
Planung oder Zuversicht - was braucht die Frühpädagogik?
Die Frühpädagogik ist inzwischen ein Feld, in dem Planungsprozesse bis hin zu didaktischen Überlegungen eine große Rolle spielen. Ob dies gut für die Kinder ist und was die zunehmende Bedeutung für Kinder und Fachkräfte bewirkt, haben wir einen Experten gefragt, der sowohl in der Kinder- und Jugendhilfe wie auch als Lehrer langjährige Erfahrungen hat.
ErzieherIn.de: Die Frühpädagogik bemüht sich, Bildungsprozesse bei Kindern zu planen. Können Sie anhand konkreter Beispiele sagen, wann und wo Planung in die Irre führt?
Ulrich Frischenschlager-Rempe: Wenn ein Kindergarten größten Wert auf Planung des Jahresablaufs, der Woche und des Tages legt, entsteht ein pädagogisches Klima der Verplanung, das immer weniger Raum lässt für die tatsächlichen Interessen der Kinder, die sich ja nicht notwendigerweise mit den Jahreszeiten oder den christlichen Festen im Jahreslauf decken. Massive Planung widerspricht im Grunde schon dem Situationsansatz, in dem die Interessen des Kindes und seine aktuelle Situation im Mittelpunkt stehen sollten – beides lässt sich m.E. nicht vorausplanen, sondern braucht erzieherische Flexibilität und kreativen Umgang mit den Themen der kindlichen Weltaneignung. Wenn die Planung sogar noch weiter geht und Kinder etwa beim Kochen oder Plätzchen backen die kleinsten Schritte vorgeschrieben und vorgemacht bekommen, wirkt das für das Ziel der selbständigen Welterkundung geradezu dysfunktional
ErzieherIn.de: Welche Elemente kindlicher Entwicklung sind bei einem Übermaß an Planung gefährdet?
Ulrich Frischenschlager-Rempe: In erster Linie wird die Selbständigkeit des Kindes verhindert. Wenn mein Tun und Lassen ge- und verplant ist, verliere ich Initiative und Eigenverantwortung, weil ich schon früh daran gewöhnt wurde, andere für mich entscheiden zu lassen. Darüber hinaus verkümmert die kindliche Fantasie, denn die pädagogische Planung sieht ja auch fertige Ergebnisse vor, die eine vordefinierte Qualität haben sollen – man denke nur etwa an die ausgeschnittenen Schneemänner, die alle gleich aussehen und immer noch die Fenster vieler Kindergärten „zieren“. Selbstwirksamkeit kann auf diese Weise kaum entstehen. Abgesehen davon machen Pläne immer anfällig für die pädagogisch nicht unumstrittene Ergebnisorientierung, für die der wertvolle Prozess des Suchens und Lernens viel zu oft geopfert wird. Kinder brauchen lebendiges Lernen und keinen Nürnberger Trichter!
ErzieherIn.de: Ist dies nicht eher ein Problem der schulischen Bildung? In der Kita gibt es doch mehr Freiheit, oder?
Ulrich Frischenschlager-Rempe: Ich denke, dass wir sehr achtsam sein müssen, wenn es um´s Lernen geht. Viele meiner Schülerinnen verhalten sich in der Praxis so, als wären sie die Lehrerin, die alles zu wissen hat und den Kindern etwas „beibringen“ muss. Und wenn man sich manche Jahrespläne oder didaktisch-methodische Überlegungen zu einem sozialpädagogischen Angebot bei einem Praxisbesuch anschaut, kommt man oft nicht von dem Eindruck los, dass hier noch ein Denk- Modell am Wirken ist, das eigentlich aus dem Studienseminar älterer Prägung stammt: die künftige Lehrerin muss sich komplett fit machen hinsichtlich ihrer Unterrichtsstunde, darf keinerlei fachliche Schwächen und Unsicherheiten zeigen, muss methodisch alles durchgeplant haben . Und umgekehrt wird dann von den Kindern erwartet, dass sie sich plangemäß verhalten – und jedes Verhalten, das nicht in der didaktischen Analyse „vorausberechnet“ ist, kann das ausgearbeitete Konzept ins Trudeln bringen!
Ich glaube, dass sich „pädagogischer Geist“ in der KiTa wie in der Schule in allererster Linie speisen muss aus einem Sich-Einlassen auf Kinder und ihre Neugier und nicht aus Lehrplänen, die oft genug entworfen werden von Leuten, die sich schon lange sehr weit von der Praxis entfernt haben... Ich glaube also, man muss heute mehr noch als früher den „Freiraum Kindergarten“ einklagen, pflegen und gegen die verführerischen Verschulungstendenzen in Schutz nehmen. So lange sich Kindergärten allzu gerne an vorgestanzte Kopiervorlagen vom Ausschneide-Bogen bis zum Portfolio halten, sehe ich diese Gefahr durchaus als bedrohliche Größe.
ErzieherIn.de: Welches Bild vom Kind brauchen die Fachkräfte, um die Balance zwischen Struktur und Freiheit sinnvoll zu gestalten? Gibt es dafür in der Pädagogik Vorläufer/innen?
Ulrich Frischenschlager-Rempe: Wenn es ernst werden soll mit der kindlichen Weltaneignung durch „Ko-Konstruktion“ und Ausschöpfung der Ressource „Neugier“, dann braucht es ein Bild vom Kind, das als kompetentes Wesen definiert wird, von Anfang an. Jedes Kind will „von Natur aus“ seine Welt begreifen und erfassen, dafür braucht Pädagogik nicht zu sorgen. Wofür sie sorgen muss: Kindern Strukturen bereitstellen, die ein wirkliches „Forschen“ erlauben, gründlicher und selbstbestimmter als im „Haus der kleinen Forscher“ mit seinen vorgegebenen verblüffenden Übungen. Dazu braucht es z.B. flexible Zeitgestaltung (siehe oben), aber auch den Mut, Dinge zuzulassen, die nicht immer ungefährlich sind und ein pädagogisches Risiko beinhalten . Kinder können sich bei einer Waldwoche verletzen oder von einer Leiter der Bewegungsbaustelle fallen. Oder: die Erzieherin kann bei einem „Kartoffelprojekt“ den Kindern mit einem Rezeptplakat erklären, wie man Kartoffelbrei macht – sie kann aber auch die Kinder in einem langen und anstrengenden Erfahrungsprozess erleben lassen, wie verschiedene Versuche der Herstellung von Kartoffelbrei scheitern – von der Zerkleinerung roher Kartoffeln mit dem Hammer bis zum Risiko heftig angebrannter Kartoffeln. Sie hat damit „völlig ungeplant“ Kindern die unschätzbare Erfahrung des gründlichen, selbständigen und fehlerfreundlichen Ausprobierens vermittelt, die keine Planung ersetzen kann.
Das Bild vom Kind müsste sich also wandeln von dem zu bewahrenden kleinen Erwachsenen hin zum erfahrungshungrigen Wesen, dem viel zugetraut und viel zugemutet werden kann. Vorläufer solch einer Pädagogik sind zum Beispiel die Sensualisten, die der sinnlichen Erfahrung den wichtigsten Part in der Erziehung zuschrieben. Die Meisterschaft in der praktischen Umsetzung ist für mich in der Reggio-Pädagogik erreicht.
ErzieherIn.de: Die andere Frage ist natürlich: Welches Bild von ihrer eigenen Tätigkeit muss eine Fachkraft haben, die diese Balance aushält?
Ulrich Frischenschlager-Rempe: Sie muss sich verabschieden von der Selbst-Definition als „Beibringerin“ und „Belehrerin“, und sie sollte sich verstehen als Begleiterin, die bereit steht, um dem Kind nach seinen Themen und Interessen jene Erfahrungen zu ermöglichen, die es braucht, um die Welt für sich zu erfahren.
ErzieherIn.de: Die Ausbildung von ErzieherInnen geht nach der Einführung des Qualifikationsrahmens doch wohl in eine andere Richtung. Hier wird die Vermittlung von Inhalten geplant, als wenn die SchülerInnen und Studierenden eine Art Nürnberger Trichter wären. Was empfehlen Sie den Ausbildungssstätten, um trotzdem exemplarisches Lernen zu ermöglichen?
Ulrich Frischenschlager-Rempe: Reduzierung des Frontalunterrichts und den Mut zu Projekten, bei denen Ausgang und Ergebnis offen sind, bei denen man mehr aus dem lernt, was schief geht als aus dem, was reibungslos gelingt; ferner den Mut, die Stundenplangerechtigkeit auf dem Altar des lebendigen Lernens zu opfern. Dies gilt übrigens nicht nur für Fachschulen, sondern durchaus auch für die Bachelor-Ausbildung!
Es ist völlig klar, dass dies nicht von jetzt auf nachher gehen wird, aber wie soll jemand, der nur auf Fächer, Noten und vorgedachte Ergebnisse zu schielen gelernt hat, jene Generation von Kindern erziehen und fördern, an der nach allgemeiner Ansicht unser aller Zukunft hängt? Ferner wäre mir wichtig, auch bei SchülerInnen nach dem Prinzip „nicht gegen die Schwächen, sondern mit den Stärken“ zu arbeiten, fehlerfreundlich zu sein, Querdenken und Kreativität zu fördern, mehr Wert zu legen auf Nachdenken und weniger auf Fakten lernen.
ErzieherIn.de: Wissenschaften, die sich in den Ausbildungen niederschlagen, haben oft den Kontakt zu den Kindern, um die es eigentlich geht, verloren. Wie können Lehrkräfte damit umgehen, ohne die Wissenschaftlichkeit der Lehre zu gefährden?
Ulrich Frischenschlager-Rempe: Je älter ich werde, desto unbestimmter kommt mir das vor, was allgemein für „Wissenschaft“ gehalten wird. Pädagogik und Psychologie fühlten sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts als unpräzise und eher spekulative Geisteswissenschaften diffamiert. Sie zogen für sich den Schluss daraus, den Nachweis ihrer Wissenschaftlichkeit in erster Linie durch die Konzentration auf empirische Denkweisen und Untersuchungsmethoden zu führen – für mich nicht immer der beste und vernünftigste Weg ; oft genug kam kaum mehr dabei heraus als Zahlenfixiertheit zwischen Prozenträngen und Korrelationskoeffizienten. Andrerseits möchte ich Wissenschaftlichkeit nicht definieren ohne eine größtmögliche „Objektivität“. Daraus ergibt sich für die Ausbildung in der Frühpädagogik die Notwendigkeit, den Spagat zu schaffen zwischen objektiven, also intersubjektiv nachvollziehbaren und möglichst allgemein gültigen Konzepten und Handlungsstrategien einerseits und einer Art „gesundem pädagogischen Menschenverstand“ als vernunft- und erfahrungsgeleitetem Alltagswissen, das in letzter Zeit wieder salonfähig wird. Wie das im einzelnen geht, kann, glaube ich, nicht für jeden allgemein verbindlich gesagt werden; jungen KollegInnen würde ich raten: untermauert das, was für Euch als gesichertes Wissen und als gültige Theorie richtig ist, mit Eurer persönlichen Überzeugung, und nährt diese Überzeugung sooft es geht aus dem Kontakt zu Kindern!
ErzieherIn.de: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Hilde von Balluseck.
Dr. Ulrich Frischenschlager-Rempe, Jahrgang 1951, Diplompädagoge, Erziehungswissenschaftler; beruflich tätig in verschiedenen Feldern der Sozialpädagogik (Resozialisierung, Heimerziehung, Stadtteilarbeit, Tagesgruppen, Forschungsprojekt, Lehrer an einer soz.päd. Fachschule) Interessiert an lebendigem Lernen ... Kontakt: UFRBL@t-online.de
Ergänzung: Am 20.1. konnten wir zwei neue Beiträge mit ähnlicher Thematik einstellen: https://www.erzieherin.de/hinter-einer-waschmaschine-lag-eine-zitrone.php und https://www.erzieherin.de/jetzt-haben-wir-das-geschafft.php
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