zwei U3 Kinder

Reflexionen zur Offenen Arbeit

Gerlinde Lill

31.03.2010 Kommentare (5)

Gerlinde Lill hat in ihrem Artikel einige unkonventionelle Überlegungen zur Offenen Arbeit angestellt. Wir veröffentlichen den Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von Betrifft Kinder, Heft 1-2/2010.

Neue Muster in der Offenen Arbeit: Regelwerke

„Wir wollen hier nicht rennen. Wir wollen uns nicht hauen. Wir wollen uns nicht schubsen. Man darf nichts von der Hochebene werfen. Nicht mehr als vier Kinder sind zugleich auf dem Podest. Wir wollen nicht von der Fensterbank springen. Kippeln verboten. In der Garderobe wird nicht gespielt. Wir gehen fair miteinander um."

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer umfänglichen Sammlung von Aussagen, die ich diversen Regelwerken entnommen habe. Alle aufgepickt in Kitas, deren Teams sich die Offene Arbeit auf die Fahnen geschrieben haben.
Es gibt die Regeln in gebundener Form, als eine Art Hausordnung im Eingangbereich und als Plakate, von Kindern illustriert oder mit Fotos bebildert. „Wir wollen uns nicht beißen" hat beim Fotoshooting sichtlich besonders viel Vergnügen bereitet.
Meist hängen die Benutzerregeln in den jeweiligen Aktionsräumen gleich am Eingang: als Bauraumregeln, Atelierregeln oder Restaurantregeln, mal in Form handgeschriebener Zettel, mal gedruckt und unter Glas. Für das Außengelände werden schon mal zwei DIN-A4-Seiten ausgehändigt.
Andere Regeln gewinnen in Ampelform Gestalt: Grün für „erlaubt", Gelb für „fragen" und Rot für „verboten". Wem es gelingt, eine echte Ampel aufzutreiben, verbindet das gleich mit Verkehrserziehung.
Ampelpunkte kleben an Schubladen und Regalen, an Schränken und Werkzeugen, was zuweilen tatsächlich hilfreich ist, aber auch mit einem simplen Fragezeichen für „fragen" gelöst werden könnte, denn die gelbe Ampel gebietet ja in Wirklichkeit: Warten.

Der Regel-Dschungel und die guten Absichten

Die offene Kita - ein Dschungel von Regeln, Geboten und Verboten wie die Großstadt.
Vielleicht sollten wir Verkehrsschilder entwerfen? Das könnte ein Beitrag zur Förderung von Kreativität und Schreiblust sein: Welche Zeichen versinnbildlichen welche Vorschrift? Interessant wären Geschwindigkeitsbegrenzungen und Blitzer in Fluren, Bußgeldbescheide und Punkte in Flens..., äh, Knirpsenburg.
Aber mal im Ernst: Brauchen wir das alles? Wer braucht das wofür? Und vor allem: Werden die Regeln eingehalten? Regelt sich das Zusammenleben dadurch besser, sozialer, verträglicher, konfliktfreier, stressfreier?
Das wissen wir natürlich nicht, solange es kaum Erfahrungen damit gibt, was passiert, wenn nur wenige und zentrale „Generalregeln" bestehen.

Allen Regelwerken ist gemeinsam, dass sie in guter Absicht aufgestellt wurden. Davon gehe ich aus. Trotzdem mögen Zweifel erlaubt sein.
Allen Regelwerken ist gemeinsam, dass sie den Kindern ein Verhalten vorschreiben und dessen Einhaltung anmahnen. Was häufig nötig ist.
Sobald ich kritisch nachfrage, reagieren die Erwachsenen überall gleich: „Die Regeln haben wir mit den Kindern gemeinsam entwickelt." Das scheint wichtig zu sein. Es gilt als Beweis für demokratische Gesinnung und Beteiligungsrechte der Kinder - in Zeiten von Partnerschaft und Partizipation und vor allem unter Vertreterinnen offener Arbeitsweisen ein Kernpunkt der inneren Überzeugung.
Ich möchte die Praxis der Verregelung von Kinderleben gerade deshalb kritisch auf ihren Sinn und ihre Wirkung befragen und das Nachdenken über weitere Entwicklungsschritte in der Gestaltung des Zusammenlebens anregen.
Im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern hat sich viel bewegt. Erzieherinnen, die Öffnungsprozesse wagen, wollen ihre Rolle überdenken und nicht mehr die einzigen Bestimmer sein. Sie wollen Kinder beteiligen und deren Interessen gerecht werden. Gerade bei diesen Kolleginnen ist, so hoffe ich, Offenheit vorhanden, die gewachsene Praxis erneut auf den Prüfstand zu stellen. Also los!

Regeln oder Schutzschilder?

Es scheint ein Naturgesetz zu sein: Wann immer Erwachsene Kindern Freiheiten zugestehen, geht dies mit der Aufstellung von Regeln einher. Es entsteht der Eindruck: Je offener das Leben, umso geregelter muss alles ablaufen. Der Verzicht auf enge Strukturen und Vorgaben bringt das Bedürfnis hervor, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. „Was ist, wenn...?" lautet die bange Frage, wenn Öffnung beginnt.
Was dann ist, kann niemand wissen, bevor er sich nicht auf den Weg gemacht und geguckt hat. Also haben wir es mit Spekulation zu tun. Das Ende vom Lied: Vorbeugende und später tatsächlich als notwendig erachtete Regeln summieren sich. Daher die lange Liste.
„Offenheit braucht Struktur. Natürlich brauchen die Kinder Regeln", verkünden überzeugte Vertreterinnen der Offenen Arbeit. Aussagen, die in ihrer Allgemeinheit keinen Widerspruch auslösen und im Übrigen hervorragend als Schutzschilder gegen all jene taugen, die Offener Arbeit Chaos oder Anarchie unterstellen. Interessant wird es jedoch erst, wenn genauer definiert wird, welche Strukturen und welche Regeln gemeint sind, wie sie entstehen und sich verändern.
Schauen wir noch einmal auf die Aussagen am Anfang. Was fällt auf?

Das große WIR

Gern und häufig ist von WIR die Rede: „Wir wollen..." So steht es auf den Regellisten und so drücken sich Erzieherinnen aus, wenn sie warnen oder ermahnen: „Wir wollen doch nicht auf die Fensterbank klettern! Wir hatten doch verabredet...."
Wer ist WIR? Wir Erwachsenen klettern ja eher selten auf Fensterbänke, höchstens zum Putzen. Weniger komisch ist der Verweis auf die Verabredung, der die Kinder daran erinnern soll, dass sie dieser Regel zugestimmt hatten und sich deshalb daran zu halten haben.
Eine solche Forderung ist sicher grundsätzlich richtig. Die Frage ist aber: Hatten die Kinder eine Chance, der Regel nicht zuzustimmen? Gab es eine Alternative? Oder anders gefragt: Kann man sich ein Kind vorstellen, das eine Regel für sich selbst aufstellt, die all das ausschließt, was ihm Spaß macht? Rennen, springen, kippeln, Bauklötzer runterschmeißen...
Im Übrigen: Würden Kinder tatsächlich dabei unterstützt, ihre Interessen zu artikulieren und dafür zu streiten, dass sie berücksichtigt werden, müsste sich das nicht zeigen? Zum Beispiel in unterschiedlichen Abstimmungsergebnissen in verschiedenen Häusern?

Das große NICHT

Viele Regeln benennen, was nicht gemacht werden soll - ein wirkungsloses Unterfangen.
Wer sich mit Wörtern und ihrer Wirkung im Ohr des Hörers befasst, kennt die Geschichte: Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten! Versuchen Sie es gerade? Sehen Sie? Sie denken an einen rosa Elefanten, obwohl Sie das nicht sollen (und nicht wollen). Denn die Wörter „rosa" und „Elefant" rufen sofort entsprechende Bilder in Ihrem Kopf ab. Das „nicht" jedoch verschwindet im Nirwana. Für „nicht" haben wir kein inneres Bild. Oder?
Ich versuche gerade, NICHT zu imaginieren. Eine interessante Aufgabe: Denken Sie ans große Nichts. Ebenso schwer, wie an nichts zu denken.
Daher empfiehlt es sich, auszudrücken, was gewünscht wird. Egal, ob für andere Menschen oder für einen selbst. Also: Denken Sie an ein blaues Kamel.

Na also, geht doch (1).

Regeln als Verbote

Das NICHT verweist auf den Charakter der aufgestellten Regel: Es handelt sich um ein Verbot.
Wenn wir die Erkenntnis der Wirkungslosigkeit von Negativformulierungen beherzigen,
können wir - spaßeshalber - mal alles, was unter NICHT fällt, in gewünschtes Verhalten umformulieren. So werden Gebote aus Verboten. Statt „Wir wollen nicht rennen" heißt es nun „Wir gehen langsam". Statt „Nicht zappeln!" steht da „Wir sitzen still". Statt „Nicht von der Fensterbank springen" wird verlangt: „Stopp vor der Fensterbank!" Oder : „Auf der Fensterbank sitzen erlaubt". Und im Bewegungsraum: „Hier wird nach Herzenslust gesprungen, geklettert und geschaukelt". Was ist die Alternative für „Wir hauen uns nicht"? Vielleicht „Wir streicheln uns"? Schön wär's...
Aber wenn Kinder von sich sagen würden, sie gehen langsam und sitzen still, sie wollen das sogar ausdrücklich - hätte das nicht einen merkwürdigen Beigeschmack?

Macht und Manipulation

Jetzt habe ich ein ganz fieses Problem der Erwachsenen am Wickel: die Gewohnheit, uns „in die Tasche zu lügen".
Wir sind ja so demokratisch! Wir proklamieren die Partnerschaft mit den Kindern und wollen nicht mehr die Bestimmer sein. Die Kinder sollen ihr Zusammenleben eigenverantwortlich regeln und gestalten. Gelingt das? Sind wir tatsächlich nicht mehr die Bestimmer, wenn zum Beispiel Strukturen der parlamentarischen Demokratie in die Kita übertragen werden?
In vielen Häusern gibt es Kinderforen oder Kinderkonferenzen. Sprecherrunden thematisieren die aktuellen Fragen des Zusammenlebens, Abstimmungsmodalitäten von Stimmzetteln bis zum Hammelsprung (2) machen die Entscheidungen transparent. Manchmal haben Erwachsene genau wie Kinder nur eine Stimme. Und zuweilen halten sie sich sogar ganz heraus.
Das ist ohne Zweifel ein enormer Fortschritt in Richtung Mitsprache und Mitbestimmung. Es ist auch ein Beweis für das Vertrauen, das in die Fähigkeiten und die Verantwortlichkeit von Kindern gesetzt wird. Daher der Stolz und die Sicherheit der Erzieherinnen: Bei uns herrscht Gleichberechtigung. Entsprechend entrüstet reagieren sie, wenn ich bezweifle, dass die Regeln und vor allem die Verbote mit den Kindern oder von den Kindern aufgestellt wurden. Formal mag das sogar stimmen. Aber hinter der formalen Demokratie verstecken sich Machtverhältnisse. Also sollten wir auch hier genauer hinschauen.
Wo ungleiche Kräfteverhältnisse herrschen, kann es keine Gleichheit geben, selbst wenn alle eine Stimme haben. Formale Gleichheit kaschiert tatsächliche Ungleichheit nur: Kinder sind und bleiben von uns Erwachsenen abhängig, in jeder Beziehung.
Selbst das Maß, in dem sie sich einbringen, mitgestalten und mitentscheiden können, hängt von uns Erwachsenen ab und kann jederzeit verändert werden. Wie viele und welche Freiräume wir Kindern zugestehen, ist von unserem guten Willen, unserer Einsicht abhängig. Wir bleiben die Bestimmer, selbst wenn wir behaupten (und tatsächlich glauben), es nicht zu sein. Kinder wissen das. Wissen wir es auch?
Kinder wissen und erleben täglich, was Erwachsene wünschen und von ihnen erwarten. Dieser Erwartung entsprechen sie - mehr oder weniger brav, bewusst und freudig. Ich nehme sogar an, dass sie es besonders freudig tun, wenn sich bereits eine vertrauensvolle Beziehung entwickelt hat. Es könnte sein, dass die Bereitschaft der Kinder, die Erwachsenen nicht enttäuschen zu wollen, in Häusern mit einer langen Tradition offener Prozesse sehr ausgeprägt ist. Wenn dazu gehört, dass sie die gewünschten Regeln selbst aufstellen, dann tun sie es.
So kommt ein Paradox zustande: Kinder schlagen Verhaltensregeln vor, stimmen ab und beschließen tatsächlich Gebote und Verbote, die sie nicht einzuhalten imstande sind, weil sie ihrer inneren Motivation zuwider laufen. Ein schlechtes Gewissen ist die Folge, wenn es nicht klappt. Oder gar ein Katalog von Strafmaßnahmen, selbst entworfen und verabschiedet - erfahrungsgemäß gern drastischer, als die Polizei erlaubt.
Da können wir Erwachsene zufrieden sein. Was wir wollen und für wichtig halten, ist Gesetz geworden. Nicht mal „von oben" angeordnet, sondern demokratisch legitimiert.
Ist das wirklich Mitbestimmung? Handelt es sich nicht vielmehr um Manipulation? (3)
Kinder bemerken Manipulationen und lassen uns zuweilen ins Leere laufen. Sie scheinen den inneren Freiraum zu spüren - Stimme ich wirklich zu oder nicht? - und wollen ihn verteidigen. Oft ist das mit Rückzug und Abkehr verbunden - ein schmerzhafter Prozess. Uns auszutricksen und lächerlich zu machen, das ist die aktive Variante. In welchem Alter beginnen Kinder mit solchen Distanzierungsprozessen eigentlich? Dass sie in der Pubertät gipfeln, das wissen wir.

Regeln und Sicherheit

Sicherheit ist eine der häufigsten Begründungen. Logisch, denn Bedrohliches darf den Kindern nicht geschehen. Dafür sollte grundsätzlich gesorgt werden, und das wird auch getan. Nicht umsonst müssen alle Spielgeräte oder Einbauten vom TÜV abgenommen werden.
Meine Vermutung ist aber, dass die Fülle von Regeln für uns Erwachsene nötig ist. Wir brauchen Sicherheit. Wir plagen uns mit Ängsten und Unsicherheiten, besonders am Anfang eines Öffnungsprozesses, wenn wir die Kinder loslassen, damit sie sich frei bewegen und ihr eigenes Spiel finden können. Hinzu kommen persönliche Ängste mancher Kolleginnen und die Ängste der Eltern, auf die häufig verwiesen wird.
Eltern wie Erzieherinnen scheinen allein durch die Existenz einer Fülle von Regeln ruhiger zu werden. Schließlich hat man sich abgesichert. Wenn doch ein Kind rennt, kann man immer sagen....
Das ist der dickste Stolperstein auf dem Weg zu veränderten Arbeitsweisen: Noch ist das Vertrauen in die Kinder, aber auch das Vertrauen in die Kolleginnen nicht so sicher, dass Gelassenheit einziehen kann.
Doch wenn nach Jahren gemeinsamer guter Erfahrungen Gelassenheit gewachsen ist - was man an der Atmosphäre eines Hauses sofort merkt - ist der Boden bereitet, um Regelwerke zu überprüfen und abzuspecken.

Abspecken im NOA

An diesem Punkt sind wir im Netzwerk Offene Arbeit Berlin gerade angelangt.
Gradmesser für Offenheit ist nach unserer Überzeugung nicht die äußere Struktur - Wie viele Räume sind für spezielle Tätigkeiten ausgerüstet, und wer plant mit wem? -, sondern die innere Einstellung: Wie offen sind wir für die Perspektive der Kinder und für kritische Blicke hinter unsere Kulissen? Setzen wir uns wirklich mit unseren Beweggründen auseinander? Wie kann es uns gelingen, einander wahrzunehmen und voranzubringen, ohne gegenseitige Verletzungen? Ein heikles Thema.
Zunächst wollen wir in den eigenen Häusern nachspüren: Wie steht es mit den Regelwerken?
Einige Fragen zur unserem Regelverständnis haben wir bereits formuliert:

  • Welche Regeln gelten überhaupt noch? Erfahrungsgemäß fallen einige Regeln sofort flach, wenn sie daraufhin überprüft werden.
  • Welche Regeln werden eingehalten?
  • Welche Regeln werden oft durchbrochen? Ständige Verstöße sind ein untrügliches Zeichen dafür, das die Regeln nicht verinnerlicht wurden, also für die Kinder nicht sinnvoll sind.
  • Welche Regeln sind Verbote?
  • Welche Regeln sind Gebote?
  • Was ist überhaupt eine Regel?
  • Was unterscheidet vereinbarte Regeln vom alltäglichen Umgang miteinander, in dem sich Vieles wie von selbst regelt? Was passiert, wenn wir probeweise eine Woche alle festen Regeln außer Kraft setzen? Vielleicht stehen uns verblüffende Erfahrungen bevor?
  • Welche ordnungspolitischen Vorstellungen liegen unserem Regelverständnis zugrunde? Wie haben wir diese Vorstellungen im Laufe unseres Lebens erworben? Hat sich in den letzten Jahren daran etwas verändert? Was?
  • Welche Bildungs- und Erziehungsziele verfolgen wir mit Regeln im Allgemeinen und im Besonderen? Was lernen die Kinder bei der Einhaltung bestimmter Regeln? An welchen Erfahrungsprozessen werden sie dadurch gehindert?
  • Wie verlaufen die Entscheidungsprozesse? Sind wir die Bestimmer? Wollen wir das nicht mehr sein? Oder soll's nur keiner merken?
  • Wie sehen wir unsere Rolle?

Das ist wohl die entscheidende Frage, die alle Detailfragen durchzieht.
In dem Maße, in dem wir das Kind als Akteur seiner Entwicklung sehen und ihm die Hauptrolle in seinem Lebens-Film zugestehen, müssen wir uns umorientieren und die eigene Rolle neu finden und definieren.
Bleibt die Erzieherin auch dann eine Art Regisseurin, wenn Kindern „Lernen in eigener Regie" ermöglicht wird? (4)
Oder welche andere Rolle übernehmen wir? Kulissenschieber? Intendantin? Souffleuse? Spielen wir mit? Sind wir Zuschauer? Welche Rolle spielen wir bewusst und unbewusst?

Bestimmen und verantworten

Ehe ich in die antiautoritäre Ecke gestellt werde: Ich plädiere nicht dafür, alles zu erlauben. Ich plädiere für Klarheit und Ehrlichkeit.
Stehen Sie dazu, die Bestimmerin zu sein. Sie setzen den Rahmen des Zusammenlebens in einer Kita. Das steht nicht nur in Ihrer Macht, sondern Sie tragen die Verantwortung. Sagen Sie, was geht und was nicht geht. Klar, deutlich und mit Begründung. Übernehmen Sie für die von Ihnen getroffenen Entscheidungen die Verantwortung gegenüber den Kindern.
Sagen Sie ebenso deutlich, welche Freiräume für Selbstbestimmung Sie den Kindern zugestehen. Definieren Sie die Spielräume für gemeinsame Entscheidungen.
Diskutieren Sie mit den älteren Kindern darüber, was Bestimmen mit Verantworten und was Verantworten mit Bestimmen zu tun hat. Wenn Sie an Ihr eigenes Leben denken, können Sie bestimmt erklären, dass all das mit wachsenden Kompetenzen einhergeht und mit individuellen Unterschieden zu tun hat.
Mit Sicherheit werden Sie nicht allen Kindern - unabhängig von ihren Voraussetzungen und besonderen Eigenschaften - gleichermaßen zugestehen, allein in den Garten oder zum Bäcker zu gehen. Solche Entscheidungen können also nur begrenzt allgemeingültig geregelt werden.
Kindern leuchtet nach meiner Erfahrung auf Anhieb ein, dass Freiräume und Unabhängigkeit an Vertrauen und Verlässlichkeit gekoppelt sind: Ich kenne dich und vertraue dir, ich trau dir das zu und bin gespannt, wie du es meisterst. Aber ich muss mich auf dich verlassen können.

Ein Blick zurück

Wie war das in meiner Kindheit mit Freiheiten und Grenzen? Ich war oft ohne Erwachsene unterwegs, habe gespielt und gekämpft - wie, wann und mit wem ich wollte. Die Erwachsenen haben sich da rausgehalten. Vorgegeben waren Zeiten und Orte: Wenn die Lichter angehen, bist du wieder zu Hause. Du spielst nicht in den Ruinen!
Auch damals hatte das NICHT keine Kraft. Gerade in den Ruinen war das Spiel besonders spannend. Ich durfte mich bloß nicht erwischen lassen...
Klar war: Das ist der Rahmen. Alles, was du innerhalb dieses Rahmens anstellst, musst du verantworten. Wenn du den Rahmen sprengst, musst du die Konsequenzen tragen.
Es herrschten klare Verhältnisse.
Vorgaben Erwachsener fallen heute anders aus als damals. Aber Regeln werden nach wie vor aufgestellt, restriktiv oder „demokratisch". Ihre Einhaltung wird angemahnt. Und dann? „Wir hatten doch verabredet..." Wirkungslos.

Zukunftsvisionen für Offene Arbeit

Es geht mir nicht um eine „Kinderrepublik" oder ungebremste Freiheit, sondern um die Entwicklung einer Kultur der Verantwortung, in der die Rechte von Kindern klar definiert und gesichert sind. In der die Kinder diese Rechte kennen, schätzen und nutzen.
Vielleicht ist es eine zukunftsweisende Aufgabe, einen gemeinsamen Lernprozess von Kindern und Erwachsenen ins Zentrum zu stellen, der eine solche Kultur zum Ziel hat.
Ich stelle mir klare Verhältnisse vor, die Kindern einen eindeutigen Rahmen bieten und ihnen innerhalb dieses Rahmens Entscheidungsspielraum und das Recht auf Selbstbestimmung zugestehen. In diesem Sinne bedeutet ein nach außen wie nach innen klar formuliertes Regelwerk auch für Erwachsene ein Sicherheits- und Begrenzungsnetz. Das ist besonders wichtig bei hoher Personalfluktuation, die mittlerweile zum Dauerzustand geworden ist. Ich bin überzeugt, dass es für alle Seiten viel leichter wird, wenn kein Zweifel darüber besteht, wer welche Rechte hat und wo deren Grenzen liegen.
Meine Zukunftsvision: Es gibt wenige Grundregeln für das Zusammenleben - keine Verbote, nur Gebote. Besonders für das Verhalten von Erwachsenen gegenüber Kindern. Am liebsten würde ich die Regelwut unter Strafe stellen und nur solche Regeln zulassen, deren Sinn für das kindliche Erleben dermaßen einleuchtet, dass sie gar keine Regeln mehr sind.

Anmerkungen

(1) Literaturtipp: Damm, A.: Nichts und wieder nichts. Anlässe um miteinander über NICHTS nachzudenken. Moritz Verlag. Frankfurt am Main 2009
(2) Bei Ja-Nein-Fragen gibt es eine Ja- und eine Nein-Tür.
(3) Dieses Wort legt auch eine Spur, was das Verhältnis zwischen Mitarbeiterinnen und Vorgesetzten betrifft.
(4) Siehe Titel der Freinettagung 2008

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Kommentare (5)

Lisa Jares 28 Oktober 2017, 17:07

Guten Tag Frau Feierer-Tuscher,

es freut uns, dass Ihnen die Beiträge von Frau Lill weiterhelfen in Ihrem Studium. Leider haben wir Ihnen keine offiziellen Kontaktendaten von Frau Gerlinde Lill weitergeben. Ggf. können Sie über den Buchverlag oder das Internet in Kontakt mit Frau Lill treten.

Mit freundlichen Grüßen und viel Erfolg





Uta Funke 26 September 2013, 08:49

Vielen Dank für diesen Artikel. Er bestätigt mein Empfinden und ist prima geeignet als Diskussionsgrundlage. Ich werde ihn auf jeden Fall nutzen.
U. Funke

Cornelia Appel 18 Januar 2012, 18:17

Ich finde diesen Artickel einfach super, erinnert er mich doch sehr an meine Kinderzeit, was verboten war, war gerade interessant, ich musste, wenn die Kirchturmuhr schlug, pünktlich zu Hause sein. Habe heute das Buch von Gerlinde Lill bestellt. Wir arbeiten seit Januar mit einer weiteren Einrichtung in einem neuen Haus zusammen und hatten noch keine Zeit, solche fürchterlichen Regeln aufzustellen, zumal Kigakinder sowieso nicht lesen können. Werde mich gegen solchen Quatsch wehren. Wenn man als Erzieher umsichtig ist und Kindern erklärt, was passiert, wenn sie aus dem Fenster fallen, ihnen die Höhe bewußt macht, denke ich, klettern sie auch nicht wieder hoch.

Regina Fritz 21 April 2010, 22:43

Vielen Dank, total klasse! Mir aus dem Herzen und großartig ausgedrückt.

R. Fritz

inMR 06 April 2010, 12:51

Trackback von http://www.inklusive-menschenrechte.de/typ/mensch/blog/?p=2670: “Wir wollen hier nicht rennen…” - Artikel zu ‘Regeln’ und Macht im Kita- und Schulalltag

ErzieherIn.de>> veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Redaktion einen schönen Artikel von Gerlinde Lill aus Betrifft Kinder, Heft 0-2/2000 zum scheinbaren Paradox, dass der Anspruch von mehr Beteiligung für Kinder in Kitas (und Schulen) oft mit mehr “Regeln” einher geht...

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