, obwohl es ziemlich weh tut. Sie hören nicht auf, als er weint – weil er nicht nein sagt.
- Über mehrere Wochen gelingt es den fünfjährigen Zwillingen eines Polizisten, jüngere Kinder dazu zu zwingen, sich Stifte in den Anus stecken zu lassen. Die jüngeren Kinder haben große Angst vor der Drohung der Zwillinge, dass der Polizistenvater ihnen den Kopf abschneiden wird, wenn sie etwas verraten.
- Ein vierjähriges Mädchen will nicht mehr in den Kinderladen gehen: Einige Kinder haben einen Reim erfunden, der davon handelt, dass ihre „Muschi stinkt“.
- Beim Toben auf der dicken Matte tut sich ein Junge weh und wird so wütend, dass er dem Jungen, den er für schuldig hält, seinen Penis ins Gesicht drückt.
Welche Aufgabe haben Erzieherinnen und Erzieher?
Solche Situationen fordern Erzieher und Erzieherinnen heraus und werden häufig als Überforderung erlebt. Deshalb ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, wie weit die eigenen Aufgaben gehen und wo die Kompetenzen anderer Berufsgruppen gefragt sind. Der pädagogische Umgang erfordert keine therapeutische Aufarbeitung des Vorgefallenen mit betroffenen Kindern, keine psychologische Analyse der Ursachen für das übergriffige Verhalten und keine entsprechende therapeutische Begleitung der übergriffigen Kinder. Die Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen besteht vielmehr darin, sexuelle Übergriffe von sexuellen Aktivitäten zutreffend abzugrenzen und Mädchen und Jungen vor weiteren sexuellen Übergriffen im pädagogischen Alltag zu schützen, indem wirksame Maßnahmen in Bezug auf die übergriffigen Kinder entwickelt und durchgeführt werden. Ziel der pädagogischen Intervention ist es, dass sich die Kinder weiterhin begegnen können, indem eine Atmosphäre in der Kindergruppe (wieder) hergestellt wird, in der sich alle wohl und sicher fühlen. In der Regel soll keine Trennung der beteiligten Kinder erfolgen.
Sind die Übergriffe massiv, wiederholt und/oder mit Drohungen verbunden und kommt man ihnen allein mit pädagogischen Mitteln nicht bei, sollten Erzieherinnen und Erzieher rechtzeitig therapeutische Unterstützung für übergriffige und/oder betroffene Kinder anmahnen. Massive Übergriffe können auch ein Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung des übergriffigen Kindes sein. Hier sind die Pädagoginnen und Pädagogen verpflichtet, nach § 8a SGB VIII zu verfahren. Mit diesem Vorgehen erübrigen sich aber pädagogische Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Kinder nicht, denn es entsteht ja kein pädagogisches Vakuum, wenn Jugendhilfemaßnahmen zum Zuge kommen.
Erkennen und Reagieren: zwei Schritte in der richtigen Reihenfolge
In der Praxis kommt es häufig zu Verwechslungen von sexuellen Übergriffen mit Doktorspielen, also sexuellen Aktivitäten. Aber auch umgekehrt werden sexuelle Aktivitäten von Kindern als Übergriffe abgestempelt, nur weil das, was da zwischen Kindern geschieht, bei den Erwachsenen Peinlichkeit oder Unbehagen auslöst. Eine fachlich zutreffende Reaktion setzt zunächst voraus, dass eine sichere Unterscheidung zwischen sexuellen Übergriffen und Aktivitäten gelingt.
Wird eine sexuelle Handlung unter Kindern beobachtet oder berichtet, sollte in einem ersten Schritt die Frage geklärt werden: Was sehe ich? Handelt es sich um eine sexuelle Aktivität oder einen sexuellen Übergriff? Die Beantwortung dieser Frage muss auf der Grundlage von fachlichen Kriterien erfolgen – nämlich einem Basiswissen über kindliche Sexualität und ihre Entwicklung – und nicht auf der Grundlage von Gefühlen. Verlassen sich pädagogische Fachkräfte auf ihr Gefühl, kommen sie zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen, je nach Persönlichkeit, Weltanschauung und Biografie, und haben ein schlechtes professionelles Standing im Gespräch mit Eltern. Für Eltern gilt das nicht: als Laien dürfen sie sich zunächst auf ihr Gefühl verlassen und brauchen professionelle Einschätzungen und den Rat der Pädagoginnen und Pädagogen.
Ein Aspekt ist bei der Beschäftigung mit kindlicher Sexualität von besonders weitreichender Auswirkung: Wer über kindliche Sexualität nachdenkt, muss umdenken und sich von den gewohnten Assoziationen, die mit Sexualität verbunden sind, verabschieden. Denn Sexualität wird oft mit Sex, also der Sexualität Erwachsener, insbesondere allen Formen des Geschlechtsverkehrs, gleichgesetzt und damit verwechselt. Wird diese Verwechslung nicht aufgelöst, kann das dazu führen, dass sexualfreundliche Erziehung als Förderung eines „Rechts von Kindern auf Sex“ missverstanden werden kann. Daher ist es ratsam, in Elterngesprächen die großen Unterschiede zwischen erwachsener und kindlicher Sexualität zu erklären, denn damit fallen viele – auch unausgesprochene – Widerstände weg. Auf diesem geschürten Missverständnis gedeiht übrigens auch der Mythos von der „Frühsexualisierung“ in Kitas, die von einer Gruppe sogenannter besorgter Eltern medienwirksam angeprangert wird.
Erst wenn die Frage „Was sehe ich?“ beantwortet wurde, stellt sich im zweiten Schritt die Frage „Wie reagiere ich?“ Ist man zu der Einschätzung gelangt, dass ein sexueller Übergriff vorliegt, ist die Kita aus Gründen des Kinderschutzes verpflichtet einzugreifen. Wird die sexuelle Handlung aber als sexuelle Aktivität bewertet, hat die Einrichtung Spielräume, ob und wie sie darauf pädagogisch einwirken will. Idealerweise legt das sexualpädagogische Konzept der Einrichtung fest, wie dieser Spielraum genutzt werden soll – in der Praxis fehlt dieses Konzept leider noch sehr oft.
Sexueller Übergriff: Definition
Ein sexueller Übergriff unter Kindern liegt dann vor, wenn sexuelle Handlungen durch das übergriffige Kind erzwungen werden bzw. das betroffene Kind sie unfreiwillig duldet oder sich unfreiwillig daran beteiligt. Häufig wird dabei ein Machtgefälle zwischen den beteiligten übergriffigen und betroffenen Kindern ausgenutzt, indem z. B. durch Versprechungen, Anerkennung, Drohung oder körperliche Gewalt Druck ausgeübt wird.
Diese Definition sieht keine Wiederholungen vor, d. h. wer ein solches Verhalten wahrnimmt oder davon erfährt, sollte nicht abwarten und etwa beobachten, ob das häufiger vorkommt, um dann zu entscheiden, ab wann man besser doch eingreift. In der Praxis ist jedoch genau dieses Abwarten und Beobachten sehr verbreitet. Die Scheu vor dem Eingreifen erklären viele Fachkräfte damit, dass sie den Kindern nicht unrecht tun wollen. Aber auf wessen Kosten geht das Abwarten? So lange man wartet und beobachtet, erleben die Kinder keine Reaktion und lernen, dass alles seine Ordnung hat. Betroffene Kinder erleben Ohnmachtsgefühle und leben in der Unsicherheit, ob das wieder passiert. Übergriffige Kinder laufen Gefahr, sich Übergriffigkeit anzugewöhnen, denn sie werden ja nicht aufgehalten. Folglich tut man ihnen eher dann unrecht, wenn man auf Wiederholungen wartet.
Die wichtigsten Merkmale der Definition sind Unfreiwilligkeit und Machtgefälle. Bei der Freiwilligkeit ist zu beachten, dass sie sich im Verlauf von sexuellen Aktivitäten verändern kann, also nach anfänglich übereinstimmendem Interesse an sexuellen Erkundungen wie im oben genannten Puppenecken-Beispiel sich der Konsens auflöst, so dass das Fortsetzen der Handlung zu einem sexuellen Übergriff wird.
Wird körperliche Gewalt angewendet, ist die Unfreiwilligkeit klar. Aber häufig wird der entgegenstehende Wille des betroffenen Kindes durch Druck oder Bestechung manipuliert. Es ist die Aufgabe der Pädagoginnen und Pädagogen, die Freiwilligkeit richtig einzuschätzen. Diese Verantwortung kann im Zweifel nicht den Kindern überlassen werden, denn häufig behaupten betroffene Kinder – entweder sehr junge oder sehr abhängige Kinder –, es sei freiwillig gewesen, weil sie sich über den Druck, der auf sie ausgeübt wird, gar nicht bewusst sind.
Bei sexuellen Übergriffen spielen Machtgefälle eine große Rolle. Die häufigsten sind:
- Altersunterschied
- Position innerhalb der Gruppe
- Geschlecht
- Sozialer Status der Eltern
- Behinderung
- Migrationshintergrund
Einschränkungen
Für die Fälle, in denen Kinder erwachsene Sexualität praktizieren, ist die Definition nur eingeschränkt gültig. Die Definitionsmerkmale Freiwilligkeit und Machtgefälle spielen in diesen Fällen nur eine untergeordnete Rolle, weil diese Handlungen den beteiligten Kindern grundsätzlich schaden und nicht zur kindlichen Sexualität gehören. Steckt ein Junge den Penis einem anderen Kind in Anus oder Scheide, lässt er daran lecken oder wird an der Vulva eines Mädchens geleckt, ist das immer als sexueller Übergriff zu werten, weil die eigene Qualität des sinnlichen Erlebens von Kindern damit eingeschränkt oder sogar beendet wird. Schritte der sexuellen Entwicklung werden ausgelassen bzw. extrem vorweggenommen und die beteiligten Kinder machen Erfahrungen, die die kindliche Psyche schlicht überfordern.
Schritte des fachlichen Umgangs
Das betroffene Kind sollte die erste und ungeteilte Aufmerksamkeit erhalten. Sind Erzieherinnen bzw. Erzieher sehr erschrocken oder verärgert über den Vorfall, wollen sie oft sofort mit dem übergriffigen Kind sprechen, um es zur Rede zu stellen oder nach den Ursachen für sein Verhalten zu fragen. Aus Kinderschutz-Gründen sollte dieser Impuls kontrolliert und dem betroffenen Kind Priorität eingeräumt werden.
Von Sechs-Augen-Gesprächen, um mit beiden Beteiligten den Sachverhalt aufzuklären und eine Verständigung zu erreichen, ist dringend abzuraten! Sie sind extrem kontraproduktiv, denn die Übergriffs-Dynamik setzt sich in solchen Gesprächen fort: Dem betroffenen Kind erscheint das übergriffige wieder mächtiger, weil es die gleiche Chance hat, dass man ihm glaubt. Aber ihre Ausgangslage ist nicht gleich: Das betroffene Kind hat in der Regel keinen Grund, unwahre Beschwerden vorzubringen, aber das übergriffige wird versuchen zu leugnen oder die Situation anders darzustellen, um Ärger zu vermeiden – in seiner Situation ein durchaus verständliches Verhalten. Letztlich erschweren solche Gespräche den übergriffigen Kindern sogar, ihr Fehlverhalten einzusehen. Betroffene Kinder werden dadurch unnötig belastet, weil sie merken, dass sie um ihre Glaubwürdigkeit kämpfen müssen. Gemeinsame Gespräche machen erst zu einem späteren Zeitpunkt Sinn, wenn sie einer Entschuldigung oder der Wiederannäherung der beteiligten Kinder dienen.
Gespräch mit dem betroffenen Kind
Das betroffene Kind soll deutlich spüren, dass die Erzieherin bzw. der Erzieher auf seiner Seite steht. Parteilichkeit ist hier nicht nur erlaubt, sondern notwendig! Die bei Konflikten weit verbreitete „Dazu gehören immer zwei!“-Haltung ist bei sexuellen Übergriffen nicht sinnvoll, denn hier geht es nicht um gleich starke Kontrahenten mit unterschiedlichen Interessen. Mädchen oder Jungen, die einen sexuellen Übergriff erlebt haben, brauchen Trost, Zuwendung und das erleichternde Gefühl, dass ihnen geglaubt wird.
Die Erzieherin bzw. der Erzieher sollte vermitteln, dass sich das andere Kind falsch verhalten hat und das betroffene Kind keinerlei (Mit-)Schuld trifft – selbst wenn es sich nicht sehr wehrhaft gezeigt oder sich erst spät anvertraut hat. Sie/er sollte dem betroffenen Kind die Verantwortung für das weitere Handeln abnehmen und deutlich machen, dass sie/er sich darum kümmern wird und dass sich der Übergriff nicht wiederholen darf. Wenn es der Erzieherin bzw. dem Erzieher gelingt zu vermitteln, dass sie die Macht hat, das übergriffige Kind zu stoppen, findet faktischeine Entmachtung statt. Das betroffene Kind erlebt das andere nicht mehr als übermächtig, und damit reduziert sich die Gefahr gravierender psychischer Folgen für das betroffene Kind, weil die Ohnmachtserfahrung nicht länger andauert.
Nach diesem oder weiteren Gesprächen kann man gegebenenfalls die Stärkung dieses Kindes im pädagogischen Alltag im Auge behalten. Aber man darf die pädagogische Intervention nicht missverstehen: Sie zielt nicht vorrangig darauf ab, betroffenen Kindern beizubringen, „Nein“ zu sagen. Auch wenn es wünschenswert wäre, wenn sich Kinder durch entschiedenes Auftreten wehren könnten, muss die Intervention vielmehr das Ziel verfolgen, dass übergriffige Kinder mit Übergriffen aufhören – unabhängig davon, wie wehrhaft ihr Gegenüber ist.
Gespräch mit dem übergriffigen Kind
In diesem Sinne ist das Gespräch mit dem übergriffigen Kind zu führen. Das souveräne Auftreten der pädagogischen Fachkraft ist für das Gelingen des Gesprächs entscheidend. Das Kind muss erleben, dass seine Macht ihr Ende findet, sobald sich Erwachsene einschalten. Es empfiehlt sich, das Gespräch nicht mit Fragen zu eröffnen („Weißt du, warum ich mit dir reden will?“, „Warum machst du so was?“), sondern das Kind mit seinem Verhalten zu konfrontieren und den Vorfall selbst zu beschreiben – aber nicht nur zu umschreiben! Die Deutlichkeit vermittelt, dass die Erzieherin bzw. der Erzieher Bescheid weiß und es ihr/ihm nicht zu peinlich ist, darüber zu reden. Fragen nach dem Vorfall geben übergriffigen Kindern erfahrungsgemäß zu viel Raum für Abwehr, Ausflüchte und führen kaum zu Einsicht oder Reue. Will das Kind den geschilderten Vorfall so nicht zugeben, sollte man hier keinen unnötigen Druck aufbauen. Denn man muss sich mit dem Kind nicht einigen oder gar diskutieren, wie der Vorfall war, das weiß man ja von den betroffenen oder beobachtenden Kindern.
Das übergriffige Verhalten muss bewertet, als Unrecht bezeichnet und für die Zukunft strikt verboten werden. Das übergriffige Kind soll sich aber nicht als Person abgelehnt fühlen, sondern merken, dass sein Verhalten gemeint ist. Eine klare und entschiedene Intervention ist letztlich nicht zum Nachteil des übergriffigen Jungens oder Mädchens, sondern gibt ihm die Chance sein Verhalten zu ändern.
Pädagogische Maßnahmen
Gewinnt man den Eindruck, dass dieses Gespräch das übergriffige Kind erreicht hat, dass es sein Fehlverhalten eingesehen hat, so dass es keine weiteren Übergriffe versuchen wird, kann das Gespräch als pädagogische Maßnahme genügen. Gerade bei jungen Kindern ist dies manchmal ausreichend. In den meisten Fällen sind aber weiter gehende Maßnahmen erforderlich, sonst entsteht der Eindruck: „die reden ja nur“. Maßnahmen zielen auf Verhaltensänderung durch Einschränkungen, Kontrolle und (im Idealfall) durch Einsicht. Sie müssen befristet werden, damit sich die Verhaltensänderung lohnt. Zum Beispiel könnte man im oben genannten Beispiel, in dem die Toilettentür verriegelt wurde, dem übergriffigen Jungen auferlegen, für eine überschaubare Zeit nur noch alleine die Toilette aufzusuchen, sich vorher abzumelden und anschließend zurückzumelden.
Maßnahmen sollten nur das übergriffige Kind einschränken – nicht das betroffene. Deshalb wäre es nicht sinnvoll, dem betroffenen Mädchen anzubieten, Bescheid zu sagen, wenn sie die Toilette aufsuchen will, damit man sie zu ihrem Schutz begleiten kann. Das Team und insbesondere die Leitung müssen informiert werden, denn Kommunikation und Einigkeit im Team sind wichtig, damit die konsequente Umsetzung der Maßnahmen gelingt. Zudem empfiehlt es sich, Vorfälle und die ergriffenen Maßnahmen zu dokumentieren – nicht zuletzt, um bei Wiederholungen nicht auf bloße Erinnerungen angewiesen zu sein.
Kommunikation mit den Eltern
Der fachliche Umgang mit sexuellen Übergriffen erfordert, die Eltern der beteiligten Kinder zu informieren – Transparenz ist das oberste Gebot –, ihnen bei der Einordnung und Bewertung des Vorfalls zu helfen und sie für das fachliche Vorgehen der Einrichtung zu gewinnen. Die Kommunikation mit den Eltern ist oft von hoher Emotionalität geprägt, weil sie stellvertretend für ihre Kinder reagieren. Als Erwachsene stehen ihnen aber ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung: mehr Nachdruck und Lautstärke, Drohungen mit Abmeldung, mit Presse oder sogar mit Strafanzeigen. Gemeinsame Gespräche zwischen allen Beteiligten sind auch hier nicht anzuraten, zu unterschiedlich sind ihre Interessen.
Entsteht bei Eltern betroffener Kinder der Eindruck, dass die Situation ihres Kindes nicht ernst genommen wird, empfinden sie die Kita schnell als Gegner. Hier ist eine professionelle, besonnene Reaktion gefragt, die sich aktiv um das Vertrauen der Eltern bemüht, den Vorfall nicht bagatellisiert und auch Bedauern ausdrückt, dass ihrem Kind das in der Einrichtung angetan wurde. Hier geht es nicht um Schuldfragen, sondern um ein Zeichen, das in der Realität viele Eltern vermissen.
Aber auch die Eltern übergriffiger Kinder sind auf ihre Art bedürftig: Viele schämen sich für ihr Kind, manche befürchten, dass ihre Erziehung verantwortlich gemacht wird oder Gerüchte aufkommen, dass sexuelle Gewalt in ihrer Familie vorkommt. Die Erfahrungen zeigen, dass Eltern übergriffiger Kinder eher bereit sind, an einer Lösung des Problems mitzuwirken, wenn sie spüren, dass die Lösung sich nicht gegen ihr Kind richtet, sondern dass es letztlich davon profitiert, weil ihm wichtige Grenzen gesetzt werden.
Für die Einbeziehung von Eltern gibt es eine Ausnahme: Besteht der Verdacht, dass das Kind zu Hause sexuelle Gewalt erfährt, sind nicht die Eltern zu informieren, sondern eine Fachberatungsstelle einzuschalten.
Die Chance zur Prävention in der Kindergruppe
Oft macht es Sinn, in der Kindergruppe darüber zu sprechen, was vorgefallen ist und welche Maßnahmen für das übergriffige Kind nun gelten. Die unbeteiligten Kinder lernen, dass es sich lohnt, Bescheid zu sagen, sich Hilfe zu holen und dass das kein Petzen ist. Und potentielle Nachahmer merken schnell, dass sie damit rechnen müssen, dass Übergriffe bekannt werden und unangenehme Konsequenzen drohen. Manchmal ermutigen Gespräche in der Gruppe andere Kinder, die selbst betroffen sind, sich anzuvertrauen. In einigen Fällen lösen sie sogar einen Dammbruch aus und fördern komplexe Übergriffs-Geschehen zutage, in die viele Kinder über lange Zeiträume involviert waren.
Wenn Kinder im Alltag spüren und tatsächlich erleben, dass ihre Erzieherinnen und Erzieher keine Angst vor diesen Themen haben, dass sie von sexuellen Übergriffen wissen wollen und tatsächlich helfen können, dann leistet die Einrichtung einen wertvollen Beitrag zur Prävention von sexualisierter Gewalt.
Ulli Freund ist Diplom-Pädagogin und Fachberaterin in Berlin.
Literatur
Freund, U., Riedel-Breidenstein, D. (2004/2006): Sexuelle Übergriffe unter Kindern. Handbuch zur Prävention und Intervention. Köln.
Quelle: Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus frühe Kindheit, Ausgabe 6-15, S. 22-28
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