
Rhythmik in Pädagogik und Therapie
Das folgende Interview mit Sabine Hirler haben wir dem E-Book "Wie Sie mit Spielen die Entwicklung Ihrer Kinder fördern können" entnommen. Es wendet sich primär an Eltern, aber die folgenden Aussagen sind auch für frühpädagogische Fachkräfte relevant.
Sie sind Expertin, wenn es um musikalische Förderung von Kindern geht. Inwiefern lässt sich so die Entwicklung der Kinder fördern?
Sabine Hirler: Musik ist uns sozusagen in die Wiege gelegt. Das Gehirn verarbeitet im ersten Lebensjahr zum Beispiel sprachliche Eindrücke der Eltern über Musikzentren im Gehirn. Laut-leise, hoch-tief, schnell-langsam wird vom Baby und Kleinkind in besonders intensiver Weise wahrgenommen und im Gehirn gespeichert. Aus diesem Grund bieten Krabbelreime, Kniereiter, Spiellieder den Allerkleinsten eine ausgesprochen kindgerechte Möglichkeit die Sprache, die Bewegungskoordination, das Körpergefühl, die emotionale Bindung zu fördern. Ältere Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter lernen durch Lieder sich eine gewisse Textmenge zu merken, sie wiederzugeben und sie mit Bewegungshandlungen zu verknüpfen. Aus diesem Grund sind Reimendungen beliebt und wichtig, da sich Texte mit Reimendungen besonders gut merken lassen.
Können Sie ein paar konkrete Beispiele von Ihrer alltäglichen Arbeit mit Kindern nennen?
Sabine Hirler: Ich biete unter anderem
Gruppenunterricht für Kinder ab 2 Jahren, Kindergartenkinder und ältere Kinder
an. Je älter die Kinder sind, desto mehr steht die Kreativitäts- und
Persönlichkeitsentwicklung im Mittelpunkt, da schon ab einem Alter von 4 -5
Jahren die Kinder eigene Ideen entwickeln, sie artikulieren und mit anderen
gemeinsam umsetzen können.
Welche Übungen lassen sich auch zu Hause vonseiten der Eltern vertiefen?
Sabine Hirler: Der Begriff „Übungen“ ist kein aktueller Fachbegriff aus der Pädagogik. Eine „Übung“ impliziert den genauen Ablauf, und wehe es klappt nicht so, dann ist das Kind nicht o.k. Musik wird dann automatisch vom Kind negativ besetzt. (Vielleicht erinnern sich Erwachsene hier an entsprechende Situationen in der Schulzeit.) Ich möchte in diesem Falle in der Alterstufe bis zum Schuleintritt vom gemeinsamen Spielen sprechen, denn Kinder lernen besonders effektiv während spielerisch erfahrener Prozesse. Das Spiel ist freudvoll und oft ergebnisoffen. Die Eltern müssen dazu nicht besonders gut singen können. Für Kinder ist es schon prinzipiell eine reine Freude, wenn sie Menschen in ihrem sozialen Umfeld haben, die ihr körpereigenes Instrument - die Singstimme - einsetzen. Das hat meistens etwas mit guter Laune zu tun. Ich empfehle Eltern mit ihren Kindern zu singen. Ob es beim Fahrradfahren ist, in der Badewanne, ob es improvisierte Lieder, abgewandelte Lieder oder vorgegebene Lieder sind. Singen entkrampft auch Situationen, das merken wir bei Babys und Kleinkinder. Wird während einer Heulattacke ein Lied gesungen, lassen sich die Kleinen in der Regel gut beruhigen. Der Instrumentalunterricht sollte die Kinder dazu anleiten, einerseits auf spielerische Weise das Musikinstrument zu erfahren, aber andererseits kann sich nur durch das Spielen zu Hause ein Spielerfolg entwickeln. Diese Kausalität sollte vom Kind akzeptiert werden, da sonst der Instrumentalunterricht von vorne herein zum Scheitern verurteilt ist. Aus diesem Grund kann bei Kindern ab dem 6. Lebensjahr vom spielerischen Üben gesprochen werden.
Wie früh kann mit musikalischer Pädagogik begonnen werden?
Sabine Hirler: Mittlerweile gibt es in allen kleineren Städten und in allen Großstädten frühmusikalische Angebote für Babys und Kleinkinder. Kleine Kinder entwickeln durch die Lieder schon früh eine ausgeprägte handlungsorientierte Merkfähigkeit, die positive Entwicklungsimpulse bei ihrer weiteren kognitiven Entwicklung geben.
Gibt es bei Ihrer Arbeit unterschiedliche Ansätze zwischen gesunden und körperlich oder geistig beeinträchtigen Kindern?
Sabine Hirler: Kinder mit körperlichen und
geistigen Beeinträchtigungen benötigen auf sie zugeschnittene Angebote. Eine
gewisse Langsamkeit in der Ausführung, Liedvarianten, die die taktil
kinästhetische Wahrnehmung aktivieren, stehen hier im Mittelpunkt.
Mit welchen Fragen kommen Eltern am häufigsten auf Sie zu?
Sabine Hirler: Lohnt sich musikalische Früherziehung überhaupt? Es lernt doch noch kein richtiges Instrument!? Hier kann ich nur sagen, dass die freudvolle und spielerische Beschäftigung mit Musik und Bewegung besonders günstige Voraussetzung für alle späteren Lernprozesse legt. Zum Beispiel die Konzentrationsfähigkeit, die Koordination von Fern- und Nahsinnen, soziale und emotionale Prozesse erleben und in ihnen handeln, Sprachförderung durch Lieder und dem Erleben von Rhythmen.
Zum Schluss: Haben Sie noch einen allgemeinen Rat für unsere Leser?
Sabine Hirler: Unsere Kinder werden in Zukunft viele Probleme in unserer sich rasant verändernden Gesellschaft anpacken müssen. Dazu brauchen sie ein gutes Rüstzeug. Bildung heißt nicht das Wiedergeben von Auswendiggelerntem, sondern emotional Erlebtes und in Handlung Erfahrenes bildet für das jüngere Kind den Humus für eine gute Bildung und eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Musikalische Erfahrungen bieten hier durch die sogenannten Transfereffekte ausgezeichnete Möglichkeiten Kindern das entsprechende Rüstzeug in allen Altersstufen zu vermitteln und sich dies altersgemäß anzueignen.
Beispiele: Das Abwarten können - wann bin ich an der Reihe um mit meinem Instrument zu spielen. Oder vor anderen auf einem Musikinstrument spielen oder zu singen. Sich komplexe Abläufe zu merken oder durch den gleichzeitigen Einsatz vieler Sinneskanäle das Zusammenspiel der Sinne „trainieren“. Musik an sich besitzt einen in sich liegenden „Mehrwert“. Jeder Mensch reagiert auf Töne, Klänge ob er will oder nicht, da das vegetative Nervensystem besonders darauf anspricht (z.B. unbewusstes Mitwackeln im Takt der Musik, Unwohlsein bei Musik, die nicht zur aktuellen Stimmung passt). Musik spricht unsere Seele an, sie kann uns zur Ruhe bringen oder animiert zum Tanzen. Diese Erfahrungen sollten jedem Kind als Bildungserfahrung ermöglicht werden.