Eltern mit Kind

Zeitdruck und die Probleme der Kinder mit Situationswechsel

Dr. Erika Butzmann

17.02.2023 | Fachbeitrag Kommentare (0)

Zeitdruck, ein typisches Merkmal unseres beschleunigten Lebens, verschafft den Kita-Kindern immer wieder Probleme beim Wechsel von Situationen. Das betrifft sowohl das Verlassen der Wohnung als auch das Abholen aus der Kita oder anderen Zusammenhängen. Seit einiger Zeit sind Situationswechsel im Mikrobereich das große Thema in den Fachzeitschriften für Kitas. Die Hilfen bei solchen Übergängen stellen hohe Anforderungen an die Fachkräfte, weil es noch eine zusätzliche Arbeit bedeutet. Hierbei handelt es sich vorwiegend um die normalen Dinge im Alltag, wie Windelnwechseln oder zum Essen kommen, die den Kindern auf Dauer nur in belastenden Situationen Probleme bereiten, im Normalfall also zu vernachlässigen wären. 

Wie sieht es jedoch mit dem für Vorschulkinder wirklich problematischen Wechsel von Situationen und Räumen aus? 

Es ist zwar bekannt, dass vielen jüngeren Kindern der tägliche Eintritt in die Krippe schwer fällt und dass viele der Kinder morgens zu Hause bleiben wollen. Hier sind die Ichbezogenheit und die Trennungs- und Verlassenheitsängste des Kindes die Ursache. Doch auch die Kinder, die solche Ängste nicht mehr haben, reagieren mit großer Unruhe. Erzieherinnen und Eltern kennen das Verhalten der Kinder sehr gut, wenn eine bestimmte Raumveränderung ansteht. Am häufigsten zeigt sich das beim Abholen des Kindes aus dem Kindergarten, bei Verwandten, bei anderen Betreuungspersonen oder bei Spielkameraden. Die Kinder werden unruhig, manche schreien, werden aggressiv gegenüber anderen Kindern oder gehen über Tische und Bänke. Ungerichtete Impulse bestimmen das Verhalten. Dabei ist es unerheblich, ob ein Kind über das Hinzukommen einer Person erfreut ist oder nicht. In Spielsituationen protestieren zunächst fast alle Vorschulkinder, wenn ein weiteres Kind mitspielen will.

Es geht um Situationen, die räumlich begrenzt und strukturiert sind mit bestimmten Gegenständen und Personen. Wenn eine solche Situation verändert wird durch Hinzukommen einer weiteren Person oder auch durch Veränderungen des Ortes, reagieren viele der Kinder heftig darauf. 

Das Kind hängt in der augenblicklichen Situation fest. Es sträubt sich, wenn es zu Veränderungen kommt. Das kann das Weggehen von zu Hause betreffen, das Abholen aus der Kita, die Raumwechsel in der Kita oder auch Veränderungen innerhalb eines bestimmten Raumes. Das Weggehen vom Spielplatz gehört ebenso dazu. Nur wenn es in der Kita nach draußen gehen soll, sind die Kinder voll dabei und rennen schon los. Das liegt am tiefsitzenden Bewegungsdrang der Kinder, der sie aus der Begrenztheit der Innenräumen und der Gruppe nach draußen zieht. In allen anderen Fällen fällt dem Kind der Wechsel von einer in die andere Situation schwer, wenn dieser nicht von ihm selbst initiiert ist.

Das Verhalten der Kinder hat nur wenig mit der Störung einer Gewohnheit zu tun oder weil die Situation gerade so schön war, auch wenn das eine gewisse Rolle spielt. Ebenso wenig steckt eine Verweigerungshaltung dahinter. Es geht hier um eine Besonderheit im Denken der Kinder zwischen drei und fünf Jahren, die sie so handeln lässt. Alle werden sich erinnern: als während der Corona-Pandemie die Eltern zum Bringen und Abholen des Kindes in der Kita draußen bleiben mussten, gab es diese Probleme nicht. Was steckt also dahinter?

Kinder haben in den ersten vier bis fünf Lebensjahren Probleme, zwei verschiedenen Standpunkte, Situationen oder Wahrnehmungen zusammen zu denken. Sie leben noch in der aktuellen Situation; je jünger sie sind, desto stärker hängen sie in einer Situation fest. Was über die augenblickliche Situation hinaus geht, können sie nicht bedenken (Selman 1982, S. 240). Mit vier Jahren wissen sie zwar, dass andere auch Gedanken im Kopf haben und diese anders sind als die eigenen, sie können die beiden Sichtweisen aber nur nacheinander und nicht gleichzeitig bedenken (Piaget 1981, S. 234f.), also nicht gegeneinander abwägen. Für den Situationswechsel bedeutet das, sie stecken in der einen Situation fest und können sich in die mögliche andere gedanklich nicht hineinversetzen, auch wenn diese andere Situation eigentlich bekannt und vertraut ist. Dieser Gedankensprung ist kleinen Kindern lange nicht möglich. Gibt es eine Veränderung durch das Hinzukommen einer neuen Person, sind sie irritiert und versuchen, das einzuordnen - was länger dauert und von negativen Gefühlen begleitet wird. Auch in häuslichen Sitationen ist das so. Kommt der Vater oder die Mutter von der Arbeit, freut sich das Kind zwar, wird aber hoch unruhig und manchmal auch ungehalten. Gerade diese widersprüchlichen Gefühle kann das Kind noch nicht zusammenbringen und reagiert auffällig darauf. Das passiert auch, wenn Freunde der Familie kommen. Es dauert je nach Verfassung des Kindes länger, bis es sich gedanklich von der alten Situation lösen und die neue Situation beachten kann. Hier ist es hilfreich, wenn derjenige, der in die Situation hineinkommt, nur eine kurze Begrüßung von sich gibt und gleich wieder verschwindet. Das können die Kinder gut verarbeiten und laufen dann  meistens dem oder der Heimkommenden hinterher.

Das Gleiche gilt für die von den Erwachsenen geforderten räumlichen Veränderungen. Der Kinderpsychiater Schulte-Markwort berichtet von einem Vierjährigen, der diesen Zustand so beschreibt: „Es ist wie eine Maus in meinem Bauch, die läuft so wild; da kann ich nichts dagegen machen.“ (Abendblatt.de/ratgeber/wissen/article111533868/Ungebremste-Gefuehle-die-affektive-Dysregulation).

Eine Mutter schildert die Abholsituationen am Mittag in der Kita besonders dramatisch: Ich erlebe meistens ein bockiges, trotziges, trödeliges Kind. Jeden Tag lerne ich eine andere Tieflage kennen, die die Tonleiter kindlicher Emotionen zu bieten hat. Und in jedem Fall betrete ich ganz, ganz dünnes Eis, sobald ich durch die Tür zur Kita gehe. Der Dreijährige war laut Erzieherin eben noch der reinste Sonnenschein und mutiert plötzlich zur nervtötenden Zerreissprobe. «Hat er sich denn gar nicht auf mich gefreut?», frage ich die Erzieherin. «Doch, das hat er», antwortet sie.

Es ist dem Kind einfach nicht möglich, die beiden Wahrnehmungen zusammen zu erfassen.

In den Abholsituationen ist es egal, ob es die Eltern sind oder eine andere Person, die Reaktionen sind die gleichen. Das Kind kann in dem Augenblick nur den formalen Aspekt der Veränderung beachten, den inhaltlichen jedoch nicht gleichzeitig berücksichtigen. Es spürt nur die Veränderung der Situation durch die Eltern. Die Freude über das Erscheinen der Eltern kommt noch nicht zum Vorschein. Denn das Kind kann mit widersprüchlichen Gefühlen einfach noch nicht umgehen (Kegan 1986, S. 126). Nur die Kinder, die auf das Abholen fixiert sind, kommen sofort zu den Eltern. Das heißt, sie haben die ganze Zeit gewartet und sind in Gedanken schon in der Abholsituation.

Die Irritation der betroffenen Kinder bleibt bestehen, bis sie ganz aus dem Haus (der vorherigen Situation) raus und auf der Straße oder im Auto sind. Gespräche zwischen Tür und Angel mit anderen Eltern oder einer Erzieherin werden dann gar nicht vertragen. Diese machen dem Kind richtigen Stress, weil der schwierige Übergang von der einen zur anderen Situation zu lange anhält. Deshalb stören die Kinder massiv solche Gespräche. In diesen Fällen helfen alle Erklärungen der Erwachsenen nicht. Die Kinder brauchen für den Übergang eine Hilfe.

Die Hilfe besteht im Kurzhalten des Übergangs. Beim Abholen könnte das so aussehen, das spielende Kind kurz zu begrüßen und den Raum gleich wieder zu verlassen mit den Worten, dass es kommen soll, weil die Mutter/der Vater draußen wartet. Der Erinnerung durch die Erzieherin an diese Aufforderung wird das Kind nach einer Weile folgen. Dann geht es aktiv und bewusst aus der augenblicklichen in die neue Situation zu den Eltern. 

Häufig sind die drei- bis vierjährigen Kinder in der dann erforderlichen Anziehsituation noch auf die Unterstützung durch die Erzieherin angewiesen, damit die Übergangssituation kurz gehalten werden kann. Die älteren Kinder benötigen häufig noch gutes Zureden. Die Unterstützung der Eltern beim Anziehen in der Kita ist nur in ruhigen Situationen hilfreich, ansonsten sollten die Erzieherinnen beim Anziehen helfen, weil sie zur ursprünglichen Situation gehören. Es kostet die Erwachsenen weniger Zeit, wenn sie kurz helfen, statt lange zu warten, bis die Kinder sich angezogen haben. Die Befürchtung, die Kinder würden es so nicht lernen, sich selbst anzuziehen, ist unbegründet. Sie müssen nur ein entwicklungsbedingtes Problem überwinden, dann können sie sich auch wieder allein anziehen.

Zu Hause beim morgendlichen Ritual wird dieses Problem verschärft durch das Trödeln der Kinder. Hier müssen von den Kindern zwei Hindernisse bewältigt werden, die erst nach dem fünften Geburtstag zu handhaben sind. Obwohl sie teilweise schon über Jahre das morgendliche Weggehen aus dem Haus kennen, ist der damit verbundene Situationswechsel nicht in ihrem Denken verankert, weil der Reifungsgrad des Gehirns dies nicht hergibt. Dazu kommt der Zeitdruck durch die Eltern, mit dem die Kinder noch gar nicht umgehen können. Sie leben bis fast zum Schulalter in der aktuellen Situation und haben noch kein kulturelles sondern ein archaisches Zeitverständnis. Die Eile der Eltern verstehen sie gar nicht. Sie trödeln unbewusst und entziehen sich dem Druck  (vgl. Butzmann 2020, S. 144 f.). Die Kinder sind durch ihre Denkweise mit den Ansprüchen der Erwachsenen total überfordert, so dass das Trödeln eine hilflose Reaktion ist. Besonders beim Anziehen kommt das zum Ausdruck. Um den Kindern zu helfen und den morgendlichen Stress zu reduzieren, ist es angebracht, die Kinder anzuziehen, obwohl sie es selbst können. Sie empfinden das Anziehen durch die Eltern in dieser Situation als Zuneigung, besonders wenn der Stress schon alle erfasst hat. Das Anziehen dauert dann nicht so lange und die Kinder lassen sich eher auf das Weggehen ein. Ein Verwöhneffekt ist nicht vorhanden, weil das Kind die Hilfe braucht.

Bei einem allgemeinen Tohuwabohu mit den vielen Kindern an der Garderobe lässt sich die Anziehsituation besser steuern, wenn ErzieherInnen und Eltern diese Situationswechselprobleme der Kinder im Blick haben.

 

Literaturangaben:

Butzmann, Erika, 2020. Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung. Gießen: Psychosozialverlag

Kegan, Jerom, 1986. Die Entwicklungsstufen des Selbst. München: Kindt.

Piaget, Jean, 1981. Urteil und Denkprozess beim Kind. Frankfurt: Ullstein.

Selman, Robert, 1982. Sozial-kognitives Verständnis. In: Dieter Geulen (Hg.), Perspektiveübernahme und soziales Handeln, S. 223-256, Frankfurt: Suhrkamp.

Autorin:
Dr. Erika Butzmann
Entwicklungspsychologin 
Erziehungswissenschaftlerin
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