
Psychisch gestört oder "nur" verhaltensauffällig? Kooperation von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem schwierigen Dunkelfeld
Dies war der Titel einer Tagung, die nun zum zweiten Mal von der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik am 13./14. Januar in Berlin, in Kooperation mit der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, durchgeführt wurde. Eine Tagung mit gleichem Titel hatte es schon im November gegeben. Weil das Interesse in den Kommunen und kinder- und jugendpsychiatrischen Diensten so groß war, wurde sie mit den gleichen ReferentInnen wiederholt. 262 TeilnehmerInnen hatten sich angemeldet – aus allen Gegenden Deutschlands, aus Großstädten von München bis Hamburg, aus den ländlichen Gebieten von Bayern bis Schleswig-Holstein. Fachlich trafen sich hier MedizinerInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, VertreterInnen von Kommunen. Das große Interesse zeigte, dass das Thema sowohl den Kommunen, die die Jugendhilfekosten tragen, wie auch den kinder- und jugendpsychiatrischen Diensten und Kliniken auf der Seele bzw. im Magen liegt.
Der Anlass für die Tagung
Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie beziehen sich auf die gleichen Problemlagen und haben die gleiche Zielgruppe. Eine steigende Zahl von Kindern und Jugendlichen benötigt Leistungen aus beiden Systemen. Diese funktionieren aber nach unterschiedlichen Verwaltungs- und Finanzierungssystematiken und die Kooperation ist oft nicht ausreichend.
Oft kommt eine Jugendhilfeeinrichtung mit Jugendlichen nicht klar, die dann an die Psychiatrie überwiesen werden. Von dort werden sie häufig wieder an die Jugendhilfe zurück überwiesen, ohne dass eine Anschlussmaßnahme vorhanden oder erörtert worden wäre. Von daher ist die Jugendhilfe, aber auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie oft ein Verschiebebahnhof. Sehr bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die fehlende Evaluation von Indikationsstellung und Angemessenheit der Hilfen. Sie führt zu Fehlentscheidungen, die nicht nur kostenintensiv sind, sondern für Kinder, Jugendliche und Familien zusätzliches Leid bedeuten.
Das Ausmaß des Problems
Die Kooperation zwischen beiden Systemen ist umso dringlicher, als enorme Steigerungsraten der Klientel in Psychiatrie und Jugendhilfe zu verzeichnen sind.
20 % aller Kinder und Jugendlichen gelten als verhaltensauffällig. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie zählt heute doppelt so viele PatientInnen wie in den 90er Jahren. Der Abbau von Betten und Personal wirkt sich hier äußerst negativ aus.
Die Ursachen für psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen sind sehr oft in der frühen Kindheit zu suchen. Wenn Eltern nicht genug Bindungsangebote an ihre Säuglinge und Kleinkinder machen können, weil sie möglicherweise selbst psychisch krank sind oder wenige psychische und soziale Ressourcen haben, wenn Kindern zu wenig Zeit von ihren wichtigsten Bezugspersonen eingeräumt wird, oder wenn Gewalt und Missbrauch in der Familie das Vertrauen der Kinder in sich und die Welt zerstören, dann können sie Symptome entwickeln, die zu Auffälligkeiten bis hin zur psychischen Erkrankung führen. Jugendliche, die eine lange „Karriere“ als KlientInnen der Jugendhilfe aufweisen und als besonders schwierig gelten, sind zumeist Frühgestörte, bei denen nicht rechtzeitig und nicht mit den angemessenen Methoden interveniert wurde. Professor Dr. Ute Ziegenhain, Psychologin am Ulmer Universitätsklinikum, sprach von Auffassungen, nach denen sich jede Prävention jenseits des Vorschulalters nicht mehr rechne. Der größte Mangel ist nämlich die zu späte Hilfe für Kinder in Not, die ihren Eltern und deren sozialer und psychischer Situation hilflos ausgeliefert sind. Kindertageseinrichtungen haben von daher eine außerordentlich wichtige präventive Funktion, denn nur dort können frühpädagogische Fachkräfte sehr früh dafür sorgen, dass den Familien – denn es sind ja auch die Eltern in Not – unterstützt werden. Von daher kann nicht genug darauf hingewiesen werden, dass eine gute Ausbildung von ErzieherInnen und ein guter Personalschlüssel in den Kitas eine der besten Präventionsmöglichkeiten darstellt.
Psychische Störungen treten nicht überall in gleichem Umfang auf. In den reichen Ländern sind Depressionen die wichtigste Erkrankung, es handelt sich, so Prof. Dr. Jörg Fegert, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie am Klinikum Ulm, um einen „Wachstumsmarkt“. Soziale Lagen haben daran einen erheblichen Anteil. So sind Hartz-IV-EmpfängerInnen, die nur beschränkt in die gesellschaftliche Teilhabe einbezogen sind, häufiger betroffen.
Auch in der Jugendhilfe steigen die „Fallzahlen“, wie sich an den Kosten für die Hilfen zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) ablesen lässt. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin – so der Leiter des dortigen Jugendamts, Thomas Harkenthal - gab in 2010 allein für Hilfen zur Erziehung 30 Millionen € aus, in ganz Berlin betrug die Summe 410 Millionen. Die Steigerungsrate in Berlin beträgt 8-10 % jährlich. In München – so die Leiterin des dortigen Jugendamts, Dr. Maria Kurz-Adam - stiegen die Ausgaben für erzieherische Hilfen von 2007 bis 2010 von 158 auf 205 Millionen €. Die steigenden Kosten sind sowohl auf die höhere Zahl von Anspruchsberechtigten wie auf höhere Kosten pro Fall zurückzuführen.
Maria Kurz-Adam entwickelte eine zusätzliche Perspektive auf diese Zahlen. Sie fragte, ob nicht menschliches Leid zum Aufwachsen dazugehöre und möglicherweise zu häufig zum Gegenstand der Jugendhilfe gemacht würde. Können wir, so Kurz-Adam, Verzweiflung als Grundproblem akzeptieren oder müssen wir sie als psychiatrisches Problem sehen? Muss die Jugendhilfe Eltern, die hysterisch auf Leistungsprobleme ihrer Kinder reagieren, unterstützen oder sollte sie nicht eher Verbündete der Kinder und Jugendliche sein? Denn diese, auch darauf wies Kurz-Adam hin, brauchen in erster Linie Zeit, Zeit für sich und Zeit in und für Beziehungen und Bindungen. Dass es daran oft fehlt ist der Grund für viele psychische Störungen und Auffällligkeiten.
Fasst man die Vorträge zusammen, so lässt sich sagen, dass die Not der Kinder- und Jugendhilfe eine größere ist als die der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das liegt primär an der Finanzierung. Während Kosten für die Kinder- und Jugendpsychiatrie über Krankenschein gehen, muss in der Jugendhilfe ein kompliziertes Genehmigungssystem berücksichtigt werden, die Kosten tragen die Kommunen. Und jede/r weiß um die finanzielle Klemme, in der sehr viele deutsche Kommunen stecken.
Mängel der beiden Systeme
Die Ärzteschaft ist im Allgemeinen für kinder- und jugendpsychiatrische Probleme nicht ausreichend qualifiziert, weil die Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Approbationsordnung kein Pflichtfach ist. So verschreiben HausärztInnen Medikamente, ohne ausreichende Kenntnis der zugrunde liegenden Störungen und der medikamentösen Möglichkeiten.
Die Bestechlichkeit vieler ÄrztInnen und damit unangemessene Medikationen brachten ausgerechnet die Chefärztin Prof. Dr. Renate Schipker und der Chefarzt Prof. Dr. Jörg Fegert ins Gespräch. Beide versicherten, dass sie keine finanziellen Mittel der Pharma-Industrie erhalten. Es ist zwar traurig, dass ÄrztInnen heute solch eine Aussage machen müssen, um ihre Integrität unter Beweis zu stellen. Für die beiden Mediziner ergab sich jedoch eine erhöhte Glaubwürdigkeit für alle ihre Aussagen.
Ein Mangel der Jugendhilfe sind ihre fehlenden Ressoucen, die dazu führen, dass sie Kinder oder Jugendliche nicht (mehr) aufnehmen kann. Aber auch hier gibt es Professionelle, die für die anstehenden schweren Aufgaben nicht ausreichend qualifiziert sind.
Beklagt wurde von beiden Seiten, dass eine Anschlusseinrichtung nach Verlassen einer psychiatrischen Einrichtung von seiten der Jugendhilfe oft nicht gegeben oder nicht entsprechend ausgestattet ist. Renate Schipker vom Zentrum für Psychiatrie in Ravensburg berichtete von den Schwierigkeiten von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, bei sehr schweren psychischen Störungen Hilfe zu leisten. Bei manchen Jugendlichen kommt die Hilfe schlicht zu spät.
Immer wieder wurde eine bessere Kooperation zwischen den Einrichtungen verschiedener Systeme gefordert. Als zusätzliche Schwierigkeit erweisen sich unterschiedliche Interpretationen von Gesetzen und Begriffen. Die Jugendhilfe, so Dr. Michael Kölch, Oberarzt aus dem Universitätsklinikum Ulm, müsse Verlässlichkeit bieten und kooperativ sein. Aber die Jugendhilfe hat keine ausreichenden Ressourcen, und Kooperation, darauf verwies seine Kollegin Ute Ziegenhain, kostet Zeit. Das Geld reicht also in beiden Systemen nicht aus.
Geschlossene Einrichtungen
Geschlossene Einrichtungen wurden seit den 70er Jahren in Folge der Heimkampagne abgeschafft. Nun denken viele Kommunen – und auch ÄrztInnen - wieder über solche Institutionen nach, weil manche Jugendliche die offenen Angebote der Jugendhilfe nicht mehr annehmen und auch durch die Kinder- und Jugendpsychiatrie kein sozial akzeptables Verhalten erreichbar ist. Vertreterinnen aus mehreren Bundesländern wiesen darauf hin, dass derartige Planungen auf die unzureichende Ausstattung der Jugendhilfe hindeuteten. Zu einer solchen Ausstattung gehöre zum Einen die fachliche Qualifikation einer unverbrüchlichen Neugier auf das, was die Jugendlichen zu sagen hätten. Es gehöre aber auch das Wissen um die verschiedenen Hilfemöglichkeiten und die Existenz gut arbeitender Jugendhilfeeinrichtungen dazu.
Als Scharnier zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie dient z.B. in Hamburg der Jugendpsychologische/-psychiatrische Dienst, der Kinder und Jugendliche vor einer Jugendhilfemaßnahme oder im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung berät. So werden passende Hilfen gefunden und „hoffnungslose“ Fälle vermieden, so jedenfalls die Leitende Psychologin dieser Einrichtung, Gunhild Grimm.
Inklusion
Ein Teil der Tagung war der Frage gewidmet, wie der Anspruch auf Inklusion umgesetzt werden soll. Jörg Fegert vertrat die Meinung, der § 35a des SGB VIII (Behindertenhilfe) solle abgeschafft und die Leistungen in § 27 (Hilfen zur Erziehung integriert werden. Dies wurde bestätigt von Bernhard Scholten, Leiter der Abteilung Familie und Generationen aus dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen Rheinland-Pfalz, der die Planungen seitens der Politik im Hinblick auf die Zusammenlegung zwischen Behindertenhilfe und Hilfe bei seelischen Störungen in der Jugendhilfe konkretisierte.
Verbesserungsvorschläge
Thomas Harkenthal, sah in einer Ergänzung beider Systeme durch das jeweils andere und in einer Finanzierung von Teilleistungen der Jugendhilfe durch die Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Lösung. Eine Mischfinanzierung sei anzustreben, so auch die Leiterin des Jugendamts Karlsruhe, Dr. Susanne Heynen. Fallverläufe müssten analysiert werden. Die Jugendhilfe wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie lernen heute aus ihren Fehlern – eine wissenschaftlich begründete, durch Evaluationen erwiesene „richtige“ Indikatonsstellung und die „richtige“ Hilfe gibt es nicht. So brauchen die Jugendhilfe und der Kinder-und Jugendpsychiatrie zur effektiveren Hilfe für die Kinder und Jugendlichen, aber auch für eine bessere Kooperation, nicht nur eine bessere personelle und räumliche Ausstattung. Unbedingt erforderlich ist eine Förderung der Erforschung der Effektivität ihrer Maßnahmen. Daneben ist die Politik aufgerufen, die Entscheidung für das neue Kinderschutzgesetz nochmals zu überdenken. Die „kleine Lösung“, nämlich die Integration der Behindertenhilfe in die Jugendhilfe wäre aber immerhin ein Anfang.
Fazit
Die Tagung stürzte wohl den einen oder die andere Teilnehmer/-in in tiefes Nachdenken über die Prioritäten, die in dieser Gesellschaft gesetzt werden. Wenn alle Kinder von Anfang an genug Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Eltern oder – wenn diese nicht dazu in der Lage sind – von anderen Bezugspersonen erhielten, könnten unendlich viele Kosten in der Jugendhilfe und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eingespart werden. Abgesehen vom Leid der Kinder, von der späteren Karriere als problematisch angesehene Jugendliche, und von der darauf folgenden niederschmetternden Lebensbilanz von Erwachsenen, die nie wirklich eine Chance hatten, könnte vielleicht doch das Kostenargument zu einer veränderten Problemwahrnehmung und –lösung in Richtung Prävention führen.
Weitere Informationen von dieser Tagung erhalten Sie über die Website des Deutschen Intituts für Urbanistik unter http://www.fachtagungen-jugendhilfe.de/veranstaltungen/tagungsbericht.phtml?termine_id=2788
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